Abstracts 4/2008 deutsch

Krumm, Thomas: Konkordanzdemokratie unter Konkurrenzdruck. Zu den Parlamentswahlen in der Schweiz vom 21. Oktober 2007.
Durch den eindrucksvollen Aufstieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) auf dem einen sowie der Grünen und Sozialdemokraten auf dem anderen Ende des politischen Spektrums der Schweizer Parteienlandschaft seit den 1990er Jahren (Bipolarisierung) ist zumindest auf symbolisch-rhetorischer Ebene auch ein erheblicher Druck auf die etablierten Instrumente der Konkordanzdemokratie entstanden. Bei der vorletzten Wahl 2003 konnte dies noch durch eine Veränderung der Zauberformel zugunsten der SVP aufgefangen werden. Jedoch ist bis heute die Frage einer grünen Regierungsbeteiligung offen. Mit der nunmehr erfolgten Abwahl des umstrittenen SVP-Bundesrates Christoph Blocher und dem angekündigten „Gang in die Opposition“ ist eine neue Qualität der Auseinandersetzung erreicht. Allerdings zeigen sich die bislang praktizierten konkordanten Politikformen als erstaunlich stabil und anpassungsfähig. Dennoch wird sich die Schweiz in Zukunft der Herausforderung von mehr Mehrheitsdemokratie stellen müssen. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 683 ff.]

Kropp, Sabine, Benedikt Giesbers, Nicole Höhmann, Laura Möllers und Matthias Ruschke: Demokratiequalität im „Ermessen“ der Forschung. Der Vanhanen-Index im Labor der deutschen Länder und Schweizer Kantone.
Die Autoren untersuchen die Demokratiequalität der Schweizer Kantone und der deutschen Länder im Zeitraum von 1990 bis 2006 in jährlichen Messungen. Angesichts der großen Fallzahl wurde hierfür der Vanhanen-Index herangezogen, der ausschließlich statistische Kennziffern verwendet. Die Ergebnisse verblüffen auf den ersten Blick: Während die deutschen Länder ohne Ausnahme als Demokratien ausgewiesen werden, gibt es dem Index zufolge autokratische Enklaven in der Schweiz. Der Vergleich zwischen den konkordanzdemokratisch-plebiszitären Kantonen und den mehrheitsdemokratisch-repräsentativen Bundesländern verdeutlicht, wie sensibel das Messinstrument auf Klassifikationsentscheidungen und erforderliche subjektive Festlegungen des Forschers reagiert: Demokratien lassen sich durch geringfügige Veränderungen in Autokratien verwandeln und umgekehrt. Diese Befunde vertiefen nicht nur bestehende Zweifel am Vanhanen-Index, sondern legen es nahe, auch andere Instrumente der Demokratiemessung im Labor des gliedstaatlichen Systemvergleichs auf ihre Brauchbarkeit zu testen. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 702 ff.]

Beyrl, Maria, Peter Filzmaier und Flooh Perlot: Politisches Informationsverhalten in Österreich am Beispiel der Nationalratswahl 2006.
Was wir über Politik wissen beziehungsweise zu wissen glauben, wissen wir aus den Massenmedien. Die These klingt plausibel, verallgemeinert aber gleichzeitig. Die „Massenmedien“ sind in Wahrheit ein Konglomerat von unterschiedlichen Anbietern und technischen Übertragungsmethoden, das „Publikum“ ist ebenfalls eine soziodemographisch wie politisch gesehen heterogene Gruppe. Bei einer Betrachtung des politischen Informationsverhaltens liegt es daher nahe, eine Analyse hinsichtlich der Bedeutung und Nutzung von Medien in unterschiedlichen Untergruppen zu vertiefen. Die entsprechende Differenzierung anhand von Daten aus Österreich und punktuelle Vergleiche mit der internationalen Situation ergeben: Das Fernsehen bestimmt nicht nur das politische Informationsverhalten auf Publikumsseite, sondern auch wesentlich die öffentliche Darstellung und Vermittlung von Politik durch die Akteure. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 727 ff.]

Köppl, Stefan: Wahlsieg mit Ansage – und doch mit Überraschungen. Die italienischen Parlamentswahlen vom 13./14. April 2008.
Das Scheitern der Regierung unter Romano Prodi an internen Querelen führte nach einer nur zweijährigen Amtszeit zu vorgezogenen Neuwahlen. Im Vorfeld entschied sich die Demokratische Partei, allein anzutreten, so dass der gewohnte Wettlauf um möglichst große Wahlbündnisse nicht stattfand. Entgegen dem bisherigen Trend in Richtung Bipolarismus sahen sich dadurch die Wähler fünf ernstzunehmenden Parteienbündnissen gegenüber. Die Wahl brachte eine noch nie dagewesene Reduzierung der Parteienzersplitterung im Parlament, die das Tor zu einer neuen Ära im italienischen Parteiensystem öffnen könnte. Die neue Mitte-Rechts-Regierung unter Silvio Berlusconi findet damit die günstigsten Rah-menbedingungen für effektives Regieren vor, die es im Nachkriegsitalien je gab. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 740 ff.]

