Gab es in der griechisch-römischen Epoche ein Judentum? – Daniel Boyarin

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Daniel Boyarin meint, dass man den Judäern der Antike keine Religion im Sinne einer vom Staat losgelösten Institution zuschreiben kann und daher der Begriff Judentum für die vormoderne Sphäre abzulehnen ist, weil dieser suggeriere, dass man Religion von Staat, Politik, Wirtschaft etc. separieren und losgelöst betrachten könnte. Zur Beweisführung, dass es kein antikes Judentum gab, setzt er bei der Konversion an. Boyarin lehnt sich hierbei an Mason an, der die Konversion zu den Judäern überhaupt nicht religiös, sondern als ethnische Zugehörigkeit versteht. Normalerweise wurde man Mitglied eines Volkes oder eines Staates, indem man dessen Bürgerrechte erlangte, was meist ein teurer und langer Prozess war. Im Falle der Judäer musste man allerdings nur ihre Sitten und Gesetzte übernehmen, um Mitglied zu werden. Man leugnete also die Bräuche der eigenen Vorfahren und nahm die der Judäer an, womit man automatisch einen Ethnienwechsel vollzog. Dass dabei keine religiöse Konversion vorlag, zeigt Boyarin an Flavius Josephus, der in seinem Werk über den Jüdischen Krieg schreibt, dass viele Griechen an den Bräuchen der Judäer interessiert waren und durch deren Annahme in gewisser Hinsicht selbst wieder ein Stück jüdischen Volkstums wurden. Würde Josephus hier eine religiöse Konversion meinen, würde man nach Boyarin nicht nur in gewisser Hinsicht, sondern vollständig Teil der Gruppierung. Außerdem zeigt die Mehrzahl der Bräuche, dass es sich um keine gefestigte einheitliche Religion handelt. Folglich gab es kein antikes Judentum, zu dem man konvertieren konnte, womit die Frage entsteht, was dann mit dem griechischen Begriff Ioudaismos gemeint sein könnte. Boyarin spricht sich aus verschiedenen Gründen gegen eine Übersetzung mit dem Wort Judentum aus. Würde der Begriff für eine Religion oder für einen Komplex an Verhaltensweisen, der die Identität der Judäer zur Gänze beschreibt, stehen, wäre mit einer häufigen Verwendung zu rechnen, Ioudaismos ist hingegen nur siebenmal in judäischen Schriften und darüber hinaus überhaupt nicht belegt. Weiterhin handelt es sich bei Ioudaismos um ein Nomen, das von einem Verb abgeleitet wurde. Forscht man nach dessen Bedeutung, stößt man auf eine ganze Gruppe an Verben, die alle ähnliche Bedeutungen besitzen. So gibt es beispielsweise das Verb medizo, das übersetzt so viel bedeutet wie „sich wie ein Medäer verhalten“. Man könnte das zugehörige Verb von Ioudaismos also mit „sich wie ein Judäer verhalten“ übersetzen. Auffallend ist, dass diese Verben zumeist negativ konnotiert sind und sich an Personen richten, die eben nicht zu dem betreffenden Volk gehören. Medizo bezeichnet also keine Medäer sondern andere Menschen, die sich verhalten wie Medäer. Schaut man sich aber 2. Makkabäer 14,37 an, wird deutlich, dass die Judäer den Begriff anders verwenden. Hier wird beschrieben, dass ein Mann aufgrund seiner Gesinnung Vater der Juden genannt wurde, der Begriff wird also nicht wie medizo abfällig für Angehörige anderer Völker verwendet, sondern bedeutet eher den Judäern loyal gegenüberzustehen oder beschreibt ein Eifern nach der judäischen Lebensweise. Als Begriff für die Gesamtheit der judäischen Kultur lässt es sich aber nicht verstehen.

Paulus nutzt in den neutestamentlichen Schriften ebenfalls den Begriff Ioudaismos. So schreibt er beispielsweise in Galater 1,13-14, dass er im Ioudaismos weit fortgeschritten gewesen war. Er meint aber auch hier keine Institution oder dergleichen, sondern drückt nur seine Treue zum jüdischen Brauchtum aus. Dies wird auch daran deutlich, dass Paulus Petrus verurteilt, weil dieser nicht wie ein Judäer (Ioudaikos), sondern wie ein Fremder lebt. Damit, so Mason, würde Petrus die Fremden zwingen, sich zu judaisieren und folglich einer Kultur anzugehören, die Paulus mit Beschneidung und judäischen Gesetzen in Verbindung bringt. Es geht also wieder um eine ethnische Dimension und nicht um die Zugehörigkeit zu einer Institution. Paulus versteht sich zudem selbst zeitlebens als Jude, somit kann er Ioudaismos nicht mit der Bedeutung Judentum verwenden, da er sich sonst selbst davon ausschließen würde.

