Früher war alles … bes­ser? Nein. Aber anders, auch das Studium an den Universitäten und Hochschulen. Rüdiger Gland ging von 1960 bis 1965 auf die neu gegrün­de­te Hochschule in Merseburg, arbei­te­te bis zur Rente im Buna-Werk und lebt noch heu­te im Stadtteil Neustadt. An einem Sommernachmittag im August erzähl­te er von sei­nem Studium und dem Alltag mit Frau und Kind. 

Rüdiger Gland, gebo­ren 1939, ist ein wenig geschockt, als er auf dem Wohnheimgelände der Hochschule Merse-burg University of Applied Science (HoMe) steht. Denn das Gebäude, in dem er sich wäh­rend des Studiums mit zwei wei­te­ren Kommilitonen das Zimmer teil­te, steht nicht mehr. Stattdessen ist dort heu­te eine Wiese. »Von hier aus konn­te ich immer sehen, ob im Hauptgebäude das Licht brann­te oder nicht. Im letz­te­ren Fall bedeu­te das, dass wir aus­schla­fen konn­ten, denn der Strom war mal wie­der aus­ge­fal­len.« 1960/61 begann Gland sein Studium an der HoMe, die damals noch »Technische Hochschule für Chemie Leuna-Merseburg Carl Schorlemmer« hieß. Mit cir­ca 240 Kommilitonen und Kommilitoninnen bil­de­ten sie den ers­ten Studiengang für Verfahrenstechnik mit dem Abschluss Diplomingenieur für Verfahrenstechnik. »Die drei Studienjahre zuvor set­zen sich aus Studierenden der Ingenieurschulen Meißen, Köthen und der TU Dresden zusam­men. Die hat­ten schon ein Jahr Ausbildung hin­ter sich. Aber wir haben von der Pike auf in Merseburg studiert.«

Vom Bezirk Suhl in den Bezirk Halle

»Mit 17 habe ich mein Abitur an der Oberschule in Meiningen absol­viert, das war 1957. Und was dann? Weiter in Meiningen blei­ben, das kam für mich nicht in Frage. Im dama­li­gen Bezirk Suhl gab es nur Metallberufe, das inter­es­sier­te mich ein­fach nicht. Ich habe mich in Jena an der Friedrich-Schiller-Universität für Pharmazie und Archäologie / Altertumskunde bewor­ben. Ich woll­te raus, etwas Neues machen. Ich wur­de aber nicht ange­nom­men, da in die­sem Jahr ein­ge­führt wur­de, dass man nach der Schule in einem Betrieb der sozia­lis­ti­schen Industrie oder Landwirtschaft arbei­ten muss. Irgendwann kam ein Brief von mei­ner Tante, sie schick­te eine Zeitungs­annonce mit, in der stand, das Buna-Werk im Bezirk Halle suche eben­sol­che Arbeitskräfte. Also habe ich die Chance ergrif­fen und mich dort beworben.«

Foto: Lisa Kollien

Drei Jahre hat Rüdiger Gland im Buna-Werk gear­bei­tet, hat einen Abschluss als Chemiefacharbeiter gemacht und Lehrlinge ange­lernt. Das Studium in Jena rück­te in den Hintergrund, denn wäh­rend sei­ner Arbeit lern­te er sei­ne Frau ken­nen. Doch dann wur­de er vom Betrieb aus zum Studium dele­giert. »Also bewarb ich mich an der Martin-Luther-Universität für Chemie, pas­send zu mei­nem Beruf. Eines Tages kam ein seri­ös aus­se­hen­der Herr nach Buna und schwärm­te allen, die sich an der Uni für Chemie oder Ähnliches bewor­ben hat­ten, von den Vorteilen der Verfahrenstechnik in Merseburg, den Karriereaussichten und sogar von einem hoch­be­zahl­ten Auslandseinsatz vor.«

Doch all­ge­mein war es für Gland kei­ne leich­te Entscheidung, ein Studium auf­zu­neh­men. »Ich war mitt­ler­wei­le ver­hei­ra­tet, und unser Kind war auf dem Weg. Zu stu­die­ren bedeu­te­te: Das Gehalt auf­ge­ben und fünf Jahre von vorn begin­nen. Doch mei­ne Frau hat mich unter­stützt: ›Erst stu­dierst du, dann ich‹, hat sie gesagt. Und so haben wir es dann auch gemacht. Außerdem war ich über­zeugt, an einer nicht per­fekt funk­tio­nie­ren­den neu­en Hochschule zu stu­die­ren ist bes­ser als an einer alt­ein­ge­ses­se­nen mit hohen Erwartungen.«

