Abstracts 2/2014 deutsch

Schmidt-Jortzig, Edzard: Materielle Grundlagen für die parlamentarische Mandatsarbeit. Zu den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts.

Die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Unabhängige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts hatte auftragsgemäß das Rechts- beziehungsweise Statusverhältnis der Bundestagsabgeordneten aufzuarbeiten und dabei insbesondere deren Mandatsausstattung im Auge gehabt. Die seither vom Gesetzgeber erstaunlich weitgehend umgesetzten Empfehlungen der Kommission können in sieben Empfehlungen gebündelt werden: (1) Die Entschädigung der Abgeordneten muss der Stellung der Bundestagsabgeordneten als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft sowie der Stellung des Parlaments im Verfassungsgefüge entsprechen. (2) Als Ausgangsgröße für die Grundentschädigung eines Bundestagsabgeordneten erscheinen nach wie vor die Bezüge eines Richters an einem obersten Gerichtshof des Bundes am besten geeignet. (3) Die laufende Anpassung der Grundentschädigung soll dem jährlich vom Statistischen Bundesamt errechneten und dem Bundestag übermittelten Nominallohnindex und damit der Verdienstentwicklung der abhängig Beschäftigten folgen. (4) Zur Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten und ihrer wirtschaftlichen Existenz muss es auch ein finanziell hinreichend ausgestattetes Alterssicherungssystem geben. (5) Die Anrechnung von Renten auf die Abgeordnetenbezüge sollte so geändert werden, dass sich ein prozentual niedrigeres Ruhen des Anspruchs auf eine Rente ergibt. Außerdem sollten Bund und Länder über die Anrechnung von Renten hinaus das Verhältnis der bundes- und landesrechtlichen Anrechnungsvorschriften harmonisieren. (6) Die Kostenpauschale soll unverändert beibehalten werden. (7) In das Abgeordnetengesetz sollten eine Funktionsvergütung für Ausschussvorsitzende sowie die grundsätzliche Zulässigkeit der Zahlung von Funktionsvergütungen an Inhaber von Fraktionsämtern aus Fraktionsmitteln aufgenommen werden. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 247 – 257]

 

Welti, Felix: Die Alterssicherung der Bundestagsabgeordneten. Der Bericht der Unabhängigen Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts und die Reform 2014.

Bundestagsabgeordnete (MdB) haben seit 1968 Anspruch auf eine eigenständige Leistung der Alterssicherung, die seit 1977 beamtenähnlich ausgestaltet ist. Die 2011 eingesetzte Unabhängige Kommission Abgeordnetenrecht (UKA) hatte unter anderem den Auftrag, Vorschläge für die zukünftige Alterssicherung zu entwickeln. Ausgangspunkt ist das Gebot einer angemessenen und die Unabhängigkeit sichernden Entschädigung (Art. 48 Abs. 3 GG). Die UKA hat den Spielraum des Gesetzgebers betont, über die angemessene Entschädigung und Alterssicherung der MdB zu entscheiden. Die UKA hat drei Optionen vorgestellt, die die Kommission einhellig für verfassungsgemäße Alternativen hielt: (1) die modifizierte Beibehaltung des bestehenden Systems, (2) ein „Bausteinmodell“ mit Rentenversicherungspflicht und Zusatzversorgung und (3) die vollständige Eigenvorsorge. Der Bundestag hat sich 2014 nach sehr kurzer Diskussion dafür entschieden, das bestehende System beizubehalten und die Möglichkeit eines frühzeitigen Ruhestands für MdB einzuschränken. Eine Diskussion über die Struktur der Alterssicherung wurde kaum geführt und sollte nachgeholt werden. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 258 – 269]

 

Austermann, Philipp: Die Entwicklung der Entschädigung und der reisebezogenen Ansprüche im deutschen Abgeordnetenrecht.