Losgelöst von den einzelnen Belegstellen, konstatiert Boyarin zudem, dass es ohne eine Bezeichnung auch kein Konzept geben könne, da sich also herauskristallisiert hat, das die einzelnen Belegstellen wohl keine feste Institution oder Religion betiteln, sondern nur das Brauchtum beschreiben, kann es folgend auch kein Konzept von Judentum geben.

Zuletzt geht Boyarin auch noch auf die bekanntesten jüdischen Autoren Philo und Flavius Josephus ein, um zu beweisen, dass auch diese kein antikes Judentum im Blick hatten. So zeigt er, dass Josephus judäische Gruppen wie die Pharisäer nicht als religiöse, sondern als Philosophenschulen begreift. er erwähnt auch nie das Judentum, sondern spricht immer von den Geboten der Vorväter, während die Thora bei ihm als Philosophie der heiligen Bücher beschrieben wird. Statt Ioudaismos benutzt Josephus das Wort Nomos, um die judäische Lebensweise zu beschreiben. Dieses Wort beschreibt aber auch keine alleinig religiöse Sphäre, sondern es beinhaltet Religiöses, Politisches, das Gesetz, die Staatsform, etc., ohne dass eine Konzeption aus diesem Cluster herauszulösen wäre. Zudem sieht er die Philosophien von Aristoteles und Platon auf derselben Ebene wie die Thora, auch wenn er postuliert, dass die Thora die bessere Gesetzgebung enthält. Das alles lässt Boyarin schlussfolgern, dass die Judäer sich eben nicht als losgelöste Entität betrachtet haben, sondern sich als Bestandteil der Völkerfamilie gesehen haben.

Zusammengefasst bedeutet das, dass es keine Evidenz für das Vorhandensein eines Judentums in der Antike gibt. Das Wort Ioudaismos kann mit Judentum nicht gleichgesetzt werden und stellt eher das Ideal einer judäischen Lebensweise dar, die sich aus unterschiedlichen Geboten und Bräuchen zusammensetzt, ohne eine Konzeption von Religion zu formen. Zuletzt zeigt vor allem Josephus, dass die Judäer sich noch nicht separiert haben.

Daniel Boyarin: Gab es in der griechisch römischen Epoche ein „Judentum“?

Daniel Boyarin macht in seinem Text auf mehreren Ebenen deutlich, dass in der Antike kein „Judentum“, weder als institutionell verfasste, noch als gedankliche von „Politik“, „Wirtschaft“ und „Gesetz“ unabhängige „Religion“ (moderne Vorstellungen), existierte. Auch mögliche kategorische Entsprechungen zum Begriff „Religion“ in der Zeit, wie „Frömmigkeit“ als „Verhältnis der Menschen zu den Göttern“, „Regeln“ oder „Bräuche“, die sich bspw. bei dem zur Damaligen Zeit sehr bekannten jüdisch-griechischen Schriftsteller Flavius Josephus finden, entsprechen nach Boyarin einem anderen „Religionskonzept“, das wir heute sogar als das Gegenteil von „Religion“ bezeichnen würden. Von „Judentum“ kann nach Boyarin erst nach dessen „Konzeptualisierung“ als „Judaismus“ in der Moderne gesprochen werden!

Boyarin erläutert dabei, dass der, häufig von unterschiedlichen Verfechtern einer vermeintlichen „antiken Religionsform des Judentums“ angeführte, griechische Begriff „Iuodaismos“, der von deren Verfechtern entsprechend mit „Judentum“ übersetzt wird, eigentlich ein Verbalnomen ist, das nur sieben mal in antiken Aufzeichnungen vorkommt. (2. Buch der Makkabäer, im Galaterbrief bei Paulus, sowie in zwei Inschriften). Es wird von Iuodaizo: „sich wie ein Judäer verhalten“ abgeleitet und ist nach Boyarin als „Judaisieren“ oder „Jüdischsein“ „nach judäisch/jüdischen Bräuchen leben“ zu übersetzen und zu verstehen. „Iuodaismos“ ist im Sinne eines politischen und kulturellen Lebens gemeint und bezeichnet keine katalogisierte Gesamtheit des judäischen Brauchtums!

