Das Jahr 2011 beinhaltete so viele politische Ereignisse, Katastrophen und Krisen, dass es schwerfällt, alle im Gedächtnis zu behalten. An dieser Stelle möchte ich aber nicht die Guttenberg-Plagiate, Fukushima oder die permanente Euro- bzw. Kapitalismuskrise Revue passieren lassen, sondern einen Rückblick auf die wichtigen Wahlen in Europa werfen. Welche politischen Kräfte konnten zulegen und welche schwächelten? Wie wird Europa im Jahr der größten Krise des Kapitalismus seit Jahrzehnten regiert?
23.01.: In Portugal wird der Konservative Aníbal Cavaco Silva von der oppositionellen Sozialdemokratischen Partei als Präsident im ersten Wahlgang bestätigt. Die regierenden Sozialisten und ihr vom Linksblock unterstützter Kandidat fallen durch.
21.02.: Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg kann die SPD überraschend eine absolute Mehrheit gewinnen, während die CDU mit Verlusten von 20,7 % ein Desaster erlebt. Die FDP dachte damals noch, es geht langsam wieder aufwärts, wo sie den letzten FDP-freien Landtag wiedererobert hatte. Grüne mit leichten Gewinnen, die LINKE stabil bei 6,4 %.
25.02.: Die Iren wählen ihre Regierung aus Fianna Fáil und Grünen ab und stärkten die kapitalismuskritischen Kräfte (Sinn Féin und United Left Alliance). Die neue Regierung bilden die konservative Fine Gael und die Labour Party.
06.03.: In Estland finden Parlamentswahlen statt. Die Mitte-rechts-Regierung wird im Amt bestätigt.
20.03.: Die wahlkampftechnisch langweilige Landtagswahl bestätigte im Wesentlichen die politische Landkarte Sachsen-Anhalts: Eine unkaputtbare CDU unter dem wenig charismatischen Haseloff bleibt stärkste Partei und darf allein deshalb weiterregieren, weil sich die Sozialdemokraten trotz der Möglichkeit einer progressiven rot-roten Koalition auf ewig mit den Bürgerlichen verbunden hat. Die LINKE stagniert und konnte ihr Wahlziel, stärkste Partei zu werden, nicht erreichen. Erfreulich verlief die Wahl für die Grünen, die auch dank Fukushima wieder in den Landtag kamen, wo sie die Plätze der gescheiterten FDP einnahmen.
27.03.: Gute Zeiten für die Grünen und schlechte für die FDP: Bei den Wahlen in Baden-Württemberg wird nach fast 60 Jahren CDU(-FDP)-Herrschaft erstmals ein Grüner Ministerpräsident. Die FDP erreicht in ihrem einstigen Stammland nur 5,3 %, in Rheinland-Pfalz nur 4,2 % (später hätte sie sich darüber sogar gefreut). Die SPD hat es geschafft, erstmals schlechter als die Grünen zu sein, kann aber das Stammrevier von Kurt Beck in Rheinland-Pfalz mit Hilfe der Grünen verteidigen. Die LINKE scheitert in beiden Ländern an der Sperrklausel, auch weil die organisatorische Basis in den eher konservativen Ländern noch zu schwach ist.
Bei den Kommunalwahlen in Hessen verbessert sich die LINKE um 1,7 % auf landesweit 2,7 %, stärkste Partei bleibt die CDU knapp vor der SPD. Die Grünen erreichen sensationelle 18,3 %.
17.04.: Bei den finnischen Parlamentswahlen können die europakritischen Populisten der „Wahren Finnen“ dramatische Gewinne erzielen (19,0 %) und werden drittstärkste Kraft. Alle anderen Parteien verlieren Stimmen, vor allem die bisherige Regierungspartei Finnische Zentrumspartei (15,8 %). Die linken Parteien kamen zusammen auf nur 35 %. Nach einer schwierigen Regierungsbildung.
