Am 15. April stand die welt­be­rühm­te Notre-Dame de Paris in Flammen. Was bleibt, ist die beschä­dig­te Bausubstanz einer über 850 Jahre alten Kathedrale, aber auch bis ins Mark erschüt­ter­te Franzosen, deren kol­lek­ti­ves Gedächtnis min­des­tens eben­so in Mitleidenschaft gezo­gen wur­de. Wir haben die wich­tigs­ten Entwicklungen zusam­men­ge­fasst sowie Stimm(ung)en inter­na­tio­na­ler Studierender aus Frankreich eingefangen.

Am Montag, den 15. April 2019 um 18.20 Uhr geht der ers­te Notruf in der Pariser Leitstelle ein. Der Gottesdienst mit meh­re­ren Hundert Gläubigen wur­de soeben been­det, sodass ein Großteil der Besucher bereits wie­der im Getümmel der Metropole ver­schwun­den ist. Zum Zeitpunkt der Entdeckung des Brandherdes in den Holzbalken des Daches befin­den sich glück­li­cher­wei­se auch kei­ne Bauarbeiter mehr in dem Gotteshaus. Diese sind näm­lich seit Beginn des Jahres tag­täg­lich mit umfang­rei­chen Restaurierungsarbeiten an dem alten Gebäude beschäftigt.

Innerhalb kür­zes­ter Zeit steht der gesam­te Dachstuhl der Notre-Dame in Flammen, und das Feuer droht sich wei­ter aus­zu­brei­ten. Damit gera­ten wert­vol­le reli­giö­se Reliquien, bei­spiel­wei­se die Dornenkrone Christi, sowie Kunstschätze, wie etwa Gemälde und Glasmalereien, in Gefahr. Feuerwehrleute kön­nen nicht ver­hin­dern, dass der aus cir­ca 1300 Eichenbalken bestehen­de Dachstuhl – auch le forêt (der Wald) genannt – in sich zusam­men­bricht und das höchs­te Bauelement, den Vierungsturm, mit sich reißt. Die welt­be­rühm­ten Türme der Westfassade über­ste­hen die Katastrophe jedoch nahe­zu unbe­schä­digt, und alle beweg­li­chen Schätze kön­nen noch wäh­rend des Brandes bezie­hungs­wei­se kur­ze Zeit spä­ter gebor­gen wer­den. Dies ist die Bilanz eines der ver­hee­rends­ten Brände in der Geschichte Frankreichs, doch Zahlen allein kön­nen die­sen Verlust nicht bezif­fern. Viel tie­fe­re Risse dürf­te die Katastrophe im kol­lek­ti­ven Gedächtnis der Franzosen hin­ter­las­sen haben.

»Unsere liebe Dame von Paris«
Foto (bear­bei­tet): Godefroy Troude (CC BY-SA 4.0), commons.wikimedia.org/wiki/File: 20190415_11_La_foule_Pont_de_la_Tournelle_Wiki.jpg

Der 324 Meter hohe Tour Eiffel ist wohl eine der häu­figs­ten Assoziationen, die einem Außenstehenden bei den Begriffen Frankreich und Paris ein­fal­len, und mit Sicherheit geht es den Franzosen selbst ähn­lich. Auch ist nicht zu bestrei­ten, dass kein ande­res Pariser Bauwerk die Silhouette der Stadt stär­ker prägt als eben der Eiffelturm, jedoch ist der Wert die­ses Bauwerks im kul­tu­rel­len Gedächtnis der Franzosen anders als der von Notre-Dame zu bewer­ten. Der Turm wur­de 1889 zur Erinnerung an den 100. Jahrestag der Französischen Revolution eröff­net, dien­te in sei­ner über 130-jäh­ri­gen Geschichte indes als Funkmast sowie bis heu­te als zen­tra­ler Sendeturm, Aussichtspunkt und Standort eines renom­mier­ten Restaurants. Kurzum, das ehe­mals höchs­te Bauwerk der Welt ist also in ers­ter Linie ein Symbol für die Vorreiterposition Frankreichs in Sachen moder­ner Architektur, Ingenieurs- sowie Fernmeldetechnik.