Münch, Holger: Erdrutsch als Oberflächenphänomen. Die Parlamentswahlen in Polen vom 21. Oktober 2007.
Die Parlamentswahlen in Polen vom Herbst 2007 haben die Alternation fortgesetzt, die seit den ersten vollständig freien Wahlen nach dem demokratischen Umbruch 1991 die parlamentarische Entwicklung beherrscht. Dabei wurden die ultrakatholischen und populistischen Gruppierungen aus beiden Kammern des Parlaments gefegt und die vor allem im Ausland ungeliebte konservativeKaczynski-Regierung abgewählt. Die neu gebildete Koalition aus den, besonders in Fragen der Wirtschaftspolitik, heterogenen Partnern Bürgerplattform und Bauernpartei steht seit Beginn unter dem hohen Druck des interinstitutionellen Dauerkonflikts einer Kohabitation mit einem Staatspräsidenten aus dem unterlegenen Lager. Den Reformstau abzubauen gestaltet sich vor diesem Hintergrund höchst schwierig. Daher drohen eine Ernüchterung der Wählerhoffnungen auf den erfolgten Wechsel und eine (neuerliche) Demobilisierung weiter Teile der Bevölkerung. Dies käme vor allem dem Lager der Kaczynski-Brüder zugute. Deren Rückhalt in der Wählerschaft ist beim letzten Urnengang entgegen dem oberflächlichen Eindruck sogar stärker geworden, so dass ihre Partei nach wie vor als eine der wenigen, wenn nicht sogar als die einzige gefestigte Kraft einer politischen Landschaft gelten kann, die von hoher Fluktuation und geringer Stabilität gekennzeichnet ist. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 756 ff.]

Stykow, Petra: Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regime-stabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung.
Das russische Parteiensystem, das in den 1990er Jahren hochgradig instabil, fragmentiert und ideologisch polarisiert war, hat sich in der Putin-Ära zu einem stabilen, konzentrierten System mit einer dominanten oder gar hegemonialen „Staatspartei“ gewandelt. Dies ist das Ergebnis eines Strategiewechsels der Präsidialexekutive: Während sich Boris Jelzin auf kurzlebige Wahlmaschinen stützte, investierte Wladimir Putin in die Institutionalisierung einer elektoralen, parlamentarischen und Mitgliederpartei. Ihre Dominanz ermöglichte Reformen des Parteien- und Wahlrechts, welche nicht per se als undemokratisch zu bewerten sind, jedoch aufgrund ihrer Wirkungsbedingungen den politischen Wettbewerb strangulieren. Die Dynamik des Parteiensystems ist eine der wichtigsten Dimensionen, die den Entwicklungstrend des politischen Systems Russlands zu einem kompetitiv-autoritären Regime charakterisieren. Solche Regime können sich möglicherweise endogen stabilisieren, wenn es der regierenden Gruppe gelingt, den intra-elitären Wettbewerb einzuhegen und die Unterstützung des Elektorats zu sichern. Dass dabei nicht zwangsläufig oder ausschließlich auf informell-klientelistische Praktiken der Loyalitätssicherung oder offen repressive Instrumente zurückgegriffen werden muss, zeigtPutins Reformprogramm mit seinen vielfältigen Institutionalisierungsprojekten. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 772 ff.]

Thieme, Tom: Wandel der Parteiensysteme in den Ländern Ostmitteleuropas: Stabilität und Effektivität durch Konzentrationseffekte?
Die Parteiensysteme in Ostmitteleuropa haben in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten vielfältige Wandlungsprozesse durchlaufen. Dafür sind einerseits die tiefgreifenden politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen der Transformation verantwortlich. Andererseits wandelten sich die Parteiensysteme aufgrund der verkürzten Demokratisierungs-phase im Vergleich zu Westeuropa deutlich schneller und dynamischer. Eine der zentralen Veränderungen ist die stetig zunehmende Parteienkonzentration, verbunden mit einer kontinuierlich nachlassenden Fragmentierung. Als Ursachen dafür lassen sich drei Faktorenbündel zusammenfassen: a) institutionelle Rahmenbedingungen, b) gesellschaftliche Konfliktlinien und c) individuelle Organisations- und Verhaltensformen der politischen Akteure. Die Auswirkungen der Parteienkonzentration führten zwar generell zu höherer Regierungsstabilität und größerer Bündnisfähigkeit der Fraktionen, was jedoch durch individuelles (Fehl-)Verhalten der politischen Eliten untergraben werden kann. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 795 ff.]


Müller-Rommel, Ferdinand, Henrike Schultze, Philipp Harfstund Katja Fettelschoß: Parteienregierungen in Mittel- und Osteuropa: Empirische Befunde im Ländervergleich 1990 bis 2008.

