Politische Spannungen waren in der Zeit der Weimarer Republik in ganz Deutschland spürbar. So auch in Halle. Der Schriftsteller Ernst Ottwalt erfuhr diese Spannungen selbst mit: in den 1920er Jahren, als Schüler in Halle, schloss er sich dem Freikorps Halle an, das gegen Kommunisten und Arbeiter kämpfte. Während seines Studiums in Halle und Jena wurde er selbst zum Kommunisten. Diese Wandlung und die politischen Umstände der Zeit beschreibt er in seinem Roman „Ruhe und Ordnung“ (1922). Lesen Sie hier einen Ausschnitt:
Ruhe und Ordnung (1922)
„In der Stadt Halle an der Saale haben sich schon von jeher alle sozialen und politischen Bewegungen besonders scharf ausgeprägt. Kaum in einer zweiten deutschen Stadt stoßen die gesellschaftlichen Extreme so unmittelbar auf einem engen Raum gegeneinander. Schon äußerlich: es gibt keine abgeschlossenen vor- nehmen Viertel. Der Weg zu den Villenstraßen führt durch ein Arbeiterviertel; der „Volkspark“, das Zentrum der meisten proletarischen Organisationen, liegt nur wenige Schritte von einem Diakonissenhaus und den Häusern einiger vornehmer studentischer Korps entfernt. Ein ungeheures Industrieproletariat ist rings um die Stadt angesiedelt: im Süden nebelt das Leuna-Werk mit seinen gelben Rauchschwaden. Die Schacht- und Fabrikanlagen des Geiseltals ziehen sich endlos und ohne Unterbrechung durch eine verwüstete Landschaft. Zahlreiche Kalischächte, die Kupfer- gruben der Mansfeld A.-G., Zuckerfabriken, Maschinenindustrie, Papierfabriken geben einigen Hunderttausend Arbeitern Brot. Und Halle ist gleichzeitig der Sitz vieler ‚großer Konzernverwaltungen. Generaldirektoren und Bankiers haben hier ihre luxuriösen Villen, von deren Fenstern aus man wieder auf öde, graue Proletarierstraßen sieht. Behörden und Gerichte, Schulen und die Universität sorgen für ein ganzes Heer von Beamten. Die Universität wird im Frühjahr des Jahres – 1919 von tausenden ehemaligen Offizieren besucht, die nun einen bürgerlichen Beruf ergreifen wollen. | Dies alles drängt sich auf einem schmalen – Raum zusammen, der von der Saale und dem riesigen Bahnhofsgelände begrenzt wird, und der in seiner größten Ausdehnung nur etwa drei Kilometer breit ist. In dies Gewirr von Haß, Unruhe, Verbitterung und wahnsinniger Hoffnung wird an einem Märztage des Jahres 1919 die Nachricht geschleudert, daß das Freiwillige Landesjägerkorps unter Führung des Generals Maerker in einigen Stunden von Braunschweig aus her- anrücken wird, um die Stadt zu besetzen. Ich höre dieses Gerücht an einem Nachmittag in der Stadt und fühle ein angenehm aufregendes Gruseln, denn ich weiß, das bedeutet Kampf und Blut. Und ich bin siebzehn Jahre alt und fühle nichts außer dieser nicht unangenehmen Erregung. […] e Stadt ist nicht wiederzukennen. Es regnet, aber die Straßen sind gedrängt voll.“