
Mit der vorzeitigen Ernennung von Peer Steinbrück zum Wunschkandidaten für das Kanzleramt hat die SPD erneut bewiesen, wie wenig belastbar ihr Rückgrat ist bzw. wie wenig man auf ihren Pläne und Versprechungen geben kann. Wollte die SPD ursprünglich am liebsten erst nach der Landtagswahl in Niedersachsen (20. Januar 2013) ihren Spitzenkandidaten bekannt geben, so einigte man sich erst vor Kurzem darauf, dass es im Dezember so weit sein sollte. Aus wenig nachvollziehbaren Gründen war es nun der vergangene Freitag geworden. Im Grunde ist der Zeitpunkt relativ egal, denn die heiße Wahlkampfphase beginnt so oder so erst im Sommer 2013; in dem Sinne ist das Theater, was die ungeduldige bürgerliche Presse aus diesem Thema machte, wieder einmal sinnfrei. Aber im Grunde – bei übertriebener Ernsthaftigkeit – könnte man schon davon sprechen, dass die SPD schon das erste Wahlversprechen gebrochen hat, nämlich über den Zeitpunkt der Kandidatenkür.
Aber das ist, wie gesagt, unwichtig. Wichtiger ist doch vielmehr, wofür der nun gekürte Kandidat politisch steht. Nur vorweg sei eins gesagt: Alle, die jetzt schon über Macht-, also Koalitionsoptionen sprechen und da feste Prognosen abgeben, haben von politischen Wahlen und Wahlkämpfen keine Ahnung. Alle Prognosen, die jetzt abgegeben werden, können jederzeit durch politische Ereignisse über Bord geworfen werden: Niemand weiß, wie sich die Eurokrise weiterentwickelt, ob die FDP in den Bundestag kommt, ob es die Piraten schaffen und welche Skandale vielleicht noch so enthüllt werden.
Peer Steinbrück ist der ehemalige Finanzminister unter der Großen Koalition, war Ministerpräsident in NRW (nach dem Rücktritt von Clement 2002) und verlor anschließend die nächste Wahl, war vorher auch Landesminister in NRW und Schleswig-Holstein. Außerdem ist er klarer Befürworter der Agenda-Politik von Schröder und somit ausgewiesener Parteirechter in der SPD. Das hat natürlich Auswirkungen: Wie im Freitag zurecht geschrieben wird, könnte sich dieser SPD-Kandidat als Stimmungsmacher für die LINKE erweisen, die neben ihm als echte linke Partei erscheinen kann (sofern sie klare antikapitalistische Kante zeigt, wovon man momentan ausgehen kann). Ob die LINKE wirklich wieder Ex-SPD-Stimmen einfangen kann, hängt natürlich davon ab, inwieweit sich Steinbrück glaubwürdig als Anwalt der „kleinen Leute“, als linkes Gewissen verkaufen kann. Er kann zwar behaupten, dass er die Finanzmärkte wieder an politische Ketten legen will (wobei da auf seine Ministertätigkeit unter Merkel verwiesen werden könnte, wo waren da die Regulierungsmaßnahmen?), und hoffen, dass es ihm die Mehrheit der potenziellen SPD-Anhänger glaubt. Aber klappt das auch bei sozialpolitischen Themen: Wie steht Steinbrück zur Rente mit 67, zu Hartz I bis IV (also Leiharbeit, Niedriglöhnen), Altersarmut? Welche familien- und bildungspolitischen Vorstellungen hat er? Oder Außenpolitik, darüber wird noch gar nicht geredet: Was wird aus Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen? Das würde man gerne wissen, auch wenn natürlich dafür noch Zeit ist.
