Die dauerkriselnde (was die Bundesebene betrifft) SPD hatte dieser Tage groß gefeiert: Am 23. Mai 1863 hatte sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter F. Lassalle in Leipzig gegründet. Warum feiert die SPD 150 Jahre später ihren Geburtstag? Diese Frage ist mehr als berechtigt, aber kein relevantes Medienorgan hat das wirklich hinterfragt. Die SPD von heute, aber auch die SPD von 1890 (als in Halle[!] der heutige Name beschlossen wurde) hat nur wenig mit ADAV zu tun. Der ADAV vertrat kein marxistisches Programm, hatte ein schwieriges Verhältnis zu Gewerkschaften und wollte mit Hilfe des Staates (des autoritären, antisozialistischen Kaiserstaates!) Produktivgenossenschaften gründen. Da Lassalle auf den Staat setze, war sein vorrangiges Ziel die Erkämpfung des allgemeinen, demokratischen Wahlrechts. Das mag nicht verkehrt gewesen sein, doch von revolutionärem Gesellschaftsumsturz war keine Rede. In diesem Sinne verwundert dann auch nicht, dass die heute durch und durch reformistische Sozialdemokratie sich auf den ADAV beruft. Historisch ist das m. E. aber nicht ganz korrekt, denn die SPD als vereinte Arbeiterpartei entstand erst 1875 in Gotha, wo sich ADAV und die 1866 von Marxisten (W. Liebknecht, A. Bebel) und bürgerlichen Radikaldemokraten gegründete Sächsische Volkspartei zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vereinigten. Daher wäre das 150-jährige Jubiläum der SPD, sofern sie da noch existiert, erst am 23. Mai 2025 zu feiern.
Doch diese historische Ungenauigkeit sei der SPD geschenkt, es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel ist zu fragen, ob der 150 Jahre SPD-Geschichte überhaupt ein Grund zum Feiern ist? Seit 1914 gilt eigentlich der Ausspruch: „Wer hat euch [Arbeiter] verraten? Sozialdemokraten?“ Kürzer lässt sich die Geschichte der SPD seit 1914 nicht zusammenfassen und etwas anderes lasse ich trotz einiger progressiver Elemente der Parteipolitik nicht gelten.
1928 verteilte die SPD im Wahlkampf SPD-Seife. Dazu reimte Julian Arendt:
Wir haben unsre Brüder
mit Wahlkampfseife bedacht.
Das tun wir das nächste Mal wieder;
es hat sich bezahlt gemacht.
Wir schlagen Schaum.
Wir seifen ein.
Wir waschen unsre Hände
Wieder rein.
Wir haben ihn gebilligt
den großen heiligen Krieg.
Wir haben Kredite bewilligt,
weil unser Gewissen schwieg.
Wir schlagen Schaum.
Wir seifen ein.
Wir waschen unsre Hände
Wieder rein.
Dann fiel’n wir auf die Beine
und wurden schwarz-rot-gold.
Die Revolution kam alleine;
wir haben sie nicht gewollt.
Wir schlagen Schaum.
Wir seifen ein.
Wir waschen unsre Hände
Wieder rein.
Wir haben die Revolte zertreten
und Ruhe war wieder im Land.
Das Blut von den roten Proleten,
das klebt noch an unsrer Hand.
Wir schlagen Schaum.
Wir seifen ein.
Wir waschen unsre Hände
Wieder rein.
Wir haben unsre Brüder
mit Wahlkampfseife bedacht.
Das tun wir das nächste Mal wieder;
es hat sich bezahlt gemacht.
Die Zustimmung zu den Kriegskrediten war ein Verrat am Internationalismus und Pazifismus der Arbeiterbewegung. Doch es kam noch schlimmer: Die durch diese Zustimmung verursachte Spaltung der Arbeiterbewegung in SPD und Spartakusbund/KPD (zeitweilig existierte daneben auch noch die USPD) wurde nach dem Krieg zementiert, indem die Novemberrevolution abgewürgt und damit die Errichtung einer Räterepublik und der Eroberung der Herrschaft durch die Arbeiterklasse wurde. In dieser revolutionären Situation war die SPD derart skrupellos, dass man es nicht scheute, mittels reaktionären Reichswehrkorps die KPD-Führer Luxemburg und Liebknecht, beides bis 1914 führende SPD-Mitglieder, zu ermorden. Ein Verbrechen ohne Gleichen (unter linken Genossen) – gab es dafür jemals eine Entschuldigung oder ein Schuldeingeständnis?
1933 war zur Abwechslung mal ein positiver Höhepunkt: Die SPD war die einzige Partei, die die Weimarer Republik unterstützt hatte und gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat (wobei die KPD auch gegen das Gesetz gestimmt hätte, wäre sie nicht wegen der ungerechtfertigten Verfolgung durch die Faschisten anlässlich des Reichtagsbrandes von der Sitzung ausgeschlossen gewesen). Doch das antifaschistische Engagement hat auch ein paar dunkle Flecken, wie Kurt Pätzold in der Jungen Welt (17.05.2013) zu berichten weiß. Warum haben sozialdemokratische Abgeordnete sich am 17. Mai 1933 Hitlers Rede zur Außenpolitik, eine einzige Lügenpropaganda vom friedliebenden „Nationalsozialismus“, angehört?
