Thema

„Aufklärung“ bestimmt bis heute unser Selbstverständnis in hohem Maße. Zentrale moderne Konzepte von Öffentlichkeit, Rationalität, Selbstverantwortung, Zivilisation, Kritik, Kultur etc. erhalten nicht nur in der historischen Aufklärung ihre prägnante Formulierung, sondern werden immer wieder neu mit Bezug auf Aufklärung artikuliert. Bis in die Gegenwart und gerade heute werden regelmäßig neue, andere, zweite dritte Aufklärungen ausgerufen – oder auch verabschiedet. Die philosophische, politische und hochgradig metaphorische Aufladung des Deutungsmusters „Aufklärung“ eignet sich offensichtlich besonders gut, um das Selbstverständnis der Moderne zu artikulieren.

Das gilt besonders für das Verhältnis zur Religion, das heute nicht mehr einfach als Gegensatz gedacht wird. Die neuere Forschung hat viele und differente religiöse (katholische, jüdische, islamische) Aufklärungen entdeckt, religiöse Momente im Aufklärungsdiskurs herausgearbeitet (die ‚Erleuchtung‘, Geschichtsteleologien etc.) und gezeigt, dass die moderne Vorstellung von „Religion“ selbst ein Produkt der europäischen Aufklärung ist. Die jüngere Wiederkehr der Religionen im globalen Maßstab und die postkoloniale und postsäkulare Kritik an europäischen Denkformen macht es daher notwendig, auch das Verhältnis der Moderne zur Religion neu zu denken – dafür hat „Aufklärung“ erneut eine Schlüsselrolle.

Aufklärung kann heute also nicht mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. In dem Moment, in dem ihre historischen Errungenschaften als bedroht erscheinen, gewinnt sie an Aktualität und Streitwert.
Einerseits motiviert das zu einem Rückgang auf die historische Aufklärung: Historische Forschung muss die Komplexität und Vieldeutigkeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts herausarbeiten. Schon diese vollzieht sich wesentlich an Streitfällen, an denen sich diskursive Aushandlungsprozesse, das Aufeinanderprallen verschiedener Deutungsmuster und die Verwobenheit unterschiedlicher Diskurse in Philosophie, Wissenschaft, Politik, Pädagogik etc. beobachten lassen, die jeweils kulturell verankert sind, d.h. auch aus Denkfiguren, Leitmetaphern, Bildern, Praktiken, Narrativen etc. bestehen.
Andererseits lassen sich aus der Perspektive der Aufklärung aus aktuelle Diskurse beschreiben: Wie lässt sich etwa der Universalismus der Vernunft oder der Menschenrechten mit der Pluralität und Heterogenität der Kulturen verbinden? Wie verhält sich die individuelle Freiheit zu gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten? Wie kann Kritik in einer sich radikal verändernden Öffentlichkeit noch funktionieren? Diese schon im 18. Jahrhundert intensiv diskutierten Fragen haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren.

Zu möglichen Fragen von ARW, in der sich die historische Aufklärungsforschung mit anderen Perspektiven verbindet, gehören u.a.

Gegenwart: Der Streit über die Aufklärung ist immer schon ein Streit über die Deutung der Europäischen Geschichte, der Moderne als solcher, und damit auch der Gegenwart. Deren Ort muss angesichts von endemisch ausgerufenen Zeitenwenden, eines postulierten „Anthropozän“ oder der postkolonialen Kritik immer wieder neu vermessen werden. Forschungen über solche Deutungsmuster und Diskurse lassen sich produktiv mit der sich wesentlich als Gegenwartsbeobachtung verstehenden Aufklärung verbinden.

Öffentlichkeit: Die für moderne Gesellschaften konstitutive pluralistische Öffentlichkeit geht nicht nur auf die Aufklärung zurück, auch ihre Grenzen und ihre Fragilität ist dort bereits deutlich bewusst. Angesichts der aktuellen Krise der Öffentlichkeit (fake news, konkurrierende bubbles) stehen Prinzipien und Grenzen der Öffentlichkeit wieder in Frage und verlangen nach einer interdisziplinierten Erforschung durch Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Kritik: Zur modernen Öffentlichkeit gehören zentral diverse Formen der Kritik, die aktuell ihre Selbstverständlichkeit verlieren, wenn sowohl über die Erschöpfung der Kritik wie auch über ihre Ausbreitung als Hyperkritik geklagt wird. Inwiefern Wissenschaft kritisch ist, sein kann, sein soll, welche Grenzen Kritik setzt und voraussetzt, wie Kritik sich zum Pluralismus der Standpunkte verhält, sollte in einer Universität ständig diskutiert werden.

Wissen: Von dem prekären Status der Öffentlichkeit ist auch das Wissen betroffen. Die beschleunigte öffentliche Kommunikation unterzieht auch wissenschaftliche Expertise immer stärker dem Aufmerksamkeitsdruck; Klimawandel und „Anthropozän“ stellen auch naturwissenschaftliche Forschung in den Kontext vorher kaum bekannter Dringlichkeit. Was diese neuen Bedingungen für die Wissensproduktion bedeuten und wie unter ihnen weiterhin Wissenschaft getrieben werden kann, ist vor dem Hintergrund der Wissensgeschichte seit der Aufklärung zu untersuchen.

