Von Rabenvätern und Piraten: Defizitäre Vaterfiguren im DEFA-Kinderfilm
Mit diesem Vortrag werde ich dem ostdeutschen kinderfilmischen Umgang mit der „allgemeinen Krise in der Funktion des [DDR-]Vaters“ (Pinkert, 2008) nachgehen, die je nach Dekade anders definiert wurde. Ich argumentiere, dass die Figur des defizitären Vaters im DEFA-Kinderfilm schon nach Kriegsende behandelt wurde und ein wichtiges Thema bis zum Ende der DDR blieb. In den Nachkriegsjahren sollten Zuschauer lernen, dass Männern geholfen werden musste, ihre gesellschaftliche Rolle als funktionale Väter und Ehemänner wiederzufinden, wie schon in Gerhard Lamprechts 1946 „Irgendwo in Berlin“. Wo aber in den ersten Nachkriegsjahren die heimkehrenden Männer mit ihren körperlichen und seelischen Wunden für ihre Dissoziation von der Familie entschuldigt werden konnten, wurde die Disfunktionalität der Männer in späteren Jahren in Kinderfilmen kritischer betrachtet. Als z.B. der Vater von Lütt Matten in Hermann Zschoches Lütt Matten und die weiße Muschel (1964) seinem Kind verspricht, ihm eine Reuse zu bauen, weswegen ihn seine Freunde beneiden, erwidert dieser resigniert, der Vater verspreche immer viel, halte es aber nie ein – eine Eigenschaft, die Mattens Vater später im Film jedoch ablegt.
In den 1970ern spiegelten DEFA-Kinderfilme die Konsequenzen der zunehmenden Scheidungen in dem Land wider. Hier wurden Väter hauptsächlich als abwesend dargestellt. Beispielsweise wird der „Meister Clasen“ zur guten Fee, der auf die Anzeige vom kleinen Matten in Hans Kratzerts Wir kaufen eine Feuerwehr (1970) reagiert. Er kauft ihm ein altes Feuerwehrfahrzeug, so dass Matten neue Freunde gewinnt.
In den letzten Jahren des Sozialismus verloren Väter, die ihre väterlichen Pflichten ignorierten, immer mehr an gesellschaftlicher Akzeptanz („Rabenvater“ [1986 R: Karl-Heinz Heymann] und „Das Herz des Piraten“ [1988, Jürgen Brauer]).
Wie ich in meinem Vortrag aufzeigen werde, vollzog sich diese Entwicklung in der Gesellschaft langsam aber deutlich und wurde von DEFA-Kinderfilmen aufgegriffen. Im Laufe der Zeit zog die ostdeutsche Kamera Väter immer mehr zur Verantwortung. Neue Familienkonstellationen, wie beispielsweise getrennt lebende Eltern, stellten nicht nur ein allgemeines postindustrielles Phänomen dar, sondern wurden als soziales Problem der modern sozialistischen Gesellschaft verstanden, das gelöst werden musste und konnte. DEFA Kinderilme, wie ich hier argumentiere, bieten uns einen einmaligen Einblick in die Gesamtwirkung neuer gesellschaftlicher und kultureller (Familen-)entwicklungen hinter der Mauer.
Kurzvita
Benita Blessing, PhD arbeitet seit 2015 an der Oregon State University, wo sie als ausgebildete Historikerin und Pädagogin jetzt unter Germanisten arbeitet. Ihr erstes Buch “The Antifascist Classroom: Re-education in the Soviet-occupied Zone, 1945-1949” untersuchte wie Schüler und Schülerinnen das antifaschistische, sozialistische, humanistische Klassenzimmer in den unmittelbaren Nachkriegsjahren erfuhren nach 12 Jahren Erziehung in der NS-Gesellschaft. Ihr Buchmanuskript “Teaching Socialism at the Cinema: A History of East German Children’s Films, 1945-1949” liegt jetzt bei Palgrave und erscheint im Laufe des nächsten Jahres.