Klang und Identität

Was ich nicht bin, oder: was unsere musikalischen Disferenzen über uns aussagen

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Taren Ack­er­mann

Wenn mein Kind später Hip Hop hört, kommt es ins Heim!” Solche und ähn­liche Phrasen fungieren oft als Titel für Grup­pen in sozialen Net­zw­erken – so auch im deutschen sozialen Net­zw­erk Stu­di­VZ, in dem sich diese spez­i­fis­che Gruppe zwis­chen 2007 und 2010 viel­er Mit­glieder erfreute[1]. Die Zuge­hörigkeit zu ein­er Gruppe wie dieser diente jedoch weniger dem inhaltlichen Aus­tausch der Mit­glieder untere­inan­der, als vielmehr dem Aus­druck der eige­nen Mei­n­ung und Per­sön­lichkeit. Die Mit­glied­schaft diente daher vor allem der Selb­st­darstel­lung – über die oft­mals witzig oder pro­vokant for­mulierten Grup­pen­ti­tel kon­nten indi­vidu­elle Vor­lieben, Inter­essen, Werte und Überzeu­gun­gen mit­geteilt wer­den. Zwar erfährt man in unserem Beispiel nichts über die genauen Musikpräferen­zen des Grup­pen­mit­glieds, doch wird deut­lich, dass, egal welche Musik der- oder diejenige hört, zumin­d­est Hip Hop mit tief­ster Überzeu­gung abgelehnt wird (und dies so sehr, dass das eigene Kind aus dem Haus ver­wiesen wer­den würde, wenn es solche Musik präferieren würde). Zusät­zlich sig­nal­isieren solche Grup­pen zugle­ich, dass der Einzelne mit sein­er Mei­n­ung nicht allein daste­ht, son­dern von mehreren Gle­ich­gesin­nten umgeben ist.

Warum aber wird dafür aus­gerech­net Musik ver­wen­det? Dies liegt wahrschein­lich an der beson­deren Bedeu­tung, die Musik für Jugendliche hat: Sie spielt als Medi­um der Selb­st­darstel­lung und Kon­tak­ther­stel­lung eine große Rolle, indem sie zum Aus­druck und zur Fes­ti­gung ihrer Iden­tität sowie als Mit­tel, per­sön­liche Werte, Ziele und Sichtweisen zu kom­mu­nizieren, genutzt wird. Durch das Hören von Musik, sowohl allein als auch mit anderen, kön­nen Jugendliche sich die Zeit vertreiben, Langeweile und Ein­samkeit ver­mei­den sowie ihre Stim­mung bee­in­flussen. Auch bietet Musik ihnen die Möglichkeit, mit ihrer Umwelt, sich selb­st und ihrem eige­nen Empfind­en bess­er umge­hen zu kön­nen (soge­nan­ntes ‚Cop­ing‘). Dabei machen sie es sich zunutze, dass Klänge, Inhalte und Assozi­a­tio­nen zu ihrer indi­vidu­ellen Musik ihre emo­tionalen Bedürfnisse spiegeln und ihnen emo­tionalen Bei­s­tand, Sicher­heit sowie das Gefühl ver­standen zu wer­den geben. Eben­so dient Musik Jugendlichen als Aus­druck jugend­spez­i­fis­ch­er Kul­tur und Wertesys­teme und fungiert als Merk­mal der Zuge­hörigkeit zu Jugend­kul­turen und zu ihrer Peer Group[2].

Wichtig ist im Rah­men von „Klang und Iden­tität“ vor allem die enge Verknüp­fung des Musikkon­sums im Jugen­dal­ter mit der Iden­tität­skon­struk­tion. Welche Musik­stile, welche Inter­pre­ten Jugendliche hören, kön­nen sie selb­st den eige­nen Inter­essen und Überzeu­gun­gen entsprechend auswählen. Damit haben sie die Möglichkeit, unter­schiedliche Wertesys­teme auszupro­bieren, mit Geschlechter­rollen zu exper­i­men­tieren und ver­schiedene Facetten ihrer Per­sön­lichkeit her­vorzuheben. Dabei hil­ft es, dass Musik heutzu­tage, dank der tech­nol­o­gis­chen Entwick­lun­gen der ver­gan­genen Jahrzehnte, jed­erzeit ver­füg­bar ist, was dazu führt, dass Jugendliche die Auswahl der einzel­nen Stücke für sich und ihre Umwelt selb­st bes­tim­men kön­nen. Die Musik ist dabei sowohl etwas Eigen­ständi­ges, Indi­vidu­elles, als auch eine Verbindung zu Fre­un­den und anderen Fans und dient damit der per­son­alen und sozialen Iden­tität gle­icher­maßen. Welche Funk­tion erfüllt jedoch die abgelehnte Musik, auch ‚musikalis­che Dis­ferenz‘[3] genan­nt, in der Pubertät? Ist sie lediglich ein Neben­pro­dukt der Musikpräferen­zen oder ste­ht sie eben­falls in Zusam­men­hang mit der Iden­tität der Jugendlichen?