Religion: Entgegen den Erwartungen traditioneller Modernisierungstheorien befinden sich Religionen global gesehen keineswegs auf dem Rückzug. Die weltweit verbreiteten Erneuerungsbewegungen, aber auch das Weiterwirken religiöser Denkformen, Diskurse und Symbole auch außerhalb von Kirche und Konfession stellt die klassischen Disziplinen und den (in der Aufklärung geprägten) Religionsbegriff vor große Probleme. ARW bietet für die notwendige interdisziplinäre Diskussion dieser Fragen einem hervorragenden und in Deutschland einzigartigen Zusammenhang.

Identität, Kultur: Kritik wird heute nicht nur im Namen der Rationalität, sondern auch von kultureller Identität geübt, nicht selten in potentiell destruktive polemischer Schärfe. Die gesellschaftlichen Verwerfungen und die immer komplexeren Formen der Zugehörigkeit, die in sich in diesen Polemiken ausdrücken, können in historisch-kulturwissenschaftlichen Analysen verständlich gemacht werden – was letztlich zur Verständigung auch innerhalb der Universität beiträgt.

Epistemologie der Geistes- und Kulturwissenschaften: Schon die historische Forschung um 18. Jahrhundert steht vor grundsätzlichen methodischen Fragen, weil „Pietismus“ eine nachträgliche (und polemische) konstruierte Kategorie ist und „Aufklärung“ in der Regel zugleich historisch und normativ verstanden wird. Aber auch darüber hinaus kann ARW zum Diskussionsforum für die Epistemologie der historischen Geistes- und Kulturwissenschaften werden und reflektieren, welche Wissensansprüche, Deutungsleistungen und Beiträge zur gesellschaftlichen Orientierung historische Forschung impliziert. Der Rückblick auf die im 18. Jahrhundert entworfene moderne Universität verbindet sich mit dem Vorausblick in die Zukunft dieser Institution.

Struktur

„Aufklärung – Religion – Wissen“ (ARW) ist der zentrale geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsschwerpunkt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Forschungsarbeiten werden insbesondere von den Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentren der Universität getragen:

Als thematisch gleichermaßen konzentriertes wie weitreichendes Forschungsnetzwerk strebt ARW die Kooperation sowohl mit KollegInnen der Martin-Luther-Universität als auch mit deutschen und ausländischen Universitäten sowie außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen an

Verantwortlich für die inhaltliche und strukturelle Konzeption von ARW sind die Direktorien der beiden Zentren. Sie wählen gemeinsam einen Sprecher, der die Geschäfte des Forschungsschwerpunktes führt, seit Dezember 2022 ist das Prof. Dr. Daniel Weidner. Er wird von einem unabhängigen Wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus 5 Mitgliedern, beraten.

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Geschichte

Der Landesforschungsschwerpunkt ist im Rahmen der Exzellenzinitiative des Landes Sachsen-Anhalt entstanden. Er hat seine Arbeit am 1. Oktober 2006 aufgenommen und bildet eines der geisteswissenschaftlichen Netzwerke an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neben zahlreichen Tagungen und Veröffentlichung wurden im Rahmen des Forschungsschwerpunktes auch ein Graduiertenkolleg „Aufklärung – Religion – Wissen“ (2006-2012) und eine Graduiertenschule „Verbindlichkeit von Normen der Vergesellscshaftung“ (2018-2020) gefördert.

Die Universität zu Halle war seit ihrer Gründung im Jahr 1694 fast ein halbes Jahrhundert lang der fruchtbarste wissenschaftliche Sprössling des Taufjahrhunderts der Aufklärung. Gleichzeitig war sie während dieser Zeitspanne der Ort, an dem sich in Gestalt des Pietismus die wichtigste theologische und religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb des kontinentalen Protestantismus konzentrierte. In der Arbeit des Landesforschungsschwerpunktes „Aufklärung – Religion – Wissen“ begegnet die gegenwärtige hallesche Universität daher nicht nur ihrer eigenen Geschichte. Sie erinnert auch an ihre Anteile an einer Aufklärung des öffentlichen Rechtsbewusstseins (Christian Wolff, Christian Thomasius), an einer rationalen Kultivierung des praktischen religiösen (August Hermann Francke) wie des ästhetischen Bewusstseins (Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier) und an der Auseinandersetzung um die entscheidende Frage der Verträglichkeit von Aufklärung und Religion (Wolff, Francke, Joachim Lange).

Diese europaweit geführten, jedoch wesentlich aus Halle initiierten und geprägten Diskurse des 18. Jahrhunderts zu Aufklärung, Religion und Wissen sowie ihre Beziehungen untereinander werden in den Forschungsprojekten des Landesforschungsschwerpunktes aus der Perspektive und den Problemstellungen des 21. Jahrhunderts analysiert.