Friedhöfe sind nicht nur Orte der Trauer: Ein Rundgang über den Stadtgottesacker lässt den Besucher vie­les über Halle und sei­ne frü­he­ren Bewohner erfahren.

Von außen sehen die hohen, zwi­schen den umge­ben­den Wohnhäusern etwas ver­steck­ten Mauern abwei­send aus; trut­zig wie eine wehr­haf­te Bastion, bereit, Ungebetene am Eindringen zu hin­dern. Tatsächlich erfüll­ten sie der­einst auch die­se Funktion: Als Teil der hal­li­schen Stadtbefestigung schütz­te der Stadtgottesacker Lebende und Tote glei­cher­ma­ßen. Schon seit dem 14. Jahrhundert als Begräbnisplatz für Pestopfer benutzt, avan­cier­te das außer­halb der Stadtmauern gele­ge­ne Areal auf dem Martinsberg seit 1529 zum Hauptbegräbnisplatz Halles, nach­dem Kardinal Albrecht von Brandenburg die inner­städ­ti­schen Friedhöfe auf­lö­sen ließ. 

Foto: Paul Thiemicke

Betritt der Besucher den ummau­er­ten Bezirk durch die Toröffnung unter dem Turm, umfängt ihn sofort ein Gefühl der Ruhe; Hektik und Eile der umge­ben­den Großstadt fin­den hier kei­nen Einlass. Nur gele­gent­lich drin­gen Geräusche von außer­halb in das etwas unre­gel­mä­ßi­ge Viereck aus Stein, Mörtel und Holz vor. Ab 1557 nach Plänen des Stadtbaudirektors Nickel Hoffmann erbaut, ist die Umfassung des Stadtgottesackers eine Reminiszenz an die Camposanto genann­ten Renaissancefriedhöfe Italiens.

Eine Insel der Ruhe

Wendet man sich hin­ter dem Eingang nach links und schrei­tet die sich am Rande des Areals ent­lang­zie­hen­de lan­ge Reihe der Gewölbebögen ab, so kommt man nicht umhin, den Steinmetzen, Maurern und Zimmerleuten Tribut zu zol­len, die in lan­ger und mühe­vol­ler Arbeit die­ses archi­tek­to­ni­sche Kleinod schu­fen. Hinter den 92 soge­nann­ten Schwibbögen lie­gen, kühl und schat­tig, die Grabgewölbe der vor­neh­men Hallenser von einst. Ihre Namen sind noch immer auf den Bögen zu lesen, ihre gemei­ßel­ten Wappen und ver­zier­ten Grabplatten zeu­gen noch heu­te von ihrem Einfluss und Reichtum. Als der Platz in den gemau­er­ten Grüften schließ­lich nicht mehr aus­reich­te, wich man auf die ursprüng­lich lee­re Grünfläche im Zentrum der Anlage aus; nun erstreckt sich zwi­schen den Umfassungsmauern eine Landschaft aus stei­ner­nen Kreuzen, Statuen und Grabmälern, manch­mal umfasst von Metallgittern, dann wie­der nur durch gras­be­wach­se­ne Wege von­ein­an­der getrennt. 

Foto: Paul Thiemicke

Über Gräber, Bögen und Grabplatten erhe­ben mäch­ti­ge Bäume ihre Äste; das Sonnenlicht fällt durch die Lücken im Blätterdach und spren­kelt die Innenfläche des Friedhofs mit Inseln grün-gol­de­nen Lichts. Der Stadtgottesacker ist im Grunde ein ruhi­ger Park; der außer­halb der Mauern gele­ge­ne Teil des Friedhofs wur­de tat­säch­lich schon vor lan­ger Zeit in eine Park- und Spielplatzanlage umge­wan­delt. Die von den Gewölbebögen umschlos­se­ne Oase hat sich jedoch eine wohl­tu­en­de Abgeschiedenheit bewahrt; Architektur und Natur sind hier eine eigen­ar­ti­ge Symbiose ein­ge­gan­gen. Zwischen halb­ver­wit­ter­ten Grabmälern brei­ten sich Grasbänke aus, hier und da durch­setzt mit Löwenzahn, der gol­de­ne Farbtupfer ins son­nen­ge­fleck­te Moos wirft. Gänseblümchen recken ihre schlan­ken Hälse dem hell­grü­nen Blätterdach ent­ge­gen; Efeu umkränzt vie­le der behaue­nen Steine. Abseits der ordent­lich geheg­ten Stiefmütterchen schmückt so die Natur auf ihre Weise die alten Gräber. Manche Inschrift ist noch so deut­lich zu lesen, als hät­te der Bildhauer gera­de erst den Meißel bei­sei­te­ge­legt; ande­re Steine, halb in der Erde ver­sun­ken, haben ihre Inschriften durch das ste­te Werken von Regen und Frost fast gänz­lich verloren.

