Alle politisch Interessierten haben es sicherlich mitbekommen: die deutsche LINKE hat sich gerade mal wieder intern durch den Fleischwolf gezogen und eine hoch sinnfreie Antisemitismus- und Maulkorbdebatte geleistet. Sinnfrei, weil nicht rational mit Bezug auf wissenschaftliche Argumente, sondern rein emotional die verschiedenen Parteiflügel aufeinander losgingen, ohne bis heute genau festzulegen, was Antisemitismus ist und was man daher in einer antirassistischen Partei wie der LINKEN sagen darf und was nicht. Auf diese Weise kann man natürlich keine griechischen oder spanischen Verhältnisse schaffen, um gegen die völlig verfehlte Politik gegen Staatsverschuldung und europäischer Wirtschafts- und Finanzmarktkrise zu protestieren. Die sozialen Probleme scheinen von der Linkspartei im Moment nicht als problematisierungswürdig wahrgenommen zu werden. Erstes Ergebnis der Antisemitismusdebatte, die auch dank einer wieder einmal äußerst parteifeindlichen Ausschlachtung in der bürgerlichen Medienindustrie angefeuert wurde, war folgende Resolution der Bundestagsfraktion vom 07.06., die nur auf Grund der Abwesenheit einer beträchtlichen Zahl von LINKEN-Abgeordneten einstimmig beschlossen wurde:
„Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE werden auch in Zukunft gegen jede Form von Antisemitismus in der Gesellschaft vorgehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz. Die Fraktion DIE LINKE tritt daher entschieden gegen antisemitisches Gedankengut und rechtsextremistische Handlungen auf.
Die Mitglieder der Bundestagsfraktion erklären, bei all unserer Meinungsvielfalt und unter Hervorhebung des Beschlusses des Parteivorstandes gegen Antisemitismus vom 21.Mai 2011:
Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer ‚Gaza-Flottille‘ beteiligen.
Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.“
Damit wird der Eindruck erweckt, dass die Forderung einer Ein-Staaten-Lösung des Nahostkonflikts, der Aufruf zum Boykott israelischer Waren und die Teilnahme an einer Solidaritätsflotille zur Durchbrechung der völkerrechtlich fragwürdigen Gazablockade Israels alles antisemitische Politik wäre. Gerne soll man diese Meinung haben, aber wenn man erwartet, dass alle Fraktionsmitglieder und sogar -mitarbeiter sich im Sinne dieser Position engagieren sollen, dann darf man doch eine inhaltlich gut fundierte Begründung erwarten, warum dieses antisemitisch wäre. Aber die Frage, was antisemitisch ist und was als legitime Kritik israelischer Politik gelten kann, wurde nicht geführt bzw. öffentlich geklärt.
Ein renommierter Antisemitismusforscher ist Wolfgang Benz, der bei der BpB den Band „Was ist Antisemitismus?“ herausgegeben hat. Es schien mir sinnvoll, hier nach Antworten auf die eben aufgeworfene Frage zu suchen. Eines wird schnell klar: der Begriff Antisemitismus ist missverständlich und lädt zu (Fehl-)Interpretationen ein (S. 9). Nur in rechtsextremen Kreisen wird offen antisemitisch gegen Juden agitiert – der Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft wird über Codes, Symbole und teils nonverbal versteckt geäußert. Antisemitismus wird bei Benz als Oberbegriff aller Formen von Feindschaft gegenüber Juden verstanden. Es geht um die Ablehnung der Juden, die nicht auf Fakten, sondern Mutmaßungen und Emotionen beruht und nicht rational ausdiskutiert werden kann. „Antisemitismus ist deshalb auch weitgehend gegen Aufklärung resistent“, was aber nicht als resignative Feststellung, sondern als Plädoyer für Prävention verstanden werden soll (S. 10). Charakteristisch für Judenfeindschaft sei „blinde Wut, Ausdruck von Paranoia und psychotischen Ängsten“ einer Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit. Die Hypothese ist, dass Antisemitismus meist nicht ein Angriff auf die Juden, sondern eine Verteidigung ist, eine Verteidigung des Selbstwertgefühls, der nationalen Identität, die durch die Erinnerung an den Holocaust oder anderes als bedroht wahrgenommen werden (S. 14f.). Benz unterscheidet vier Phänomene:
1) christlichen Antijudaismus, den hauptsächlich religiös motivierten, bereits im Mittelalter virulenten und heute nur noch selten anzutreffenden Antisemitismus;
2) den pseudowissenschaftlichen Rassenantisemitismus, der im Holocaust endete;
3) sekundärer Antisemitismus nach 1945, der latent auch nach dem Holocaust immer wieder auftaucht (darunter zählen zum Beispiel die Frage, wie lange die Deutschen noch Entschädigungszahlungen wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten zahlen müssen oder der Vorwurf, die Juden würden aus dem Holocaust noch politische oder wirtschaftliche Gewinne erzielen);
4) Antizionismus, wie er laut Benz z. B. in der Staatsräson war. Damit widerspricht Benz Abraham Melzer (Herausgeber der Zeitschrift „Der Semit“), der eine klare Trennung von Antisemitismus und Antizionismus zieht, wie ich früher dargestellt habe.