02.05.: In Kanada wurden die politischen Verhältnisse auch relativ stark durcheinandergewirbelt: Die seit 100 Jahren das Land prägende Liberale Partei wurde nur noch drittstärkste Partei mit 18,9 % der Stimmen. Die regierenden Konservativen wurden mit 39,6 % bestätigt. Große Zugewinne erlangte die sozialistische Neue Demokratische Partei, die ihr Ergebnis von 18 auf 30,6 % verbessern konnte.
22.05.: Die Bürgerschaftswahlen in Bremen bestätigten die rot-grüne Landesregierung, wobei beide Parteien noch Stimmen hinzugewannen. Einbüßen (minus 5 %) musste die CDU, die nur noch 20,3 % der Stimmen gewinnen konnte. Die LINKE blieb mit 5,6 % drin, die FDP war über 2,4 % traurig.
22.05.: Bei den Regionalwahlen in Spanien erlebten die regierenden Sozialisten ein Desaster und bekamen die Quittung für ihr kapitalfreundliches Krisenmanagement. In Navarra wurde erstmals seit langer Zeit wieder ein linkes, für die Autonomie/Unabhängigkeit des Baskenlandes kämpfendes Parteienbündnis („Bildu“) zugelassen und erreichte 13,3 %. Die Vereinigte Liste von Kommunisten und Grünen legte um 0,6 bis 2,1 % zu.
08.06.: Die Wahl in Portugal zeigte die Widersprüche einer kapitalistischen Gesellschaft: Die regierenden Sozialisten, die auf Grund der Verweigerung der konservativen Opposition eines der vielen Sparpakete nicht durch das Parlament bringen konnten und deshalb Neuwahlen ausriefen, werden für Renten-, Lohnkürzungen und Privatisierungen radikal abgestraft, doch ebenso hohe Gewinne können die liberalkonservative PSD einfahren, die aber exakt die gleiche Austeritätspolitik wie ihre Vorgänger fortsetzen. Antikapitalistische Parteien stagnieren (die Kommunisten können ein Mandat gewinnen) oder verlieren (der Linksblock verliert die Hälfte seiner Mandate).
19.06.: In der Türkei hat Erdogans regierende AKP die Zweidrittelmehrheit verpasst, konnte aber ihren Stimmenanteil um 3,3 % erhöhen. Die oppositionellen Kemalisten (CHP) legte um 5,1 % zu und der kurdisch-sozialistische Block, der seine Kandidaten als Unabhängige ins Rennen schickte, konnte um zehn Mandate zulegen.
04.09.: Auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde ein neuer Landtag gewählt. Die SPD setzt ihre Erfolgsserie fort (plus 5,4 %) und kann mit der CDU (minus 5,8 %) die Große Koalition fortsetzen. Genau wie in Sachsen-Anhalt verzichtet sie damit auf die Möglichkeit einer Koalition mit den LINKEN, die sich um 1,1 % verbessern konnte. Die Grünen gelingt der Einzug ins letzte noch Grünen-freie Landesparlament, die FDP verliert erneut heftig und erreicht mit 2,8 % den vorläufigen Tiefpunkt. Bedauerlich ist der Wiedereinzug der NPD (6,0 %).
15.09.: In Dänemark war heute ein Festtag für die Linkskräfte: Das Bündnis aus Sozialdemokraten, Sozialliberale, Sozialistischer Volkspartei und Rot-Grüner-Einheitsliste erreichten 50,3 % aller Stimmen, wobei vor allem die Sozialliberalen (plus 4,4 %) und die Einheitsliste (plus 4,5 %) zulegen konnten. Größter Verlierer war die Konservative Partei (minus 5,5 %).
18.09.: In Berlin bleibt die SPPD mit 28,3 % stärkste Partei, kann aber die seit 2001 bestehende rot-rote Koalition nicht fortsetzen, da die LINKE noch mal 1,7 % verliert und nur auf 11,7 % der Stimmen kommt. Die CDU erreicht 23,3 % und bildet eine Große Koalition mit der SPD. Die Grünen (17,6 %) waren erster Gesprächspartner der SPD, wollte aber die A100 nicht so bauen wie die SPD. Große Aufmerksamkeit erregten der erste Einzug der Piraten (8,9 %) in ein Landesparlament und die deprimierenden 1,8 % der FDP.