Die Notre-Dame de Paris hin­ge­gen präg­te über Jahrhunderte nicht nur das Stadtbild der fran­zö­si­schen Hauptstadt und dien­te als Kathedrale des Pariser Erzbistums reli­giö­sen Riten, viel­mehr noch bot der goti­sche Sakralbau Raum für Geschichtsschreibung sowie Identitätsbildung. Beispielweise umrahm­te sie die präch­ti­ge Kaiserkrönung Napoleons, über­stand sowohl die Französische Revolution als auch zwei Weltkriege, war Schauplatz zahl­rei­cher lite­ra­ri­scher und fil­mi­scher Meisterwerke und sah rei­hen­wei­se berühm­te Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft ein- und aus­ge­hen. Kaum ein ande­rer Ort spielt eine solch aus­schlag­ge­ben­de Rolle in der natio­nalen Erinnerungskultur Frankreichs. Die von der Seine umge­be­ne Île de la Cité, auf der Notre-Dame 1163 erbaut wur­de, ist kei­ner der Orte wie etwa der Eiffelturm oder der Arc de Triomphe, die von Parisern gemie­den wer­den. Trotz der Touristenströme hat die katho­li­sche Kathedrale für Fremde wie Einheimische bis heu­te weit­ge­hend ihren Charme behalten.

Nicht ohne Grund liegt auch der Point zéro des rou­tes de France direkt vor Notre-Dame. Von die­sem »Nullkilometer« wer­den alle Entfernungen zu den gro­ßen Städten im Land berech­net. Die Wurzeln erstre­cken sich qua­si in alle Richtungen des Staatsgebietes und lau­fen bei Notre-Dame wie­der zusam­men. Auch wenn sich Frankreich seit Ende des 20. Jahrhunderts in der struk­tu­rel­len und poli­ti­schen Dezentralisierung ver­sucht, ist Paris doch das kul­tu­rel­le Zentrum geblie­ben. Die Beschädigung die­ses Symbols trifft vie­le Franzosen nun mit­ten ins Herz. Wie Helen beschreibt, füh­le es sich an, als hät­te man einen gelieb­ten Menschen ver­lo­ren, denn ein bedeu­ten­der Teil natio­na­ler Historie ist ver­lo­ren­ge­gan­gen. Auch eine Rekon­struktion, sagt sie, kön­ne nicht die Jahrhunderte der Geschichte, deren Zeuge Notre-Dame war, wiederherstellen.

Foto (bear­bei­tet): Mario Sánchez Prada (CC BY-SA 2.0), flickr.com/photos/25093253@N05/40444365232
Feuer fängt mit Funken an

Die Pechsträhne des kri­sen­ge­plag­ten Frankreichs scheint nicht abrei­ßen zu wol­len: Seit 2015 häu­fen sich die von isla­mis­ti­schen Kräften aus dem In- und Ausland ver­üb­ten ter­ro­ris­ti­schen Anschläge auf fran­zö­si­schem Boden. Zahlreiche Messerattacken und der ille­ga­le Gebrauch von Schusswaffen
bedro­hen seit­her das fried­li­che und unbe­schwer­te öffent­li­che Leben der als sonst so lebens­lus­tig gel­ten­den Franzosen. Das soge­nann­te Mouvement des Gilets jau­nes, bei dem Protestler in gel­ben Warnwesten (ursprüng­lich) gegen eine höhe­re Besteuerung fos­si­ler Brennstoffe auf die Straße gehen, ent­facht seit Oktober 2018 zuneh­mend Konflikte inner­halb der Gesellschaft – und das im wahrs­ten Sinn des Wortes. Straßenblockaden wie auch Brandstiftungen wur­den hier­für Mittel zur Druckausübung. Und nun steht auch noch die zum UNESCO-Weltkulturerbe Rives de la Seine gehö­ren­de Notre-Dame eine gan­ze Nacht unüber­seh­bar in Flammen. Dies trägt nicht unbe­dingt zur Abkühlung der Stimmung bei.

In den ers­ten Stunden und Tagen nach der Katastrophe eint die Pariser, Franzosen, Europäer, selbst die übri­gen Bürger der Welt die Bestürzung dar­über. Bilder vom Unglücksort zei­gen fas­sungs­lo­se und wei­nen­de Pariser, die eines tei­len: Trauer um ihre alte Dame. »Je suis tris­te ce soir de voir brû­ler cet­te part de nous«, twit­tert Präsident Emmanuel Macron kurz nach Ausbruch des Feuers. »Dieser Teil von uns brennt« – wie die Statements der fran­zö­si­schen Gaststudierenden an der MLU bestä­ti­gen, spricht er hier­mit vie­len Parisern aus der Seele.

