Wenn zwei Welten auf­ein­an­der­pral­len, führt das zu Irritationen. Aber was pas­siert, wenn die eige­ne, all­täg­li­che Realität plötz­lich auf ein ver­meint­lich weit ent­fern­tes Phänomen trifft – wenn Terrorismus plötz­lich vor der eige­nen Haustür Einzug erhält? Norman, 26, Master-Student im Fach Geschichte, berich­tet über per­sön­li­che und kol­lek­ti­ve Verarbeitungsmechanismen, die er nach dem Anschlag in Halle sowie – als gebür­ti­ger Erfurter – nach einem dor­ti­gen Amoklauf im Jahr 2002 beob­ach­tet hat.

Kerzen vor der Synagoge in der Humboldtstraße
Foto: Jonas Kyora 

Als er am 9. Oktober zufäl­lig aus dem Fenster sei­ner Wohnung nahe der Ludwig-Wucherer-Straße schaut, steht vor der Tür ein gro­ßer blau­er Polizeiradpanzer. „Dieses schwe­re Gerät gibt natür­lich ein mar­tia­li­sches Bild ab,“ erklärt er zu Beginn des Interviews.

Wie hast du dich gefühlt, als du die Ereignisse rea­li­siert hast?

Erst mal ist es ein ganz tau­bes Gefühl, mit der Hoffnung, dass sich das alles als schlech­ter Scherz oder Falschmeldung her­aus­stellt. Dann schaut man in den öffent­li­chen Rundfunk, und es voll­zieht sich das, was man eigent­lich lei­der schon oft genug gese­hen hat: Es gibt Liveberichterstattung, ande­re Sendungen fal­len aus, Leute bezie­hen Position. Das sehr Bemerkenswerte dar­an ist aber, dass man jetzt ganz anders reagiert, weil die Bühne, auf der das Ganze statt­fin­det, die Kulisse des eige­nen Wohnviertels ist. Und dann pas­sie­ren Dinge, die man erst mal für sehr unwirk­lich hält: Dass also im Europa­parlament noch wäh­rend­des­sen eine Schweigeminute gehal­ten wird, dass die UN dazu ein Statement abgibt und so wei­ter. Dann merkt man doch: Das ist sehr ernst, das ist sehr groß, und dann setzt ein Taubheitsgefühl ein. Angst wäre ein fal­scher Begriff dafür.

Was ist dir durch den Kopf gegangen?

Du hast ja immer eine eige­ne Realität und eine glo­ba­le Realität. In der glo­ba­len Realität kom­men die­se gan­zen Ereignisse vor: Rechtsterrorismus, Anschläge, Amokläufe, Unfälle, Gewalt, Kriminalität – ohne alle wer­tend auf eine Stufe zu stel­len, aber das sind lei­der rea­le Ereignisse in der glo­ba­len Welt. In dei­ner eige­nen Realität, zwar mit dem eige­nen Bewusstsein auch über die­se Themen, gibt es aber so etwas wie eine unsicht­ba­re Schwelle. Die Dinge exis­tie­ren, aber in dei­nem nahen Umfeld – zumin­dest hier in Halle – ist das sehr weit weg und spielt nicht die­se dra­ma­ti­sche, gro­ße Rolle in dei­ner Filterblase. Man denkt sich: Hier ist Halle, hier ist es ruhig, hier ist es klein, hier ist es beschau­lich, das mag woan­ders pas­sie­ren. Genau das ist die Schizophrenie.

Wie lan­ge hat das Taubheitsgefühl, das du ange­spro­chen hast, angehalten?