Verfall und Neugestaltung

Dem auf­merk­sa­men Auge fällt jedoch auf, dass der Stadtgottesacker auch von Zerstörung nicht ver­schont geblie­ben ist: Nicht weni­ge Gewölbe und Bögen wur­den im Zweiten Weltkrieg durch Bombentreffer zer­stört, eini­ge Grabsteine auf der wei­ten Innenfläche wei­sen noch immer Narben der Granatsplitter auf. Viele der einst so stol­zen Wappen, der gemei­ßel­ten Namen und kunst­vol­len Ornamente zu Ehren von Halles Stadt­oberen gin­gen auf die­se Weise ver­lo­ren. Zu DDR-Zeiten lan­ge dem Verfall preis­ge­ge­ben, bemüh­te sich ab 1985 eine Bürgerinitiative um die Sanierung des Friedhofs. Erst 1998 ermög­lich­te eine groß­zü­gi­ge Spende von Marianne Witte, der Tochter des Chemie-Nobelpreisträgers Karl Ziegler, die voll­stän­di­ge Rekon­struktion der Anlage. 

Foto: Paul Thiemicke

Geht man wei­ter die Gewölbebögen ent­lang, so bemerkt man schnell den Umstand, der den Stadtgottesacker ein­zig­ar­tig macht: Diejenigen Bögen, die aus Mangel an Informationen nicht wie­der­her­ge­stellt wer­den konn­ten, wur­den von Bildhauern der Kunsthochschule Burg Giebichenstein zeit­ge­nös­sisch ergänzt. So sieht man nun zwi­schen fei­nen Rankenornamenten und zum Teil kaum les­ba­ren, geschwun­ge­nen Inschriften frisch gehaue­ne Reliefs mit rät­sel­haf­ten Tieren, auf­flie­gen­den Vögeln, Fabelgestalten und sym­bol­haf­ten Ornamenten. Diese Arbeiten wir­ken jedoch nie auf­dring­lich oder fehl am Platz; sie fügen sich har­mo­nisch in ihre Nachbarschaft ein, ver­kün­den dem Vorübergehenden ihre eige­nen Botschaften. Hier wird ein Mensch von einem schlan­gen­ähn­li­chen Ornament umschlun­gen, dort bil­den Libellen, Bienen und Tauben das gemei­ßel­te Gefolge eines grei­fen­ähn­li­chen Phantasiewesens. Leicht kan­ti­ge Pflanzen win­den sich um den einen Bogen, auf dem ande­ren kann man ein Gerippe erken­nen, das mit einem Smartphone Selfies macht. Dieses sich ergän­zen­de Nebeneinander von Altem und Neuen wur­de mit meh­re­ren Preisen gewür­digt und der Stadtgottesacker 2011 sogar zum dritt­schöns­ten Friedhof Deutschlands gekürt.

Totengeschichten

Neben den in Stein gemei­ßel­ten begeg­nen dem Besucher auch ande­re, nicht weni­ger bedeu­ten­de Gestalten: Mal mehr, mal weni­ger berühm­te Persönlichkeiten las­sen sich beim Gang ent­lang der Gewölbe leicht aus­ma­chen. So trifft man etwa den berühm­ten Gelehrten und Universitätsbegründer Christian Thomasius, den Mediziner Friedrich Hoffmann, den Theologen und Stadtchronisten Gottfried Olearius oder Georg Händel, den Vater des Komponisten Georg Friedrich Händel, an. Die Familie August Hermann Franckes belegt zwei gan­ze Bögen; vom bedeu­ten­den Anatomen Philipp Friedrich Theodor Meckel sind dage­gen nur die­je­ni­gen Teile bestat­tet, die nicht in sei­ner ana­to­mi­schen Sammlung aus­ge­stellt wur­den. Viele der Grüfte wur­den im Laufe der Zeit von ver­schie­de­nen Familien genutzt; ande­re, rekon­stru­ier­te Gewölbe beher­ber­gen nun soge­nann­te Kolumbarien – Nischen, die für die Aufnahme der Urnen zukünf­ti­ger Verstorbener bestimmt sind. 