Aktuell dau­ern die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zur Brandursache an, doch schon jetzt wird der Wiederaufbau des Wahrzeichens als eine der wich­tigs­ten Herausforderungen in Macrons Amtszeit gehan­delt. Der ehe­ma­li­ge US-Präsident Barack Obama hat es vor­ge­macht: Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 insze­nier­te er sich nach dem ver­hee­ren­den Sturm Sandy als Krisenmanager und über­zeug­te damit selbst ein­ge­fleisch­te Republikaner. Noch bevor die Flammen kom­plett gelöscht sind, kün­digt Macron an, Notre-Dame schnellst­mög­lich wie­der auf­bau­en zu wol­len. Sympathiepunkte sam­melt er an den dar­auf fol­gen­den Tagen mit der Verleihung von Verdienstmedaillen an rund 250 der ins­ge­samt 600 Helfer. Doch der schwie­rigs­te Teil steht noch bevor: die Umsetzung des Wiederaufbaus. Die ers­te Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo spricht von nur fünf Jahren, in denen die­ser abge­schlos­sen wer­den soll – einem laut Experten viel zu ambi­tio­nier­ten Ziel für ein Projekt die­ser Größenordnung.

Illustration: Cynthia Seidel

Ob es durch das gemein­sa­me Trauma gelingt, das sich in Aufruhr befin­den­de Frankreich zu einen, bleibt abzu­war­ten. Aktuell scheint man weit davon ent­fernt, an einem Strang zu zie­hen. Die zuge­sag­ten Spenden in Höhe von meh­re­ren hun­dert Millionen Euro, unter ande­rem von gro­ßen Konzernen wie Total, mil­li­ar­den­schwe­ren Unternehmerfamilien oder der Stadt Paris, sor­gen nicht in allen Kreisen für Freude. Rasch wer­den Kritiker laut, die bemän­geln, dass maro­de Gotteshäuser im gan­zen Land seit Jahren ver­geb­lich auf finan­zi­el­le Zuwendungen war­ten. Obdachlosenorganisationen las­sen ver­lau­ten: »Notre-Dame braucht ein Dach – wir auch«, und Anhänger der Gelbwestenbewegung kla­gen über die Ungerechtigkeit, dass man für ihre Belange kein Geld zur Verfügung stel­le. Eine Debatte, die das Land in nächs­ter Zeit wohl nicht zur Ruhe zu brin­gen vermag.

Das kol­lek­ti­ve Gedächtnis
… bezeich­net einen dyna­mi­schen, unend­lich fort­be­stehen­den Prozess, der Geschichte in einem kul­tu­rel­len Rahmen rekon­stru­iert, inner­halb des­sen Begrenzung das indi­vi­du­el­le Gedächtnis Raum fin­det.
Innerhalb des Kollektivgedächtnisses unter­schei­det man zudem zwi­schen dem kom­mu­ni­ka­ti­ven Gedächtnis, das auf all­täg­li­cher infor­mel­ler Kommunikation beruht, und dem kul­tu­rel­len Gedächtnis, wel­ches durch objek­ti­vier­te, zere­mo­ni­el­le Kommunikation gespeist wird. Daraus resul­tiert die zeit­li­che Dimension, denn das kul­tu­rel­le Gedächtnis wird lang­fris­tig durch sym­bo­li­sche Kodierung bei­spiels­wei­se in Form von Mythen, Riten, Museen sowie Institutionen gespeist.

Stimmen zum Brand von Notre-Dame
Ressentis sur l’incendie de Notre-Dame 

Einige Tage nach dem Großbrand haben wir mit fünf fran­zö­si­schen Studierenden gespro­chen, die letz­tes Jahr in Halle stu­diert haben. Wir baten sie, ihre Gedanken und Gefühle zu die­sem erschre­cken­den Vorfall in Worte zu fas­sen, um uns die in ganz Frankreich spür­ba­re tie­fe Bestürzung näher­zu­brin­gen.
Quelques jours après l’incendie de Notre-Dame nous avons par­lé avec cinq étu­di­ants fran­çais, qui ont fini leurs étu­des à Halle l’année der­niè­re. Nous les avons deman­dés d’exprimer leurs pen­sées et sen­ti­ments sur cet inci­dent cho­quant pour nous don­ner une mei­lleu­re idée de la cons­ter­na­ti­on pro­fon­de qu’on obser­ve par­tout en France.

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