Was erfahren wir stattdessen? Dass die SPD auch bezüglich der seit Langem in der deutschen Politik grassierenden „Ausschließeritis“ nichts gelernt hat. Kaum ein Tag vergeht seit der Kandidatenkür, und schon wissen wir, welche Koalition die SPD/Steinbrück nicht will. Als ob es nicht schon genug Wahlen gegeben hätte, wo die SPD vorher bestimmte Koalitionen ausgeschlossen hatte und nach der Wahl doch auf sie angewiesen war bzw. dadurch kaum noch Handlungsspielräume hatte (am bekanntesten ist das Beispiel Ypsilanti in Hessen 2008). Jedenfalls will Steinbrück kein Minister unter Merkel sein, d. h., wenn die SPD eine Große Koalition will (bzw. dazu gezwungen ist), dann dürfen das dann Steinmeier und Gabriel erledigen. Er schließt eine Koalition mit der LINKEN (Pflichtprogramm für einen echten sozialdemokratischen Spitzenfunktionär) und den Piraten aus. Er will den Sieg mit Rot-Grün, obwohl seit Jahren (vereinzelte Ausnahmen mal außen vor gelassen) die Umfragen keine rot-grüne Mehrheit garantieren. Interessanterweise hat er sich nicht zur FDP geäußert, was zusammen mit Kubickis Reaktion auf den Kandidaten Steinbrück doch Anlass gibt, auf eine mögliche Ampelkoalition zu spekulieren. Aber das setzt voraus, dass sich die FDP noch einmal erholt und die CDU nicht doch dank Merkel-Bonus ungeahnte Prozenthöhen um die 40 Prozent erklimmt. Und eine Ampelkoalition könnte die Spannungen in der SPD gewaltig anheizen, denn die Reste der SPD-Linken könnte sich im Falle dieser Koalition endgültig von der Partei verabschieden, was dann zwangsläufig auch eine solche Koalition wackelig machen und die SPD in die endgültige Bedeutungslosigkeit einer 15-Prozent-Partei bringen würde. Also so wahrscheinlich ist die Ampel auch nicht. Im Prinzip läuft vieles auf eine Große Koalition hinaus. Die Frage lautet nur, wer führt sie an, und da spricht leider viel für Merkel, deren Beliebtheit jedem geistig gesunden politischen Beobachter ratlos erscheinen muss, denn zeitgleich ist kaum jemand zufrieden mit der Regierung bzw. den darin beteiligten Regierungsakteuren und ihrer Politikvorschlägen sowie dem Regierungsstil insgesamt.
Die große Unwägbarkeit ist die Eurokrise: Wenn Sie doch noch Deutschland erreicht und am Jobwunder kratzt, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt einbrechen lässt, also wenn noch vor der Wahl endlich auch in Deutschland erkennbar wird, wie untauglich die bisherige Merkel-Politk zur Lösung dieser strukturellen Krise des Eurokapitalismus ist (in Südeuropa wissen es die Menschen schon jetzt), dann kann es auch für Merkel noch zu einem Desaster kommen. Bloß: Selbst dann ist nicht klar, ob dann die Stunde der rot-grünen Euroretter schlägt oder ob dann nicht die rechtskonservativen Deutschlandverteidiger von Henkels Freien Wählern profitieren werden. Denn SPD und Grüne haben doch im Zweifel immer die Grundrichtung von Merkels Europarettungspolitk gestützt.
Mit Steinbrück tut sich die SPD jedenfalls keinen Gefallen, von seinen (bisherigen) politischen Positionen her nicht, aber auch von seiner Persönlichkeit nicht (kein sympathischer Kumpeltyp). Aber auch mit dem Nominierungsverfahren ist der SPD kein demokratischer Akt gelungen, da erscheinen die Grünen mit ihrer Urwahl geradezu wie eine progressive Avantgarde. Warum hat die berüchtigte SPD-Troika bei ihrem Besuch von Hollande in Frankreich nicht gleich das dortige Verfahren zur Wahl des Präsidentschaftskandidaten übernommen?? Warum ist eine basisdemokratische Abstimmung über den Spitzenkandidaten nicht möglich, selbst die linkszentristische „Demokratische Partei“ in Italien oder die US-Parteien bekommt so etwas hin. Darüber kann man nur staunen, aber die noch linkere LINKE hat in der Beziehung auch nur spärliche Erfahrungen …
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