Foto: Paul Thiemicke

Gleichgültig, aus wel­cher Zeit oder Gesellschaftsschicht die Verstorbenen stam­men: Hier ruhen sie ein­träch­tig neben­ein­an­der. Auch auf der mit Gräbern über­sä­ten Innenfläche fin­det man zwi­schen den im Schatten lie­gen­den Stämmen der hohen Bäume nur weni­ge Jahre alte Grabmäler neben längst vom Moos über­wu­cher­ten, alters­grau­en Steinen. Hoch über ihnen flüs­tert der Wind im licht­durch­flu­te­ten Blätterbaldachin, als trü­ge er gehei­me Botschaften mit sich. Ein paar Tauben flat­tern mit schwe­rem Flügelschlag vor dem Schritt des Besuchers auf; wäre man aber­gläu­bisch, so könn­te man in ihren grau­en Gestalten die Geister der Verstorbenen ver­mu­ten. Der unbe­küm­mert durch die Stille drin­gen­de Gesang eines Vogels belehrt jedoch eines Besseren: An die­sem Ort fin­den Tier, Mensch und Pflanze schlicht­weg Erholung. Mag der Stadtgottesacker im nächt­li­chen Sturm viel­leicht einer ste­reo­ty­pen Horrorkulisse glei­chen – am hell­lich­ten Tag sind die Toten jeden­falls eine sehr ange­neh­me Gesellschaft. 

So manch einer der hier Bestatteten hat eine inter­es­san­te Geschichte zu erzäh­len – etwa der Großindustrielle und Self­mademan Carl Adolf Riebeck, der von den Mühen der Bergleute im Harz und den wirt­schaft­li­chen Aufstiegsmöglichkeiten im Mitteldeutschland des 19. Jahrhunderts zu berich­ten wüss­te. Abseits aller Trauer ver­ra­ten Grabmäler viel über Denkweise und gesell­schaft­li­che Verhältnisse ihrer Zeit – wie die Doktorin, die auf ihrem Grabstein als »Studiendirektor« titu­liert wird. Manch lan­ges Leben wird hier auf zwei schwer zu ent­zif­fern­de Datumsangaben redu­ziert, gan­ze Dynastien gemein­sam zur Ruhe gelegt. Von den Leiden des Ersten Weltkrieges berich­ten die mit Eisernem Kreuz ver­se­he­nen Grabsteine zwei­er Brüder, die im Kampf fie­len – einer in Verdun, der ande­re in Polen. Ein Stück wei­ter fan­den zwei rus­si­sche Offiziere, die 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig ihr Leben lie­ßen, ihre letz­te Ruhe. Einen län­ge­ren Weg aus Preßburg (Bratislava) hat auch der Naturwissenschaftler Johann Andreas Segner hin­ter sich, der eine unga­ri­sche Grabinschrift vor­wei­sen kann. 

Man könn­te noch vie­le Lebensläufe, Inschriften auf Gräbern und rät­sel­haf­te Reliefs ent­de­cken – doch end­lich zieht es den Besucher zurück in die Welt außer­halb der gewöl­be­tra­gen­den Mauern, hin­ein in das geschäf­ti­ge Treiben der Großstadt, den Verkehrslärm, das Wimmeln der Fußgängerzonen. Sicher ist, dass man den Stadtgottesacker in einer ande­ren Verfassung ver­lässt, als man ihn betre­ten hat. Sei es das Nebeneinander von Natur und Menschengemachtem, sei­en es die schö­nen und gleich­zei­tig bedeu­tungs­schwe­ren Reliefs – der Eindruck bleibt, dass dies glei­cher­ma­ßen ein Ort der Toten und der Lebenden ist.

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