Benz sagt, dass eine Differenzierung nach Ausmaß des Antisemitismus geboten ist: manifester Antisemitismus (Attacken gegen Personen, Sachbeschädigungen …) versus latenter Antisemitismus (stillschweigendes Einverständnis über „die Juden“ im alltäglichen Gespräch, Meinungsumfragen, Leserbriefen, S. 19f.). Israelkritik an sich sei so legitim wie Kritik an jeder Politik; problematisch sei sie, wenn sie zum Ventil für antijüdische Emotionen wird. Eindeutig antisemitisch sei die Verweigerung des Existenzrechtes Israels (S. 24f.).
Dem Thema Israelkritik wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Problematisch an der Kritik der Grenzmauer im Westjordanland sei es, wenn man einseitig nur das Leid der Palästinenser durch diese Absperrung sieht und nicht den „Terror palästinensischer Guerillas und Selbstmordattentäter gegen ebenso unschuldige israelische Familien“ im Blick hat. Die Grenze der berechtigten zur antisemitischen Kritik wird überschritten, „wenn Vorurteile und Stereotype, die mit den zu kritisierenden Vorgängen nichts zu tun haben, weit über den Anlass hinaus zu Erklärung und Schuldzuweisung benützt werden. […] Antizionismus [wurde] zum Schlachtruf gegen Israel, der die Legalität der staatlichen Existenz bestreitet und sie rückgängig machen, die jüdischen Einwohner des Landes vertreiben will.“ (S. 203) Die Zusammenfassung lautet: „Erlaubt und selbstverständlich ist die kritische Bewertung jeder Politik, unerlaubt ist aber das Bestreiten des Existenzrechts eines Staates, das mit der Diffamierung seiner Bürger argumentiert.“ (S. 208) Im abschließenden Kapitel erklärt Benz, dass „Judenfeindschaft keine Reaktion auf jüdische Existenz ist, dass vielmehr Juden als Projektionsfläche benutzt werden für Probleme, Ängste, Sorgen der Mehrheit, für patriotische Projekte zur Stabilisierung des Selbstbewusstseins, zur Erklärung krisenhafter Erscheinungen, zur Zuweisung von Schuld […]. […] Judenfeindschaft ist zuerst und vor allem ein Symptom für Probleme in der Mehrheitsgesellschaft.“ (S. 241)
Nach all diesen Erläuterungen dürfte es schwer sein, den Antisemitismusvorwurf gegen die LINKE als Gesamtpartei aufrechtzuerhalten. Man soll das Parteimitglied nennen, dass das Existenzrecht Israels leugnet oder die Politik Israels kritisiert, nur um die Juden als Ganzes zu diffamieren. Ursprung der Israelkritik ist die Unterdrückung der Palästinenser, die Blockade des Gazastreifens, die eine Kollektivbestrafung aller dort lebenden Palästinenser ist. Alle Bewohner Gazas werden kollektiv für die illegalen Raketenbeschüsse der palästinensischen Terrorgruppen verantwortlich gemacht. Solidarität mit Palästina, wie sie in der Gazaflotille zum Ausdruck kommt, ist keine Herabwürdigung der Juden, sondern soll Kritik an der israelischen Politik darstellen, die die Menschenrechte der Palästinenser nicht ernst nimmt und dem Frieden im Nahen Osten keine Chance gibt. Natürlich war nicht jede Form des palästinensischen Widerstandes legitim und legal, doch beide Seiten müssen von ihren Maximalpositionen abrücken und gegenseitig die Existenz respektieren. Die Frage, ob die Gründung Israels 1948 eine gute Idee war, kann heute nicht mehr diskutiert werden. Israel ist ein Faktum und kein Linker fordert ernsthaft die Vertreibung der Israelis (die nicht alle Juden sind) aus dem heutigen Israel. Das ist mit der Forderung nach einer Ein-Staaten-Lösung auch nicht gemeint, wer dies behauptet, lügt, um den politischen Gegner zu diskreditieren.
Am 28.6. wurde Folgendes – in den Medien nicht wahrgenommenes – vom Parteivorstand beschlossen, was meine Ausführungen und die Definitionen von Benz bestätigt:
„Kritik an israelischer Regierungspolitik ist kein Antisemitismus. Die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE werden auch in Zukunft gegen jede Form von Antisemitismus in der Gesellschaft vorgehen. Rechtsextremismus und Antisemitismus haben in unserer Partei heute und niemals einen Platz. Die Fraktion DIE LINKE tritt daher entschieden gegen antisemitisches Gedankengut und rechtsextremistische Handlungen auf.