Systematisch-vergleichende Daten über Parteienregierungen in elf parlamentarischen Demokratien in Mittel- und Osteuropa von 1990 bis 2008 belegen, dass Koalitionsregierungen mit parlamentarischen Mehrheiten zum dominanten Regierungstyp zählen, wobei Mehrheitsregierungen einer Partei stabiler sind als Mehrheitskoalitionsregierungen. Insgesamt sind Parteienregierungen in Mittel- und Osteuropa ähnlich strukturiert wie in Westeuropa, was auf eine Anpassung der Regierungssysteme in Europa hindeutet. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 810 ff.]

Platter, Julia und Baris Çaliskan: Das türkische Verfassungsgericht auf dem Weg zum „Hüter der Verfassung“.
Die national-kemalistische Opposition in der Türkei konnte 2007 die Wahl von Abdullah Gül, der dem konservativ-religiösen Regierungslager angehört, zum Staatspräsidenten durch eine Klage vor dem Verfassungsgericht verzögern. Dabei hat das Gericht seine Kompetenzen sehr umfassend ausgelegt und in diesem besonderen Fall das Verfahren der Anfechtungsklage in die Nähe eines Organstreitverfahrens gerückt, das nach deutschem Verständnis dem Bundes- oder Landesverfassungsgericht die Rolle eines Schiedsrichters zwischen Parlament und Regierung oder anderen Verfassungsorganen zuweist, im türkischen Verfassungsprozessrecht jedoch so nicht existiert. Das kurze Zeit später folgende Parteiverbotsverfahren gegen die AKP lässt die Frage aufkommen, ob das Verfassungsgericht sich nunmehr auch an die Stelle eines im Hintergrund steuernden Staatspräsidenten setzt, anstatt nur die Rolle eines Schiedsrichters zwischen den politischen Kräften einzunehmen. Die Autoren vertreten jedoch die Auffassung, dass sich das Gericht durchaus im Rahmen der zulässigen richterlichen Rechtsfindung bewegt und damit seinen Anteil zur verfassungsrechtlichen Stabilisierung des politischen Lebens in der Türkei leistet. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 832 ff.]

Kimmel, Adolf: Stärkung der „Hyperpräsidentschaft“ oder Emanzipation des Parlaments? Die französische Verfassungsänderung vom 23. Juli 2008.
Am 21. Juli 2008 hat der Kongress die bisher umfassendste Reform der Verfassung von 1958 beschlossen. Sie geht zurück auf den Wunsch des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, die Verfassung der V. Republik zu modernisieren, ihre Grundstruktur aber beizubehalten. Auf der Grundlage des Berichts einer vom Staatspräsidenten eingesetzten Kommission legte die Regierung am 23. April 2008 einen Entwurf vor, der im parlamentarischen Beratungsverfahren erheblich verändert wurde. Da die zentralen Vorschläge der sozialistischen Partei keine oder nur eine von ihr als unbefriedigend empfundene Berücksichtigung fanden, lehnten die Parlamentarier der Linksparteien die Revision ab, obwohl sie mehrere von ihnen seit längerem erhobene Forderungen realisierte. Kernstück der Verfassungsreform ist eine Stärkung des Parlaments, das neue Kompetenzen erhält und dessen Arbeitsbedingungen verbessert werden. Einige der einschränkenden Bestimmungen des „rationalisierten Parlamentarismus“ werden gelockert, aber die Regierung behält ausreichende Möglichkeiten, die Parlamentarier zu disziplinieren. Die Stellung der Opposition wird nur geringfügig verbessert. Hinsichtlich des Staatspräsidenten ist die spektakulärste Neuerung sein Recht, vor dem Kongress eine Erklärung über seine Politik abgeben zu dürfen. Insgesamt bleibt die V. Republik in ihrem Grundcharakter als ein parlamentarisches Regierungssystem unter noch stärkerer präsidentieller Führung erhalten. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 849 ff.]

Heer, Sebastian: Unfall, Design, Evolution? Warum Neuseeland 1993 sein Wahlsystem reformierte.
Entgegen allen Erwartungen sprachen sich Neuseelands Wähler 1993 in einem Referendum für die Abschaffung der bis dahin gepflogenen relativen Mehrheitswahl und die Einführung der personalisierten Verhältniswahl nach deutschem Vorbild aus. Vor dem Hintergrund der traditionellen Stabilitätsannahme von Wahlsystemen warf dieser verfassungspolitische Einschnitt die Frage auf, inwieweit die neuseeländische Wahlsystemreform als Unfall, planvoll herbeigeführt oder als Ergebnis eines langfristigen Entwicklungsprozesses zu erklären sei. Tatsächlich wird das Evolutionsinterpretationsmuster den Geschehnissen am ehesten gerecht; es bietet eine Reihe substanzieller Erklärungen dieses institutionellen Lernprozesses bietet, kann aber auch in anderen Fällen Erklärungskraft entfalten. Gleichwohl verdeutlicht das Beispiel Neuseeland, dass sich Reformverläufe über ihre verschiedenen Prozessstadien hinweg oft als Kombination der drei Elemente Zufall, Design und Evolution in veränderlichen Anteilen darstellen. [ZParl, 39. Jg., H. 4, S. 867 ff.]

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