Die Mitglieder des Deutschen Bundestages und der Landesparlamente erhalten ein Einkommen aufgrund des Mandats, die so genannten Diäten. Daneben haben sie Anspruch auf eine je nach Parlament unterschiedliche so genannte Amtsausstattung. Diese umfasst finanzielle und Sachleistungen. Deutsche Abgeordnete besitzen in der Regel eine Freifahrtberechtigung und/oder ein Recht auf Reisekostenersatz. Die Entwicklung der finanziellen Leistungen an Abgeordnete vom Kaiserreich bis heute zeigt anschaulich, wie sehr die Abgeordnetentätigkeit von 1949 bis heute zum Vollzeitberuf geworden ist. Ein angemessenes Einkommen und eine entsprechende Amtsausstattung der Abgeordneten sind unverzichtbare Voraussetzungen wirklicher Demokratie und erfolgreicher parlamentarischer Repräsentation. Sie ermöglichen, dass jedermann am Staatsgeschehen teilhaben kann, und sichern die für moderne Gesellschaften unumgängliche Professionalität des Mandats. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 270 – 282]

 

Patzelt, Werner J.: Unerfreuliche Einblicke in Tiefenschichten deutscher Parlamentswahrnehmung: Die Kritik an den Vorschlägen der Unabhängigen Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts.

Von der Unabhängigen Kommission wurden Vorschläge für eine Neuregelung der Einkünfte von Bundestagsabgeordneten erwartet. Von einer großen Mehrheit der Parlamentarier begrüßt, zogen die Kommissionsvorschläge seitens der Öffentlichkeit heftige Reaktionen auf sich. Dokumentiert in Zeitungsartikeln, Leserbriefen und Weblogs, eröffnen diese Reaktionen erhellende Einblicke in die Tiefenstrukturen deutscher Parlamentswahrnehmung. Die Befunde und die bekannte populäre Parlamentskritik in Deutschland legen einmal mehr die Einsicht nahe, dass nicht das politisches System und auch nicht die Politiker der Schwachpunkt unserer Demokratie sind, sondern populäre Missverständnisse und Vorurteile, die das parlamentarische Regierungssystem samt den Abgeordneten recht anders erscheinen lassen, als es tatsächlich ist. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 282 – 307]

 

Jutzi, Siegfried: Funktionszulagen für Parlamentarische Geschäftsführer. Zum Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts vom 30. September 2013.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG müssen so genannte Funktionszulagen an Abgeordnete auf besonders hervorgehobene parlamentarische Funktionen wie den Parlamentspräsidenten, seine Stellvertreter und die Fraktionsvorsitzenden beschränkt bleiben. Andere wichtige parlamentarische Funktionen, wie zum Beispiel die eines Parlamentarischen Geschäftsführers, sind danach ausgeschlossen. Das Urteil ist im wissenschaftlichen Schrifttum weithin auf Kritik gestoßen, vor allem weil es den parlamentarischen Notwendigkeiten der verschiedenen Parlamente nicht genügend Rechnung trage. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des BVerfG hat das Schleswig-Holsteiner Landesverfassungsgericht mit beachtlichen Argumenten entschieden, eine besondere Vergütung der Funktion Parlamentarischer Geschäftsführer beeinträchtige nicht unangemessen die grundsätzliche Gleichheit der Abgeordneten, weil sie die infolge der Übernahme der Funktion eintretende Beschränkung der Mandatsausübung kompensiere. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 307 – 314]

 

Oberreuter, Heinrich: Von der Affäre zur Reform. Wandlungen des Abgeordnetenrechts in Bayern.

Aufgrund der so genannten „Verwandtenaffäre“ 2013 hat der Bayerische Landtag wesentliche Bereiche des Abgeordnetenrechts restriktiven Reformen unterzogen. Bei Arbeits-, Dienst- und Werkverträgen für Assistenz gibt es nun zwingende Vorschriften zur Vorlage von Belegen und Qualifikationsnachweisen sowie die Bewirtschaftung der Mittel durch das Landtagsamt. Erheblich verschärft wurden in den Verhaltensregeln die Anzeige- und Publikationspflichten für entgeltliche Tätigkeiten, Beteiligungen und Spenden. War hier der Bundestag Modell, so verleiht das nunmehr geltende Verbot der Beschäftigung von Verwandten bis zum 4. Grad als Mitarbeiter dem Landtag eine Sonderstellung. Umgekehrt hat er bei der Indexierung der Diäten für den Bundestag Modell gestanden. Die erhebliche, überwiegend wenig sachkundige Kritik verursachende Affäre selbst war allerdings ein Missverständnis. Denn die 2000 eingeführte Übergangsregelung, nach der damals bestehende Verträge vom Verbot der Beschäftigung von Verwandten (1. Grades!) aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht betroffen waren, bestand rechtlich bis zum Zeitpunkt der Reform von 2013 fort. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 314 – 326]

 

Schultze, Rainer-Olaf: Die bayerische Landtagswahl vom 15. September 2013: Bund und Land Hand in Hand.

