Arbeitergedichte in Ha-Neu

„Fast fragt man sich, ob hier überhaupt noch gewohnt wird. Doch es gibt untrügliche Zeichen, wir kennen sie, hier wie in den anderen noch halbbewohnten Vierteln der Stadt: es ist die Gardine, meist von vorgeschobenen Pflanzenschmuck bewacht.“

– Heinz Czechowski, Herr Neithardt geht durch die Stadt (1983)

Sie befinden sich jetzt am östlichen Rand der Neustadt mit Blick auf die beiden Wohntürme 330 und 331 am Gimritzer Damm. Das Wohngebiet Halle-Neustadt wurde in den 1960er Jahren als sozialistische Vorzeigestadt für die Arbeiter:innen in den Chemiewerken Leuna und Schkopau geplant und erbaut. Das aus Plattenbauten bestehende Wohngebiet bot Wohnraum für rund 90.000 Menschen. Heute wohnen nur noch rund 45.000 Menschen in der ehemaligen Chemiearbeiter:innenstadt. Die Stadt schrumpft vom Rand aus, wird zurückgebaut.
Lesen Sie hier zwei Gedichte des Schriftstellers Walter Bauer.

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Gimmritzer Damm Ha-Neu

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Gimmritzer Damm Ha-Neu 51.486260, 11.945937
„Unser Ziel“ von Walter Bauer

Wir haben uns, wie täglich oder nächtlich. Aufgemacht
zu unserem Ziel: Fabrik – 
jetzt geht die Tür zu, jetzt beginnt der Schritt, der Trott,
und wer nicht weit entfernt ist, ist bald da,
und der Entfernte fährt im Zug heran.

Es fährt der Mensch durch Felder frühe auf dem Rad
und sieht die Sonne wie ein Auge wund und blind,
und an den Lachen spritzt das Wasser auf,
in Furchen schwankt er, das Gesicht voll Wind.

Und dieser sitzt mit vielen in der Bahn,
er starrt durchs Fenster, und dann schläft er ein,
der ißt schon früh, der hebt die Kaffeeflasche schon,
und wenn sie träumen, fahren sie schon ein.

Und einer steigt in die Straßenbahnen wie gewohnt,
er zeigt dem Schaffner seine Monatskarte vor,
und wenn der Schaffner klingelt und der Wagen hält,
hält er wie gestern vor dem Leuna-Tor.

Und dieser – der ich bin, geht aus dem Hause fort
und sieht das Werk, und er erschrickt nicht mehr,
mit Singen taucht er zwischen Flammen in die Halden ein,
und dieses Singen kommt wie Trost von ferne her.

„Arbeiter zieht ein reines Hemd an“ von
Walter Bauer

Er fährt mit einem kleinen Licht am Rad nach Haus.
In seinem Rücken brennt noch tief das Werk, die Schicht
ist aus.
Die Schicht ist aus. Am Band die Kaffeeflasche klappert
vorn.
Er hört ganz fern, von Schlaf umspült, ein Nebelhorn,
es geht ihn nichts mehr an.

Er tritt zur Stube ein, als käm er aus der Nacht,
es hat die Frau ihm warmes Wasser schon bereitgemacht.
Sie hat ihm alles, wie er es gewöhnt ist, hingestellt,
die gute Frau hat ihm die Müdigkeit erhellt
mit Wasser, Seife, Tuch.

Er zieht das Hemd aus, das ganz schwarz geworden ist,
er wäscht sich ganz, weil das am Sonnabend so Sitte ist.
Man könnte glauben: soviel Blut und zäher Dreck
geht auch mit scharfer Seife nicht mehr gänzlich weg,
sitzt schwer am Herzen fest.

Und ist er fertig, zieht ein reines Hemd er an,
(und das besagt: daß jetzt der schöne Sonntag schon
begann),
er knöpft es zu, stopft sorgsam in die Hose es hinein,
er fühlt den Stoff an seinem Leib, er ist ganz rein,
er ist vollkommen rein.

Er setzt sich an den Tisch, auf dem das Essen steht.
Er stützt die Arme auf. Die schönste Gegenwart besteht.
Er spricht mit seiner Frau nicht viel, weil er jetzt langsam
ißt
und weil im Haus zu wenig auch geschehen ist, 
nur dies: sein Hemd ist rein.

Ein literarisches Denkmal

Walter Bauer (1904-1976), geboren in Merseburg, studierte einige Semester Germanistik in Halle und veröffentlichte mit 22 erste Gedichte. Auch wenn Bauer rund 30 Jahre vor der Grundsteinlegung Halle-Neustadts in Halle lebte und nie in einem der Chemiewerke arbeitete, bot ihm die zunehmende Industrialisierung rund um Halle und der Bau der Leunawerke ab 1916 genügend Stoff für den Gedichtband „Stimme aus dem Leunawerk“. Mit diesem setzte er den Arbeiter:innen in den Chemiewerken ein literarisches Denkmal – und auch den späteren Bewohner:innen der Neustadt. Seine Verse deuten mit dem Finger auf die sozialen Missstände und das Elend der Fabrikarbeiter:innen. In vielen seiner Gedichte finden sich dabei auch immer wieder Verse, die die Brutalität des Ersten Weltkriegs abzeichnen.

Ab 1933 verboten die Nationalsozialisten Bauers Werke, sie galten als „erzieherisch unzuverlässig“. Dennoch publizierte er weiter mit dem Glauben an die Verwirklichung sozialer Ideale. Im Zweiten Weltkrieg geriet er in englische Kriegsgefangenschaft in Italien. Nach dem Krieg kehrte Bauer nicht nach Halle zurück, sondern lebte einige Zeit erst in München, dann in Stuttgart und wanderte 1952 nach Kanada aus. Dort publizierte er weiter und lehrte später auch an der Universität in Toronto. Trotz seines recht umfassenden Werkes mit gut 70 Veröffentlichungen, zahlreichen Zeitungsartikeln und anderem sowie guter Rezensionen, geriet Walter Bauer größtenteils in Vergessenheit. 

▽ Literaturtipps

Bauer, Walter: Die Stimme: Geschichte einer Liebe, München 1961.

Bauer, Walter: Ein Mann zog in die Stadt, Berlin 1931.

Bauer, Walter: Stimme aus dem Leunawerk, Berlin 1930.