18.09.: Bei der lettischen Parlamentswahl siegte die sozialdemokratisch ausgerichtete Partei der russischen Minderheit, wird aber von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Stattdessen schließen Liberale und Konservative ein Bündnis mit der rechtsextremen „Nationalen Vereinigung“.
12.10.: Die Polen bestätigen erstmals seit 1990 eine Regierung im Amt. Die rechtsliberale Bürgerplattform unter Tusk kann mit der Bauernpartei weiterregieren. Während die Demokratischen Linken weitere Stimmen verloren, gelang der neu gegründeten linksliberalen „Bewegung Palikots“ ein sehr gutes Ergebnis (10 %).
23.10.: Bei den Schweizer Parlamentswahlen haben alle vier Regierungsparteien nach Stimmen verloren, auch die rechtskonservative Schweizer Volkspartei (SVP), die aber stärkste Kraft bleibt. Die Sozialdemokraten konnten immerhin drei Sitze hinzugewinnen. Große Gewinner waren die SVP-Abspaltung Bürgerlich-Demokratische Partei und die Grünliberale Partei, die beide um neun Sitze zulegen konnten.
20.11.: Wie zu erwarten war, wurden die spanischen Sozialisten bei der vorgezogenen Parlamentswahl in die Opposition verwiesen, die Stimmenverluste betrugen über 15 %. Die konservative PP legte um 4,7 % zu und errang eine absolute Mehrheit. Große Gewinner waren zwei linke Parteien: Die Vereinigte Linke konnte neun Mandate dazu gewinnen, das baskische Linksbündnis Amaiur sieben Mandate.
04.12.: Bei den slowenischen Parlamentswahlen verlor die Mitte-links-Regierung ihre Mehrheit. Größte Fraktion wurde die neu gegründete Partei „Positives Slowenien“, die als linksliberal eingeschätzt wird. Die vormals regierenden Sozialdemokraten verloren 19 von 29 Mandaten.
04.12.: In Kroatien kam es ebenfalls zu einem Regierungswechsel. Die Listenverbindung „Kukuriku Koalition“ aus Sozialdemokraten, Liberalen und Pensionärspartei errang die absolute Mehrheit. Die konservative „Kroatische Demokratische Union“ verlor 16 ihrer 60 Mandate. Gut abgeschnitten hat die linkssozialistische Kroatische Arbeitspartei, die sechs Mandate gewann.
04.12.: In Russland wurde die Wahl wieder von Vorwürfen der Wahlfälschung überschattet. Wahlsieger war laut Wahlkommission Putins „Einiges Russland“, das seine Zweidrittelmehrheit aber klar und fast 15 % verlor. Alle Oppositionsparteien konnten zulegen, am stärksten die Kommunisten (plus 7,6 %) und die sozialdemokratische „Gerechtes Russland“ (plus 5,5 %). Liberale, prowestliche Parteien hatten keine Chance.
Am Ende des Jahres regierten in Europa (EU plus Kroatien und Norwegen) also folgende Parteienkonstellation (2. Zeile: Vgl. zu Ende 2010):
Konservativ: 7 (+2), Mitte-rechts: 10 (-3), Mitte-links 3 (+1), Sozialdemokr./Links: 3 (-2), Große Koalition 7 (+2)
Die Mitte-links-regierten Länder sind: Kroatien und Slowenien (wobei in Slowenien bald eine neue, eher rechte Regierung zu erwarten ist). Von Sozialdemokraten bzw. Linkssozialisten geführte Linksregierungen gibt es in Norwegen, Dänemark und Zypern. Damit bleiben die konservativ bzw. von Konservativen und Liberalen regierten Länder trotz der Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und der ihn legitimierenden Ideologie des Neoliberalismus in der Mehrheit. Als ein Ausweg aus der Krise erwiesen sich Regierungswechsel (ohne Wahlen) hin zu Technokratenkabinetten (Griechenland, Italien).