Bei der Landtagswahl vom September 2013 wetzten Horst Seehofer und die CSU die Scharte der drastischen Verluste von 2008 wieder aus: Sie gewannen mit 47,7 Prozent der Stimmen die absolute Mandatsmehrheit und stellen nach nur fünfjähriger Koalitionsepisode neuerlich die Alleinregierung im Lande. Dafür verantwortlich waren verschiedene Faktoren, von denen sämtlich die CSU profitierte: (1) Die neuerlich akzentuierte sozial wie kulturell begründete Asymmetrie in der bayerischen Wählerlandschaft zugunsten der CSU. (2) Der verglichen mit den anderen Bundesländern komparative Vorteil der bayerischen Wirtschaftsleistung. (3) Eine in Stil wie Inhalt gewandelte Regierungspolitik, die stärker als zuvor auf die Interessen und Forderungen der Bürger einging. (4) Vor allem aber der bundespolitische Kontext und ein seitens der CSU ganz bewusst geführter „Verbundwahlkampf“, indem die Partei ihre bundespolitische Agenda erfolgreich in den Mittelpunkt des Landtagswahlkampfes rückte. Dadurch nahm sie den landespolitisch zentrierten Wahlstrategien der drei oppositionellen Parlamentsparteien den Wind aus den Segeln, die sich allerdings auch nicht auf eine gemeinsame Alternativstrategie zu verständigen vermochten. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 326 – 348]

 

Faas, Thorsten: Die hessische Landtagswahl vom 22. September 2013: Schwarz-grüne „hessische Verhältnisse“.

Obwohl Hessen nach der Wahl 2009 das Interregnum hessischer Verhältnisse verließ und zu einer lagerbasierten schwarz-gelben Regierung zurückkehrte, war die Wahlperiode turbulent. Volker Bouffier wurde Ministerpräsident, nachdem Roland Koch nach über zehn Jahren sein Amt niederlegte. Die Landtagswahl 2013 fand am 22. September zeitgleich zur Bundestagswahl statt. Landespolitische Akzente waren in der Folge rar. Allerdings sind Koalitionsfragen in Hessen immer von besonderer Relevanz: So gab es zwar weiterhin mit Rot-Grün beziehungsweise Schwarz-Gelb Wunschkoalitionen vor der Wahl, aber zugleich auch eine Offenheit für andere Konstellationen. Die Wahl gewann die Union deutlich; die SPD konnte nach ihrem desaströsen Ergebnis 2009 um sieben Prozentpunkte zulegen. Die Grünen erzielten 11,1 sowie FDP und Linke knapp über fünf Prozent. Infolge der Zusammenlegung von Landtags- und Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung mit 73,2 Prozent um 12,2 Prozentpunkte höher als bei der Wahl zuvor. Das Wahlergebnis verschaffte keiner Wunschkoalition eine Mehrheit, daher folgte eine lange Phase von Sondierungsgesprächen. Letztlich entschied sich die Union, den Grünen Koalitionsverhandlungen anzubieten, die dieses Angebot annahmen. Nach zügig abgeschlossenen Verhandlungen, wurde im Januar 2014 Bouffier in seinem Amt bestätigt, nun an der Spitze einer schwarz-grünen Regierung. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 349 – 365]

 

Koschmieder, Carsten: Klarmachen zum Ändern? Die Piratenfraktion nach zwei Jahren im Berliner Abgeordnetenhaus.