Das wird nicht klar von einer ande­ren Emotion abge­löst, das geht eher flie­ßend in ande­re über. Also sicher­lich gab es am Abend den Punkt, an dem das Ganze so lan­ge lief und klar war, man kann sich davor auch nicht mehr ver­wei­gern: Hier ist etwas Schlimmes pas­siert. Was dann abge­löst wird von gro­ßer Bestürzung, einer Mischung aus Mitgefühl und Trauer.
Der nächs­te Tag war sicher­lich für alle, die sehr nah an dem Geschehen dran leben und arbei­ten, genau­so von die­sen Emotionen geprägt. Vor allen Dingen, weil dann erst das Bearbeiten statt­fin­det. Das heißt, man ist am nächs­ten Tag eigent­lich immer noch damit beschäf­tigt zu rea­li­sie­ren, was wirk­lich pas­siert ist. Fassungslosigkeit, das Nicht­einordnenkönnen in den eige­nen Katalog an Erfahrungen, Erlebtem und Gefühltem beschreibt die Gefühle am bes­ten. Und als sich immer mehr Details offen­bar­ten, also als klar war, dass jemand ver­sucht hat, noch mehr Leben aus­zu­lö­schen, dass er Leben aus­ge­löscht hat, dass er sich dafür per­fi­de Waffen sel­ber gebaut hat, ein Video gedreht hat, ein Manifest geschrie­ben hat, dann war eigent­lich immer mehr klar, in wel­che Richtung das geht. Also dass es ein rech­ter Terroranschlag ist. Und dann kommt man zu einer Mischung aus Unverständnis und sehr, sehr tie­fem Mitgefühl für Opfer und Angehörige.

Norman: „Dieses Ereignis steht in einer Tradition.” Foto: Anja Thomas

Wie hast du ver­sucht, das Geschehene zu verarbeiten?

Durch kei­ner­lei bewuss­te Handlung. Der Tag danach war davon geprägt, dass man eigent­lich nur her­um­ge­ses­sen und dar­über nach­ge­dacht und wei­ter­ver­folgt hat, was pas­siert. Ich woh­ne sehr zen­tral. Man kann vom Schreibtisch aus in alle mög­li­chen Richtungen gucken. Und wenn man da so sitzt und nach­denkt, fährt eine Wagenkolonne vor­bei mit dem Bundespräsidenten, und der Bundesinnenminister kommt, sodass man sich auch unwei­ger­lich immer wie­der damit befasst und über bestimm­te Dinge nach­denkt und in einer gewis­sen Unruhe ver­harrt.
Das führ­te dann dazu, dass ich mich bewusst ent­schie­den habe, am Donnerstagabend zu der Mahnwache zu gehen. Diese Veranstaltung hat eigent­lich erst dazu geführt, dass das Bedürfnis erfüllt war, dem Ereignis ein Ende zu set­zen. Mein per­sön­li­ches Problem an dem Mittwochabend und an dem Donnerstag war, dass zwar irgend­wann eine Polizeimeldung kam von wegen die Gefahr sei jetzt gebannt, man aber immer noch auf glü­hen­den Kohlen sitzt und kei­nen Abschluss fin­det. Und die öffent­li­che Veranstaltung, wo sich vie­le Menschen raus­trau­en und sich ver­sam­meln und alle wie betäubt daste­hen, hat zumin­dest dazu geführt, dass für mich ein offi­zi­el­ler Endpunkt mar­kiert wird.

Hast du dich auch für das Konzert zum Gedenken am Samstag danach auf dem Marktplatz interessiert?

Ich hat­te nicht vor, es zu gucken. Ich bin dann doch am Livestream hän­gen­ge­blie­ben und habe es mir ange­schaut, bis ich zum Theater auf­ge­bro­chen bin, für das ich an dem Abend Karten hat­te. Nach dem Theaterstück hat Matthias Brenner noch ein paar Worte – sehr deut­li­che Worte – an das Auditorium gerich­tet. Was sehr auf­fäl­lig ist: Bei dem Anschlag geht es ja nicht um ein zufäl­li­ges, belie­bi­ges Ereignis; es ist kein Unfall. Sondern es geht hier um eine ganz kla­re Tat, die geplant wur­de, die orga­ni­siert wur­de, wohin­ter ein bestimm­tes abscheu­li­ches Menschenbild steht. Viele Worte dazu von Würdenträgern aus Stadt und Land klin­gen aber so, als han­de­le es sich um einen bedau­er­li­chen Unfall. Diese spre­chen mei­ner Meinung nach nicht klar genug an, was Ursachen sind und wor­auf eine Gesellschaft ach­ten muss. Und in dem Punkt schaf­fen die­se Vertreter dann kei­ne wehr­haf­te Demokratie.

