Bummelei und Männerbekanntschaften. Disziplinarverfahren gegen Lehramtsstudierende

Der folgende Beitrag untersucht das Jahr 1968 an einem Einzelschicksal. Eine Studentin der ›volksdemokratischen‹ Pädagogischen Hochschule Halle-Köthen (fortan PH) .

Die PH Halle-Köthen ging 1988 aus der Zusammenlegung der Pädagogische Hochschulen “N. K. Krupskaja” in Halle und “Wolfgang Rathke” in Köthen hervor. Beide Institutionen waren Anfang der 1950er als Institute für Lehrerbildung begründet und zu Beginn der 1970er Jahre in den Rang einer Hochschule erhoben worden. Nach der Wiedervereinigung wurden sie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingegliedert. In diesem Text aber geht es um historische Ereignisse um “1968”, also noch vor der Zusammenlegung. Die folgenden Geschichten ereigneten sich allesamt in Köthen, ihre Überlieferung ging erst später in das institutionalisierte Gedächtnis der MLU in Halle ein. Dort wurden sie für diesen Beitrag aufgefunden und ausgewertet.

Um den status quo an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu verstehen, hilft es nicht nur nach dem zu schauen, was funktioniert — sondern vor allem nach dem, was Konflikt birgt. Der untersuchte Fall entstammt den Dossiers von Disziplinarmaßnahmen der Hochschul-Direktion gegen einzelne Studenten. Er soll Einblicke gewähren in die Art des Umgangs zwischen der Hochschulleitung und einer Studentin um 1968.

Heimfahrt, Westheft und Männerbekanntschaften

Der hier untersuchte Disziplinarausschuss galt der zum Protokollzeitpunkt achtzehnjährigen Studentin T. Schöffer.[1] Er fand im Februar 1969 statt, nahm aber vor allem Bezug auf Ereignisse im Vorjahr. In seiner Folge wurde der Studentin ein schriftlicher Verweis von der Hochschule erteilt: Aus dem Prokoll geht hervor, dass ihr ein vierköpfiger Ausschuss, zu dem auch der Direktor zählte, gegenübersaß.

Das Problem bestand darin, dass Schöffer trotz eines »Heimverbotes« regelmäßig eine Freundin in einem »Internat« (Wohnheim) in Dessau, ihrer Heimatstadt, besuchte. Aus ungenannten Quellen lag der Direktion die Information vor, dass Schöffer dort einen Schlüssel entwendet hatte, um selbstständig ein- und ausgehen zu können. Jene Freundin hatte ihr, wie aus dem Protokoll hervorgeht, ein westdeutsches »Heft« gezeigt, über das sich die beiden, wie Schöffer auf Nachfrage des Direktors zugibt, amüsierten. Schöffers Studienleistung habe sich in der Zeit ihrer regelmäßigen Heimfahrten wesentlich verschlechtert, sie habe sogar einige Vorlesungen geschwänzt und sich dadurch dem »Vorwurf der Studienbummelei« ausgesetzt.

»Haben sie bewusst gebummelt?«, fragt der Direktor im Protokoll. Und weiter: »Gab es noch solche Veranstaltungen, die sich nicht gelohnt haben?«. Auf die Frage, wie sie sich nun ihren weiteren Werdegang vorstellt, antwortet Schöffer, sie wolle »erst einmal eine Arbeit finden, um die Härte des Lebens kennenzulernen.« Ob sie also darum »bitten [würde], vom Studium exmatrikuliert zu werden.« Schöffer bejaht. Im Folgenden wird die Studentin nach ihrer Kindheit und ihrer Zeit in der FDJ befragt. Erst zum Schluss kommt der Direktor auf Schöffers »schwierige Stellung in der Seminargruppe« zu sprechen. Zunächst zeigt die Studentin sich von der Frage irritiert, bis der Direktor konkret wird: »Ich meine die Männerbekanntschaften, da haben Sie es ein wenig zugespitzt. Wollen Sie das Gefühl haben, daß jeder Ihnen gehört?« Sie habe es doch bloß zwei Mädchen weitererzählt, antwortet Schöffer.