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die West-SPD unter Kurt Schumacher strikt antikommunistisch und beteiligte sich gern an der Adenauerschen Verfolgung von organisierten Kommunisten und zu linksradikalen Sozialdemokraten. 1959 wurde der Marxismus, der zuvor schon in der Tagespolitik keine Rolle mehr spielte, auch ideologisch beerdigt und dem Bernsteinschen „Revisionismus“ (besser: Opportunismus) freie Bahn gelassen. Seitdem versteckt die SPD ihre progressive Absicht unter dem Deckmäntelchen des „Demokratischen Sozialismus“. Einer kurzen Aufbruchphase unter Willy Brandt, die aber mit dem Radikalenerlass auch Schattenseiten enthielt, folgte mit Helmut Schmidt die endgültige Öffnung zum Neoliberalismus und der Abschied von sozialdemokratischer Politik im traditionellen Sinne.
Die Krönung der Rechtswende und Verbürgerlichung war natürlich die Kanzlerschaft von Schröder, der es schaffte, die CDU rechts zu überholen und mit der Agenda 2010 inkl. Hartz-Gesetze eine neoliberale Reform a la Thatcherismus durchzuboxen. Und die Basis der SPD? War sich nicht zu schade, die eigene sozialdemokratische Seele zu verraten, wobei viele Tausend Mitglieder anerkennenswerterweise Konsequenzen zogen und der Partei zurecht den Rücken kehrten, darunter Oskar Lafontaine, Ulrich Mauer und andere Mitbegründer der WASG. Schröder hat also noch einmal eine Art 1914 geschafft: noch eine Spaltung der SPD. Wobei angemerkt sein soll, dass auch Schmidt mit seiner Verteidigungs- und Nicht-Umweltpolitik es schaffte, der SPD mit den Grünen Konkurrenz im eigenen Lager zu verschaffen.
Von Schröder hat sich die Partei bis heute nicht erholt und sie will es auch nicht wirklich: Denn noch heute wird die Agenda 2010 gelobt, je nach Parteiflügel wird höchstens von Verbesserungsbedarf gesprochen. Kein Wort dazu, dass mittels Agendapolitik die soziale Spaltung der BRD so vertieft wurde wie nie zuvor, dass den Heuschrecken und dem deregulierten Finanzmarkt unter Rot-Grün die Tür nach Deutschland geöffnet wurde, dass zum ersten Mal seit 1945 wieder (völkerrechtswidriger) Krieg von Deutschland geführt wurde. Es ist völlig unbegreiflich, warum die Deutschen „Mutti“ Merkel so toll finden. Aber es ist mehr als nachvollziehbar, dass die SPD auch nach vier Jahren völlig vermurkster bürgerlicher Koalitionsregierung keine 30 Prozent in den beliebten Sonntagsumfragen bekommt. Wieso sollen die „einfachen Leute“, deren Anwalt die SPD schon lange nicht mehr ist, dem Schröder-Minister Steinbrück vertrauen, die Wiederherstellung des Sozialstaates zutrauen? Das ist nicht glaubwürdig.
Mit dieser Anti-Würdigung der SPD will ich den verbliebenen echten Sozialdemokraten in der Partei nicht zu nahe treten. Gerade im Arbeitnehmerflügel und unter den Jusos, gerade auch hier in Halle, gibt es sehr im linken Sinne engagierte Leute. Doch es muss festgehalten werden, dass die echten Sozialdemokraten (so wie es Ottmar Schreiner einer war) schon lange zur Minderheit in der Partei gehören. Es fehlt an Sozialdemokraten in der Sozialdemokratie! Wie diese Leute es noch in ihrer Partei aushalten, ist mir ein Rätsel. Wer sich für Arbeiter, Arbeitslose und andere sozial unterprivilegierte Schichten einsetzen will, sollte zur Linkspartei wechseln und deren Reihen verstärken. Hier kann man sich (noch) glaubwürdig für alte sozialdemokratische Werte einsetzen.
Zum Schluss noch einige literarische Bemerkungen von Kurt Tucholsky:
Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas – vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen. (Die Weltbühne, 19. Juli 1932, Seite 98)
Na, also ick bin ja eijentlich, bei Licht besehn, ein alter, jeiebter Sosjaldemokrat. Sehn Se mah, mein Vata war aktiva Untroffssier … da liecht die Disseplin in de Familie. Ja. Ick rin in de Vasammlung. Lauta klassenbewußte Arbeita wahn da: Fräser un Maschinenschlosser un denn ooch der alte Schweißer, der Rudi Breitscheid. Der is so lang, der kann aus de Dachrinne saufn. Det hat er aba nich jetan – er hat eine Rede jehalten. Währenddem dass die Leute schliefen, sahr ick zu ein Pachteigenossn, ick sahre: »Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht! – Sieh mal«, sachte der, »ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Ssahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn ’n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein … und denn ahms is Fackelssuch … es is alles so scheen einjeschaukelt«, sacht er. »Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!« Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen! (»Ein älterer, aber leicht besoffener Herr«, in: Die Weltbühne, 9. September 1930, Seite 405)
Quelle: http://www.jungewelt.de/2013/05-23/013.php
Weitere Beiträge zum 150. Geburtstag:
Georg Fülberth: Gerechtigkeit für die SPD (Junge Welt)
Werner Pirker: Dank des Vaterlandes
FAZ: Mehr SPD wagen
Cicero: Herkunft statt Zukunft
Themenseite der Süddeutschen Zeitung
WAZ: Wozu SPD? – Eine freche Frage der Hagener Genossen zum Geburtstag