Die wis­senschaftliche Lit­er­atur gibt auf diese Fra­gen keine umfassenden Antworten, aber inter­es­sante Hin­weise. Der Psy­cho­an­a­lytik­er Erik H. Erik­son deutet Ablehnung gegenüber Unver­trautem in der Pubertät als „Abwehr gegen ein Gefühl der Iden­titäts­d­if­fu­sion“[4], und Andreas Kunz erk­lärt musikalis­che Dis­feren­zen mit einem Wider­spruch zwis­chen den eige­nen Werten oder Ein­stel­lun­gen und denen, welche die abgelehnte Musik trans­portiert[5]. Sil­via Knobloch und ihre Kol­le­gen fan­den zusät­zlich her­aus, dass mit dem Wis­sen über den Musikgeschmack ein­er anderen Per­son auch Stereo­type über Merk­male und Per­sön­lichkeit­seigen­schaften aktiviert wer­den[6]. Die anhand des Musikgeschmacks ver­muteten Eigen­schaften haben direk­te Auswirkun­gen auf die Offen­heit und Sym­pa­thie, die dem anderen ent­ge­gen gebracht wer­den – wenn das Kind also später Hip Hop hört, kommt es ins Heim, weil es dann ver­mut­lich auch die Per­sön­lichkeit eines Hip Hop-Hör­ers haben muss, die abgelehnt wird.

Um diese Fra­gen genauer zu beant­worten, habe ich deshalb im Rah­men mein­er Mas­ter­ar­beit[7] sieben tiefenpsy­chol­o­gis­che Inter­views mit jun­gen Erwach­se­nen durchge­führt, die darin ret­ro­spek­tiv zu ihrem Hörver­hal­ten in der Pubertät befragt wur­den. In der anschließen­den Auswer­tung zeigte sich bei allen Gesprächspart­nern unter anderem ein deut­lich­er Zusam­men­hang zwis­chen ihrem Iden­tität­skonzept und der Musik, die sie ablehn­ten. Diese Musik wurde oft­mals mit einem bes­timmten Image, einem Konzept von Ein­stel­lun­gen, Per­sön­lichkeit­seigen­schaften und Ähn­lichem aufge­laden. Sei es, dass das Out­fit der Fans „scheiße aus­sah“, das Ver­hal­ten als „auf­dringlich“ erlebt wurde, die Texte „rechte Parolen“ bein­hal­teten oder die ganze Musik „weich, fem­i­nin“ war – all diese Argu­mente ziel­ten deut­lich darauf ab, das Bild und die Eigen­schaften, die sie mit der dis­ferierten Musik und deren Anhängern verbinden, von sich selb­st fernzuhal­ten. Auch zeigte sich in der Art, wie die Stu­di­en­teil­nehmer über ihre musikalis­chen Dis­feren­zen sprachen, ein qual­i­ta­tiv­er Unter­schied: Ein­er­seits gab es Musik, die lediglich nicht son­der­lich gemocht wurde, z.B. melodisch oder rhyth­misch nicht gefiel, aber anson­sten nicht störte. Ander­er­seits fan­den sich bei fast allen auch Inter­pre­ten oder Stil­rich­tun­gen, die sie der­art stark ablehn­ten, dass sie sog­ar den Raum ver­lassen wür­den, wenn sie gespielt würden.

Der Unter­schied zwis­chen diesen bei­den Arten der Dis­ferenz kön­nte möglicher­weise ger­ade in einem Iden­titäts­bezug liegen. Bei leichter Ablehnung gibt es zwar Aspek­te an der Musik, die nicht mit den eige­nen Wert- oder Gefal­l­en­surteilen übere­in­stim­men, aber sie wird den­noch nicht unerträglich wahrgenom­men. Anders ist es bei Musik, die als so schreck­lich erlebt oder dargestellt wird, dass mit dieser Ablehnung zugle­ich eine Aus­sage über sich selb­st getrof­fen wird: Das bin nicht ich, das hat nichts mit mir zu tun, davon halte ich mich fern. Mit der Beto­nung des Gegen­satzes zwis­chen Werten, Ein­stel­lun­gen oder Inhal­ten der dis­ferierten Musik und denen der eige­nen Per­sön­lichkeit ist es möglich, ein Gegen-Selb­st zu erschaf­fen, das als max­i­mal inkon­gru­ent mit dem Ich erlebt und dargestellt wird – gewis­ser­maßen ein Nicht-Ich[8], ein neg­a­tives Gegen­bild zur eige­nen Identität.