Die Mitglieder der Bundestagsfraktion erklären, bei all unserer Meinungsvielfalt und unter Hervorhebung des Beschlusses des Parteivorstandes gegen Antisemitismus vom 21.Mai 2011:
Wir werden als Linke weiterhin die Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern öffentlich kritisieren, wann immer dies wegen deren Völker- und Menschenrechtswidrigkeit notwendig ist. Das betrifft die israelische Besatzungspolitik, die Blockade gegenüber dem Gazastreifen und die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten ebenso wie die Weigerung der israelischen Regierung, konstruktiv an einer Zweistaatenlösung mitzuwirken, stattdessen diese zu erschweren.
Es ist nicht hinnehmbar, wenn einer derartigen Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnet wird. Wir werden nicht zulassen, dass Mitglieder unserer Fraktion und Partei öffentlich als Antisemiten denunziert werden, wenn sie eine solche Politik der israelischen Regierung kritisieren.
Die inflationäre Verwendung des Begriffs des Antisemitismus schadet dem Kampf gegen ihn. Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen.“
Warum man erst ein so einseitiges Pamphlet wie das vom 21. Mai veröffentlicht, wenn es auch ausgewogen wie hier geht, bleibt fraglich. Wahrscheinlich war das Papier vom 21. Mai eine Kurzschlusshandlung mit dem man (vergeblich) hoffte, vom bürgerlichen Mainstream und politischen Gegner verschont zu werden. Das Fazit der Debatte ist, dass wieder einmal unsolidarisch in und über die parteifeindlichen Medien übereinander diskutiert wurde, ohne die immensen politischen Schäden, den man bei (potenziellen) Parteianhängern zu bedenken. Vor allem, dass man allen Fraktionsmitgliedern bestimmte politische Meinungen verbieten will, wirft einen Schatten auf die Demokratievorstellungen der Partei (dies wurde seltsamerweise von den angeblich so demokratischen Medien und Parteien gar nicht kritisiert!). Das Bild einer zerrissenen Partei, die ihre gemeinsamen Positionen, die man mit dem Begriff Antikapitalismus fassen könnte, zu wenig betont, wurde prima bedient. Der bei der Fusion von WASG und PDS proklamierte Pluralismus und Respekt unter den unterschiedlichen Strömungen funktioniert zumindest bei manchen Führungskräften nicht. Die LINKE muss schleunigst zu ihrem Markenkern zurückkehren und sich mehr mit den sozialen Problemen und der Krise des Kapitalismus beschäftigen, sonst wird sie für viele ehemalige Wähler uninteressant.
Update 04.07.: Doch bald wieder Frieden im linken Haus? Zumindest in der Antisemitismus-/israeldebatte hat sich die Parteispitze auf ein ohne Gegenstimmen angenommenen Programmentwurfabschnitt zum Thema geeinigt. Demnach wird das Existenzrecht Israels anerkannt und im Nahostkonflikt eine Zweistaatenlösung angestrebt. Dass gleichzeitig drei Provinzpolitiker aus Brandenburg die Idee aufbringen, die Partei wieder in eine West- und Ostlinke zu spalten, zeugt von einer politischen Instinktlosigkeit und Dummheit, dass ich mir jeden weiteren Kommentar sparen möchte. (http://www.jungewelt.de/2011/07-04/027.php)
Quellen und lesenswerte Beiträge zur Debatte:
http://www.linksfraktion.de/positionspapiere/entschieden-gegen-antisemitismus-2011-06-07/
http://www.linksfraktion.de/positionspapiere/beschluss-fraktion-linke-28-juni-2011/
Wolfgang Benz (2008): Was ist Antisemitismus?. Bonn: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung.
Unter: http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/antisemitismus6.html findet man eine Arbeitsdefinition von Antisemitismus des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC), die auch Beispiele für antisemitisches Verhalten enthält.
http://www.jungewelt.de/2011/06-09/067.php?sstr=antisemitismus (Interview mit der Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte)
http://www.jungewelt.de/2011/06-10/027.php?sstr=antisemitismus
http://www.jungewelt.de/2011/06-11/049.php?sstr=antisemitismus (Moshe Zuckermanns ausführlicher Kommentar zum Maulkorberlass der Fraktion und der Antisemitismusstudie, die die Debatte auslöste)
http://www.jungewelt.de/2011/06-28/026.php?sstr=antisemitismus (Interview mit Tobias Pflüger, der sich nicht an den Beschluss vom 21. Mai halten will)