Dass dieser Begriff so selten in antiken jüdischen Quellen vorkommt, ist für Boyarin zudem ein Beleg, dass es sich dabei nicht um eine „allgemeingültige zusammenfassende Abstraktion, Synthese oder Institution“, im Sinne eines „modernen Judentums“ handelt. Iuodaismos ist im 2. Makkabäerbuch als Rückbildung des geläufigeren Begriffs „Hellenismos“: „sich wie eine Grieche verhalten“ zu verstehen, das von Juden dazu verwendet wurde „hellenesierende Abtrünigkeit“ zu beschreiben und demgegenüber die „judaisierende Loyalität gegenüber dem Judäischen“ als Iuodaismos zu bezeichnen.

Boyarin zeigt dabei auch, dass Paulus im Galaterbrief Ioudaismos als „das Gehören zu einer Kulturbewegung“ versteht, die er mit Beschneidung und der Beachtung der jüdischen Gesetze verbindet und somit eine Praxis und keine Institution meint. Als weiteres Argument führt Boyarin an, dass sich Paulus sein leben Lang als Jude verstand, wenn er aber mit „Ioudaismos“ die Gesamtheit des jüdischen Brauchtums, des judäischen Glaubens oder die jüdische Religion gemeint, hätte, hätte er sich davon ausgeschlossen. Demzufolge muss „Iuodaismos“ bei Paulus nach Boyarins Ansicht „sich (mit Eifer) der Praxis (der Tradition der Vorväter) der Judäer hingeben,“ bedeuten.

Boyarin gibt darüber hinaus durch die Rezeption der Schrift „Gegen Apion“ von Flavius Josephus auch Einblicke in das antike judäisch/jüdische Selbstverständnis als „Genos“ und „Ethnos“. Diese Selbstverständnis richtet sich nach den Traditionen der Vorfahren, begreift sich allerdings nicht als singuläre Gemeinschaft! Boyarin führt hierzu u.a. an, dass es sogar möglich war durch das aufgeben der „heidnischen“ Tradition der Vorväter (Identitätsmerkmale) und die Übernahme der Traditionen der „Judäischen Vorväter“, im Sinne eines „Ethnienwechsels“, (nicht allein durch eine „Konversion“ zur vermeintlichen antiken „Religion Judentum“) Judäer zu werden.

Dabei kommt Boyarin durch das Fehlen des Begriffs „Iuodaismos“ bei Flavius Josephus und durch die Erklärung Josephus zur den Traditionen der Vorväter zu dem Schluss, dass die Juden/Judäer der Antike kein singuläres Selbstverständnis als Volk hatten, dass sich von dem anderer Völker als „separater Genus“ abhebt, sondern sie Griechen Assyrer Römer und Skyten ebenso zu diesem Genus zählten und sie sich als Teil einer „Völkerfamilie“ betrachteten.

Besonders eindrücklich zeigt Boyarin auf, dass moderne Abstraktionen wie „Gesetz“, „Politik“, und „Religion“ keine hilfreichen analytischen Kategorien für die Antike sind. Dazu verweist er darauf dass Josephus die Ideen, Gedanken und Ideologien der Tora analog zu seinem griechischen Umfeld als „Philosophien der heiligen Bücher“ verstand und entsprechend kein Problem damit hatte die Pharisäer, Sadduzäer, Essener als „philosophische Schulen“ zu bezeichnen. Auch die Nomoi („Gesetze“ bei den Juden „die der Tora“) werden von Josephus als „Regeln/Bräuche der Vorväter“ bezeichnet und wie eine „Verfassung“, wie in den griechischen Stadtstaaten verstanden, mit dem Unterschied, dass sie nicht wie sonst in Griechenland üblich als „Geheimlehren“ nur einigen wenigen zugänglich sind, oder nur in Wort oder nur in Tat vermittelt werden, sondern auf beide Weisen zur gesamten Gemeinschaft kommen. (von Marcus Kobert)

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