Das Protokoll verdichtet sich hier in aller Kürze, drängt Details und Nuancen in den Hintergrund. Dennoch befremdet der skizzierte Dialog zwischen Direktor und Studentin. In den Aufzeichnungen, die hier nur schlaglichtartig wiedergegeben werden können, finden sich Sätze wie dieser: »Sie [Frau Schöffer] haben sehr hohe Verpflichtungen gegenüber ihrem Elternhaus. Sie müssen versuchen, offen und ehrlich alle Probleme mit Ihren Eltern zu beraten.« Das Erschreckende liegt in der beidseits geteilten Intimität. Nicht nur wissen die versammelten Herrschaften und der wortführende Direktor von dem Schlüsseldiebstahl und dem Intermezzo mit dem West-Heft, sie sind auch über die geschlechtlichen Beziehungen der Studentin im Bilde. Die Frage des Direktors und die Reaktion der Studentin darauf lohnen eine genaue Betrachtung. Auffällig ist die Kluft zwischen der Anrede der Studentin in der Höflichkeitsform und der Indiskretion der Frage, ob die Studentin wolle, »daß jeder Ihnen gehört«. Der Direktor unterstellt nicht nur, dass es Schöffer darum ginge, Beziehungen zu möglichst vielen Männern zu unterhalten, sondern vor allem, dass ihr diese Männer »gehören« sollen. Mit einem einzigen Satz enthüllt der Direktor seine Mitwisserschaft. Die Übertreibung durch das Pronomen »jeder« verstärkt die Andeutung einer vorliegenden Normverletzung und zielt auf die Beschämung der Studentin. Schöffer äußert sich rasch und indem sie nicht direkt auf die Frage antwortet, den Vorwurf aber auch nicht abstreitet. Sie rechtfertigt sich, gibt ein weiteres privates Detail Preis. Sie widerspricht dem Direktor offensichtlich nicht, wehrt seinen Übergriff auf ihre persönlichen Angelegenheiten nicht ab. Fast als wolle sie den im Raum stehenden Vertrauensverlust auf diese Weise ungeschehen machen. Nach einem weiteren Gespräch mit ihren Eltern wird Schöffer mit der Aussicht auf eine spätere Wiederaufnahme exmatrikuliert.

*

Der Fall der Studentin hinterlässt einen ersten Eindruck davon, was es hieß, um 1968 in Halle mit der Perspektive aufs Lehramt immatrikuliert zu sein. Warum die Männerbekanntschaften einer Studentin Sache des Direktorats waren, gelegentliche Heimfahrten und das Fehlen in Vorlesungen derartig schwere Vergehen, und überhaupt, warum das Verhältnis zwischen Direktor und Studentin sich so persönlich darstellte – darüber gibt das Protokoll keine Antwort.
Den Tonfall des Direktorats zeichnete allenfalls väterlicher Strenge aus.
Für den Lesenden setzt damit die Befremdung ein. Darüber, dass hier eine Intimität hergestellt wurde, wie sie sich heute bereits aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen verbietet; dass Vergehen und Strafe in keinerlei angemessenem Verhältnis standen. Nicht zuletzt: Dass die Studentin die Vorgehensweise des Direktorats widerspruchslos hinnahm. Erst hierin offenbart sich: Wir blicken in eine andere Zeit, auf andere Denkstrukturen und Prinzipien.

 

Zwei weitere Diziplinarverfahren gegen Studenten um ’68 finden Sie in der Langversion dieses Textes. Darin geht es um ein »folgenschweres Versäumnis« und den Vorfall, bei dem ein Student in Folge eines Kneipenbesuchs dauerhaft von allen Hochschulen der DDR ausgeschlossen wurde.

Für Formen der Repression an einer halleschen »Problemfakultät« lesen Sie hier weiter.

 

[1] UAHW, Rep 49, Nr. 847; Namen wurden vom Autor geändert.

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.