Die Piratenpartei wollte nach ihrem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus viele Dinge „anders“ machen als die etablierten Parteien, insbesondere in den Bereichen Transparenz, Basisbeteiligung, hierarchiefreie Organisation und Fraktionsdisziplin. Tatsächlich begann die Piratenfraktion nach einer schwierigen Einarbeitungsphase mit der Umsetzung ihrer Ideen. Nach mittlerweile zwei Jahren im Abgeordnetenhaus hat sie von einigen Neuerungen aber wieder Abstand genommen. Zur Herstellung der Transparenz sind viele Dokumente, Termine und die Nebeneinkünfte der Abgeordneten für Interessierte einsehbar, die Öffentlichkeit wird aber aus den Fraktionssitzungen heute schneller ausgeschlossen als zu Beginn der Legislaturperiode. Der Wille einer sich in abnehmendem Maße einbringenden Parteibasis spielt inzwischen eine wesentlich geringere Rolle für die professionalisierten Abgeordneten. Die hierarchiefreie Organisation hat die Fraktion bisher auch gegen Versuche des Vorstandes, seinen Einfluss zu vergrößern, verteidigen können. Allerdings haben sich informelle Hierarchien unter den Abgeordneten ebenso herausgebildet wie eine faktische Fraktionsdisziplin, da die Parlamentarier heute in der Regel ihren Fachkollegen folgen. Doch obwohl sich die Piratenfraktion also von etlichen Neuerungen verabschiedet hat, bleibt sie in vielen Punkten „anders“. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 365 – 382]

 

Bullwinkel, Bastian und Lothar Probst: Innerparteiliche Willensbildung und Entscheidungsprozesse durch digitale Partizipation. Ein Praxistest des Konzepts der Liquid Democracy.

Sowohl in Berlin als auch in Nordrhein-Westfalen nutzt die Piratenpartei auf Landes- und Fraktionsebene das Internet zur Umsetzung einer innerparteilichen Liquid Democracy. Dadurch sollen möglichst viele Parteimitglieder die Gelegenheit erhalten, in die Willensbildung und die Entscheidungsprozesse innerhalb der Partei einzugreifen. Gleichzeitig sollen die Entscheidungen von Landesvorstand und Fraktion an den Willen der Basis geknüpft werden. Als zentrales digitales Instrument wird dabei LiquidFeedback genutzt. Die Analyse ausgewählter Fallbeispiele zeigt jedoch eine erhebliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der praktischen Umsetzung von Liquid Democracy innerhalb der Piratenpartei. Im Ergebnis beteiligen sich trotz der eigentlich niedrigschwelligen Hürden weniger Mitglieder an innerparteilichen Entscheidungen über das Internet als auf den Parteitagen. Die Abstimmungsergebnisse haben zudem länder- und institutionsübergreifend wenig Einfluss auf die letztendlichen Entscheidungen. Der Anspruch, den die Piratenpartei im Hinblick auf die innerparteiliche Beteiligungsdemokratie durch die Umsetzung einer Liquid Democracy und Nutzung von LiquidFeedback erhebt, wird insofern kaum eingelöst. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 382 – 401]

 

Steinberg, Rudolf: Direkte Demokratie in politischen Parteien. Überlegungen anlässlich des Mitgliederentscheids der SPD.

Der Mitgliederentscheid der SPD zum Koalitionsvertrag gibt Anlass über dieses Instrument innerparteilicher Demokratie nachzudenken. Auch wenn nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2013 verfassungsrechtliche Zweifel überzeugend ausgeräumt wurden, stellen klare verfahrensrechtliche Regelungen im Parteiengesetz ein Desideratum dar. Wichtiger erscheint jedoch die Beantwortung der verfassungspolitischen Frage nach der Zweckmäßigkeit von Plebisziten der Parteien. Angesichts der vielbeklagten Schwäche innerparteilicher Demokratie könnten Instrumente direkter Demokratie in den Parteien einen Beitrag zu einer stärkeren Einbindung der Mitglieder schaffen. Es sollte jedoch auch erwogen werden, den Kreis der Mitwirkungsberechtigten über die Mitgliedschaft hinaus zu erweitern. So ließe sich die Rolle der Parteien als „Sprachrohr des Volkes“ und nicht nur der Parteifunktionäre oder der geschrumpften Mitgliederbasis stärken. Ein Blick auf die Vorwahlen der letzten Präsidentenwahl in Frankreich mag da hilfreich sein. Die Eröffnung von Verfahren direkter Demokratie in den Parteien vermöchte schließlich ein Ventil für „die super-repräsentative Verfassung“ (Ernst Fraenkel) des Grundgesetzes zu schaffen. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 402 – 415]

 

Oswald, Michael: Verbot trotz Bedeutungslosigkeit? Die NPD, ihre Strategie und die Erfolgsaussichten des neuen Verbotsantrags.