»Kopf runter und durch«

»Viele mei­ner Mitstudenten hat­ten es nicht so leicht. Die Hochschule war neu, es gab kei­ne Traditionen, die Merseburger lach­ten über uns Studierende von der ›roten Hochschule Carl Schorlemmer‹. Den Namen kann­te damals von uns doch kei­ner. Ich habe mir nur gedacht: Kopf run­ter und durch. Ich habe Familie, also muss ich in der Regelzeit, in 11 Semestern, fer­tig werden.«

Am 17. September 1960 wur­de Gland imma­tri­ku­liert. Er wohn­te damals in Schkopau, in der Halleschen Straße. Das Haus steht heu­te leer, aber er erin­nert sich noch immer an jedes Detail. »Die Miete lag bei unge­fähr 40 Mark, inklu­si­ve kal­tem Wasser. Strom kos­te­te pro Kilowattstunde 8 Pfennig. Das Wasser muss­ten wir mit einem Tauchsieder erhit­zen – oder im Topf kochen.«

Foto: Lisa Kollien

»Mit dem Rad bin ich cir­ca 20 Minuten zur Hochschule gefah­ren, ab und an habe ich im Wohnheim gewohnt. Dass ich ein Zimmer bekom­men habe, war rei­nes Glück, da ich ja in der Nähe eine Wohnung hat­te. Je nach­dem, wie die Prüfungen waren, blieb ich mal hier, mal dort. Die Miete im Heim hat damals 8 Mark pro Person gekos­tet.« Zu dritt haben sie in dem Zimmer gewohnt, mit dem Blick auf das Hochschulgebäude. Essen gab es in der Mensa, wel­che heu­te im Hauptgebäude unter­ge­bracht ist. Früher stand sie sepa­rat, der stern­för­mig ange­ord­ne­te Eingeschosser steht jedoch heu­te leer. »Bier gab es erst abends im Kiosk, wenn der Unterricht been­det war. Manchmal haben wir uns ein­ge­deckt und das Bier dann gewinn­brin­gend an die Kommilitonen wei­ter­ver­kauft.« Das bedeu­te­te ein paar Pfennig Aufschlag für Transport und Lagerung.

Vollzeitstudium und Freizeit

Das Studium der Verfahrenstechnik war kein Zuckerschlecken. »Wir hat­ten viel zu tun. Vorlesungen, Seminare, Übungen, dazu Hausaufgaben und am Ende des Studienjahres Praktika. Da kam eini­ges zusam­men.« Im ers­ten Studiensemester hat­te Rüdiger Gland 33 Wochenstunden Unterricht; dazu gehör­ten Mathematik, Technisches Zeichnen, Vorlesung zur Mechanik mit pas­sen­der Übung, Englisch, Russisch, Darstellende Geometrie und natür­lich Marxistische Lehren. Im zwei­ten waren es schon 35 Wochenstunden. Sport war damals noch ein Pflichtfach, es kamen Physik und Wertstoffkunde hin­zu. »Und noch immer kei­ne Chemie, genau das, was mich ja inter­es­sier­te. Dafür Mechanik, was ich schon nach dem Abitur nicht woll­te. Aber abbre­chen kam nicht in Frage.« Jedes Jahr gab es Zwischenprüfungen mit gan­zen Noten. »Entweder man hat­te eine 2 oder eben nicht. Da gab es kei­ne Kommastellen, so wie heu­te. Da bekam man bei 2,4 eben die 2 und bei 2,6 eine 3. So ein­fach war das.« Im drit­ten Jahr kam dann end­lich die Chemie, ab dem vier­ten Jahr san­ken auch die Wochenstunden auf 27. Das war auch nötig, denn neben­bei wur­de schon an der Diplomarbeit geschrieben.

Finanzierung – woher kam das Geld für das Studium?