Dis­ferierte Musik ist also mehr als nur das neg­a­tive Abbild der Präferenz. Sie ermöglicht es Jugendlichen, sich über die Abgren­zung und Ablehnung bes­timmter Musik (Stile, Inter­pre­ten, musikalis­ch­er Eigen­schaften, etc. ) zu posi­tion­ieren und zu definieren und so zu bes­tim­men, mit wem oder was man auf keinen Fall in Beziehung geset­zt wer­den will, wer man nicht sein möchte. Möglicher­weise ist ger­ade diese Art der Iden­titäts­bes­tim­mung in der Pubertät als ein­er Phase großer Selb­stun­sicher­heit und Iden­tität­sneu­bil­dung sog­ar diejenige, die klar­er zu benen­nen und zu fassen ist, oder, wie es der Lie­der­ma­ch­er Space­man Spiff in einem Lied for­muliert: „Es ist immer noch bess­er, nicht zu wis­sen, wer du bist, aber dafür ganz genau, wer nicht“[9]. Hof­fen wir also, dass die Kinder der Stu­di­VZ-Nutzer von damals heute nicht Hip Hop hören.

Taren Ack­er­mann, Jahrgang 1987, arbeit­et am Max-Planck-Insti­tut für empirische Ästhetik in Frank­furt am Main und schreibt ihre Dok­torar­beit über Dis­feren­zen. Sie hat einen Bach­e­lor in Musik­wis­senschaft und Päd­a­gogik von der CAU Kiel und einen Mas­ter in Klin­is­ch­er Musik­ther­a­pie von der WWU Münster.


[1] Im Okto­ber 2014, lange nach der aktiv­en Zeit des sozialen Net­zw­erks, hat­te diese Gruppe noch immer über 33.000 Mit­glieder, und das, obwohl viele junge Erwach­sene nach 2010 ihre Pro­file gelöscht haben. Daher kann man wohl von min­destens dop­pelt bis dreimal so vie­len Mit­gliedern in den aktiv­en Zeit­en des Stu­di­VZs ausgehen.

[2] Einen sehr guten Überblick über die unter­schiedlichen Funk­tio­nen, die Musik haben kann, geben Schäfer, Thomas / Sedlmeier, Peter (2009): From the func­tions of music to music pref­er­ence. In: Psy­chol­o­gy of Music 37, 279–300.

[3] Eine aus­führlichere Begriff­serk­lärung find­et man in: Ack­er­mann, Taren (2014): Die Bedeu­tung des Musikhörens bei der Iden­tität­skon­struk­tion im Jugen­dal­ter. Mas­ter­ar­beit West­fälis­che-Wil­helms-Uni­ver­sität Mün­ster, 20.

[4] Erik­son, Erik H. (1973): Iden­tität und Leben­szyk­lus. Frank­furt a. M., 11.

[5] vgl. Kunz, Andreas (1998): Aspek­te der Entwick­lung des per­sön­lichen Musikgeschmacks. Frank­furt a. M.

[6] vgl. Knobloch, Sil­via / Vorder­er, Peter / Zill­mann, Dolf (2000): Der Ein­fluß des Musikgeschmacks auf die Wahrnehmung möglich­er Fre­unde im Jugen­dal­ter. In: Zeitschrift für Sozialpsy­cholo­gie, 31(1), 18–30.

[7] vgl. Ack­er­mann, Taren (2014).

[8] Das ‚Nicht-Ich‘ (‚Not-Me‘ oder ‚unde­sired self‘) wurde erst­mals von Ogilvie (1987) als ein neg­a­tives Selb­stkonzept in die Per­sön­lichkeit­spsy­cholo­gie einge­führt und später beispiel­sweise in der Forschung von Ban­is­ter / Hogg (2001) im Rah­men der Mark­t­forschung aufgegriffen.

[9] Space­man Spiff: „Yel­low Brick Road“, auch auf YouTube

Dies war ein Beitrag von Taren Ack­er­mann im Vor­trags­block “Jugend­kul­tur” der Tagung “Klang und Iden­tität”.

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