Der Antrag zum zweiten Verbotsverfahren der NPD wurde eingereicht. Dieser sollte so verfasst werden, dass er juristisch ‚wasserdicht‘ ist und die Probleme des ersten Verfahrens umgeht. Er erweist sich jedoch aus politikwissenschaftlicher Sicht als zweischneidiges Schwert, indem er lediglich ein tieferliegendes Problem kaschiert: Einerseits ist die Partei faktisch stigmatisiert und marginalisiert – sogar in der rechten Szene. Sie hat viele Unterstützer verloren und kann keines ihrer strategischen Ziele umsetzen; diese waren schlicht nicht miteinander vereinbar. Der Versuch einer Gratwanderung zwischen Annäherung an die politische Mitte und Inklusion der extremen Rechten kostete der Partei nicht nur den Rückhalt in jener Szene, sondern verfehlte auch sein Ziel, die Mitte der Gesellschaft zu erreichen. Andererseits stellt sich die Frage, welche Form der Demokratie in Deutschland gelebt werden soll: Ist der nonkontroverse Sektor durch das Verbot schon vor gedanklicher Bedrohung zu schützen, oder geht es darum, einen gesellschaftlichen Missstand mit jenen 5.000 Rechtsextremen aus der Welt zu schaffen, die in der NPD Mitglied sind? Das BVerfG wird mit seiner Antwort auf diese Frage einen Maßstab setzen, der in den nächsten Jahrzehnten die Politische Kultur beeinflussen wird. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 440 – 460]

 

Edinger, Florian: Verfassungsmäßigkeit der Befreiung des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) von der Fünf-Prozent-Klausel. Zum Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts vom 13. September 2013.

In Schleswig-Holstein bildet die Partei der dänischen Minderheit, der SSW, zusammen mit SPD und Grünen die Regierungskoalition. Der SSW erhielt zwar nur 4,6 Prozent der Stimmen, ist aber von der Fünf-Prozent-Klausel befreit und deshalb im Landtag vertreten. Das Landesverfassungsgericht stellte in einer Entscheidung zur besonderen Rolle des SSW klar, dass zum einen die Fünf-Prozent-Klausel mit der Landesverfassung vereinbar ist, zum anderen, dass die Partei der dänischen Minderheit davon ausgenommen ist. Die Ausnahme diene der Integration der dänischen Minderheit in den demokratischen Prozess. Dazu gehöre es, dass sich ihre Partei nicht nur auf die Anliegen der dänischen Minderheit beschränke, sondern wie jede andere Partei agiere und sich auch an der Regierung beteilige. Die gut begründete Entscheidung führt die bisherige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung fort und sollte die Diskussion um die politische Rolle der dänischen Minderheit und ihrer Partei endgültig beenden. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 460 – 464]

 

Haug, Volker M.: Muss wirklich jeder ins Europäische Parlament? Kritische Anmerkungen zur Sperrklausel-Rechtsprechung aus Karlsruhe

Die Sperrklausel-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Europawahlrecht wird weder der Aufgabe des Wahlrechts zur Schaffung einer funktions- und handlungsstarken Volksvertretung gerecht, noch entspricht sie – insbesondere durch die mehrfach auffällig national-exklusive Sichtweise – der Europafreundlichkeit des GG. Außerdem würdigt sie die Bedeutung des EP als demokratisch unmittelbar legitimiertes Integrations- und Repräsentationsorgan von rund einer halben Milliarde Menschen unzureichend. Gleichzeitig zeigt das Gericht ein unpolitisches Verständnis der Arbeitsweise des EP und seiner Fraktionen. Schließlich nimmt der Senat wenig Rücksicht auf die frühere Rechtsprechung des Gerichts und auf die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, dessen Interessen- und Motivationslage einseitig negativ dargestellt wird. Der Senat nimmt seine Interpretationshoheit bezüglich des Grundgesetzes hier in einem derart extensiven Maße wahr, dass er sich mehr als politischer Akteur denn als kontrollierendes Gericht betätigt. [ZParl, 45. Jg., H. 2, S. 467 – 489]

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