Wünschst du dir mehr Leute, die sol­che Entwicklungen direkt ansprechen?

Ja klar, natür­lich. Dieses Ereignis in Halle steht in einer Tradition von Ereignissen – euro­pa­weit, welt­weit. Man denkt an Christchurch, an Anders Breivik, man kann aber auch an das NSU-Trio den­ken. In all die­sen Fällen – vor allem wenn man sich auf letz­te­res kon­zen­triert – bin ich rück­wir­kend nicht der Meinung, dass die staat­li­chen Organe und Institutionen aus­rei­chend für Aufklärung, Vermeidung oder Verarbeitung getan und die rich­ti­gen Konsequenzen gezo­gen haben. Das heißt aber nicht, dass man die Staatlichkeit in Frage stel­len soll­te. Nur ist es in dem Punkt gut, wenn es Leute gibt, die sich damit befas­sen und damit eine wich­ti­ge Rolle erfül­len. In die eige­ne klei­ne Realität gehört, dass man vie­le Dinge so nicht regis­triert. Natürlich ist Halle kei­ne Stadt, in der es kei­nen Rassismus, kei­nen Sexismus, kei­ne Ausgrenzung, kei­nen Antisemitismus gibt. Natürlich fin­det das lei­der – in einem wie auch immer gear­te­ten Rahmen – statt. Das über­sieht man manch­mal im Alltag.

Terroranschläge und Amokläufe sind unter­schied­li­che Gewaltverbrechen, jedoch haben bei­de das Potential, eine Gesellschaft zu erschüt­tern. Wie hast du die Verarbeitung nach dem Amoklauf 2002 in Erfurt wahrgenommen?

Ich war sehr jung und noch in der Grundschule. Mitbekommen an dem Tag haben wir das nur, weil die Schulen von der Polizei abge­sperrt wur­den und wir Schüler uns alle in der Aula ein­fin­den muss­ten. Im wei­te­ren Aufwachsen ist das dann immer wei­ter the­ma­ti­siert wor­den, man kam an neue Schulen, und dort waren dann auch Schüler, die zu die­sem Zeitpunkt am Gutenberg-Gymnasium gewe­sen sind, sodass die­ser Prozess, sich damit aus­ein­an­der­zu­set­zen, für mei­ne Generation erst spä­ter ange­fan­gen hat. Man kann dabei aber auch fest­stel­len, dass die Zeit nicht ver­gleich­bar ist – zehn Jahre nach dem Mauerfall waren sol­che Taten in mei­ner Heimat wohl noch gänz­lich unvor­stell­bar. Die Reaktionen in der Stadt waren aber wohl die­sel­ben: Unverständnis, Taubheit, Schock und die Frage nach dem Warum. Auch da folg­te dann das Auftreten von Politikern, und auf dem Domplatz haben sich zahl­rei­che Menschen ver­sam­melt, um gemein­sam zu ver­ar­bei­ten, was pas­siert ist.

Was die Verarbeitung des Terroraktes in Halle betrifft, gibt es für mich aus der Erfurter Perspektive einen bemer­kens­wer­ten Aspekt: Die dama­li­ge Erkenntnis, dass nach sol­chen Ereignissen immer sehr viel über die Täter gespro­chen wird, sodass jeder sie nament­lich kennt, aber nie die Opfer, hat dazu geführt, dass man dann rela­tiv schnell dazu über­ge­gan­gen ist, im öffent­li­chen Sprachgebrauch, zumin­dest eine Zeit lang, ledig­lich von „dem Täter“ zu spre­chen. Und ich fin­de es aus die­ser Perspektive inter­es­sant fest­zu­stel­len, dass ich mich nie bemüht habe, den Namen des Täters von Halle zu erfah­ren. Ich ken­ne sei­nen Namen nicht. Ich ken­ne die Namen der Opfer.

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