Foto: Rüdiger Gland

»Wie bei vie­len Studierenden heu­te hat­te ich damals Glück, dass uns mein Vater mit 200 Mark monat­lich unter­stütz­te, bis mei­ne Frau wie­der arbei­ten ging. Als ich das Studium begann, wur­de ich mit einem Stipendium geför­dert. Das waren zunächst 140 Mark, da ich aus einer Akademikerfamilie kam, denn im Arbeiter- und Bauernstaat wur­den Arbeiterkinder mehr geför­dert. Der Parteisekretär der Hochschule hat sich aber für mich ein­ge­setzt, da ich schon drei Jahre gear­bei­tet hat­te, und so bekam ich spä­ter etwa 190 Mark monat­lich, was dem Stipendium für Kinder aus Arbeiterfamilien ent­sprach.« Staatliches Kindergeld gab es damals nicht. Seine Frau blieb mit dem Kind zu Hause. »Das Geld hat gereicht, aber knapp war es den­noch. Viel haben wir für Einrichtung und die Ausstattung für unse­ren Sohn aus­ge­ge­ben. Also bin ich in jeder frei­en Minute arbei­ten gegan­gen. Ich blieb im Werk, mel­de­te mich vor allem für die Feiertage frei­wil­lig, da gab es immer ein biss­chen mehr Lohn.« Als sein Sohn drei Jahre alt war, gaben sie ihn zur Betreuung zu Glands Eltern nach Meiningen. »Das kann sich heu­te kaum noch jemand vor­stel­len, dass das Kind jah­re­lang von den Großeltern betreut wird und man selbst arbei­tet und stu­diert.« Seine Frau ging wie­der arbei­ten; da sie aus dem Westen in die DDR emi­griert war, hat­te sie es nicht leicht. Das Abitur durf­te sie nicht machen, und damit war ihr der aka­de­mi­sche Weg ver­sperrt. Also fing sie als Schaffnerin bei der Straßenbahn an. »Später hat sie sich dort noch hoch­ge­ar­bei­tet. Aber 1963, da war das nicht leicht für uns.«

Nach dem Studium

Ein Jahr vor sei­ner Diplomarbeit bekam er sein Thema zuge­teilt. »Der Plan war, im Herbst 1965, also im 11. Semester, mei­nen Abschluss zu erhal­ten. Doch lei­der hat sich alles etwas ver­scho­ben.« Glands Diplomvater starb, wäh­rend er sei­ne Arbeit schrieb. »Sonst kann­te sich nie­mand mit dem Thema aus, also muss­te ich alles allein aus­ar­bei­ten. Aus die­sem Grund bekam ich mein Zeugnis erst 1966.« Das Thema sei­ner Arbeit lau­te­te »Ermittlung und kri­ti­sche Einschätzung des Standes der Versuche an der Lunn-Maschine«, »also ein­fach gesagt: wie sich Schwefel auf Schmieröl aus­wirkt.« Sie wur­de mit »befrie­di­gend« bewer­tet, nach­dem er sie im Frühjahr 1966, wäh­rend er wie­der in Buna arbei­te­te, ver­tei­digt hat­te. Schlussendlich bekam er aber das Gesamturteil »gut bestan­den«. »Das hat gereicht. Ich hat­te mein Diplom in der Tasche, wech­sel­te im Buna-Werk von der Lohn- in die Gehaltsklasse und konn­te wie­der arbei­ten und end­lich mei­ner­seits mei­ne Frau unterstützen.«

Im Februar 1968 zogen sie nach Halle-Neustadt um, ein Jahr, nach­dem aus der Chemiearbeiterstadt Halle-West die unab­hän­gi­ge Stadt Halle-Neustadt wur­de. Die Nachbarstadt Halle traf man bei der Saline, damals wur­de dort das Centrum-Warenhaus errich­tet, heu­te fin­det man in den Räumlichkeiten unter ande­ren Lührmann und das UniFit.

Foto: Lisa Kollien

»Ich war sel­ten in Halle unter­wegs, denn wir hat­ten in Neustadt alles: Treffpunkte, Kindergärten, Cafés, Kino, Restaurants, Ärzte und einen eige­nen Bürgermeister. Eben alles, was man als eigen­stän­di­ge Stadt braucht.« In Buna arbei­te­te er bis zur Rente. Da Halle-West spe­zi­ell für die Chemiearbeiter kon­zi­piert wur­de, fuhr die S‑Bahn von der Haltestelle Zscherbener Straße bis nach Schkopau; von dort gab es einen Shuttle­bus, der bis zum Werk fuhr. »Bequemer ging es schon gar nicht mehr.«

Und dort wohnt er heu­te noch, im glei­chen Mehrfamilienhochhaus wie vor 50 Jahren, nur dass Halle-Neustadt seit 1990 wie­der ein Stadtteil von Halle ist. Doch zum Lernen fährt er heu­te nichts mehr nach Merseburg. »Vorlesungen und Seminare besu­che ich jetzt an der Martin-Luther-Universität. Ganz ohne Notendruck und Nebenjob. Aber das Studieren, das kann ich nicht lassen.«

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