Ihnen hat der Text von Werner Bräunig am Riebeckplatz gefallen? Dann lesen Sie hier mehr Literatur aus Halle, die in der DDR entstand. Eine der wichtigsten Autorinnen der DDR-Literatur, Christa Wolf, lebte von 1959 bis 1962 im Amselweg 34 in Halle. Sie arbeitete als freie Lektorin im Mitteldeutschen Verlag. Dort erschien 1963 ihre Erzählung „Der geteilte Himmel“, die u.a. in Halle als Drehort verfilmt wurde.
Auch ihr Werk „Ein Tag im Jahr“ entstand zumindest teilweise in Halle. Dieser Text ist ein Experiment: Wolf dokumentiert darin literarisch, was sie an jedem 27. September zwischen 1960 und 2000 erlebt. Der erste Beitrag vom 27. September 1960 entsteht im Amselweg 34 in Halle. Lesen Sie hier einen Ausschnitt:
„Dienstag, 27. September 1960
Halle/S., Amselweg
Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant. Ich werde mit Tinka wegen ihres schlimmen Fußes zum Arzt müssen. Drau- ßen klappen Türen. Die Kinder sind schon im Gange. Gerd schläft noch. Seine Stirn ist feucht, aber er hat kein Fieber mehr. Er scheint die Grippe überwunden zu ha- ben. Im Kinderzimmer ist Leben. Tinka liest einer kleinen, dreckigen Puppe aus einem Bilderbuch vor: Die eine wollte sich seine Hände wärmen; die andere wollte sich seine Handschuh wärmen; die andere wollte Tee trinken. Aber keine Kohle gab’s. Dummheit! Sie wird morgen vier Jahre alt. Annette macht sich Sorgen, ob wir genug Kuchen backen werden. Sie rechnet mir vor, daß Tinka acht Kinder zum Kaffee eingeladen hat. Ich überwinde einen kleinen Schreck und schreibe einen Zettel für Annettes Lehrerin: Ich bitte, meine Tochter Annette morgen schon mittags nach Hause zu schicken. Sie soll mit ihrer kleinen Schwester Geburtstag feiern. Während ich Brote fertigmache, versuche ich mich zu erinnern, wie ich den Tag, ehe Tinka geboren wurde, vor vier Jahren verbracht habe. Immer wieder bestürzt es mich, wie schnell und wie vieles man vergißt, wenn man nicht alles aufschreibt. Andererseits: Alles festzuhalten wäre nicht zu verwirklichen: Man müßte aufhören zu leben. – Vor vier Jahren war es wohl wärmer, und ich war allein. Abends kam eine Freundin, um über Nacht bei mir zu bleiben. Wir saßen lange zusammen, es war das letzte 14 vertraute Gespräch zwischen uns. Sie erzählte mir zum erstenmal von ihrem zukünftigen Mann…
Nachts telefonierte ich nach einem Krankenwagen.
Annette ist endlich fertig. Sie ist ein bißchen bummelig und unordentlich, wie ich als Kind gewesen sein muß. Da-mals hätte ich nie geglaubt, daß ich meine Kinder zu- rechtweisen würde, wie meine Eltern mich zurechtwiesen. Annette hat ihr Portemonnaie verlegt. Ich schimpfe mit den gleichen Worten, die meine Mutter gebraucht hätte: So können wir mit dem Geld auch nicht rumschmeißen, was denkst du eigentlich? Als sie geht, nehme ich sie beim Kopf und gebe ihr einen Kuß. Mach’s gut! Wir blinzeln uns zu. Dann schmeißt sie die Haustür unten mit einem großen Krach ins Schloß. Tinka ruft nach mir. Ich antworte ungeduldig, setze mich versuchsweise an den Schreibtisch. Vielleicht läßt sich wenigstens eine Stunde Arbeit herausholen. Tinka singt ihrer Puppe lauthals ein Lied vor, das die Kinder neuerdings sehr lieben: »Abends, wenn der Mond scheint, ins Städtele hinaus . . .«, die letzte Strophe geht so:
Eines Abends in dem Keller
aßen sie von einem Teller
eines Abends in der Nacht
hat der Storch ein Kind gebracht . . .
Wenn ich dabei bin, versäumt Tinka nie, mich zu beschwichtigen: Sie wisse ja genau, daß der Storch gar keine Kinder tragen könne, das wäre ja glatt Tierquälerei. Aber wenn man es singt, dann macht es ja nichts. Sie beginnt wieder nach mir zu schreien, so laut, daß ich im Trab zu ihr stürze. Sie liegt im Bett und hat den Kopf in die Arme vergraben. Was schreist du so? Du kommst ja nicht, da muß ich rufen. Ich habe gesagt, ich komme gleich. Dann dauert es immer noch lange lange lange bange bange bange. Sie hat entdeckt, daß Wörter sich reimen können. Ich wickle die Binde von ihrem zerschnittenen Fuß. Sie schreit wie am Spieß. Dann spritzt sie die Tränen mit dem Finger weg. Beim Doktor wird’s mir auch weh tun. Willst du beim Doktor auch so schrein? Da rennt ja die ganze Stadt zusammen. – Dann mußt du mir die Binde abwickeln. – Ja, ja. – Darf ich heute früh Puddingsuppe? – Ja, ja. – Koch mir welche! – Ja, ja. Der Fußschmerz scheint nachzulassen. Sie kratzt beim Anziehen mit den Fingernägeln unter der Tischplatte und möchte sich ausschütten vor Lachen. Sie wischt sich die Nase mit dem Hemdzipfel ab. He! schreie ich, wer schneuzt sich da ins Hemde? – Sie wirft den Kopf zurück, lacht hemmungslos: Wer schneuzt sich da ins Hemde, Puphemde . . .
Morgen habe ich Geburtstag, da können wir uns heute schon ein bißchen freuen, sagt sie. Aber du hast ja verges- sen, daß ich mich schon alleine anziehen kann. – Hab’s nicht vergessen, dachte nur, dein Fuß tut dir zu weh. – Sie fädelt umständlich ihre Zehen durch die Hosenbeine: Ich mach das nämlich viel vorsichtiger als du. – Noch ein- mal soll es Tränen geben, als der rote Schuh zu eng ist. Ich stülpe einen alten Hausschuh von Annette über den verletzten Fuß. Sie ist begeistert: Jetzt hab ich Annettes Latsch an! Als ich sie aus dem Bad trage, stößt ihr gesunder Fuß an den Holzkasten neben der Tür. Bomm! ruft sie. Das schlägt wie eine Bombe! – Woher weiß sie, wie eine Bombe schlägt? Vor mehr als sechzehn Jahren habe ich zum letzten Mal eine Bombe detonieren hören. Woher kennt sie das Wort?
[…] Ich gehe mit Tinka zum Arzt. Sie redet und redet, vielleicht, um sich die Angst wegzureden. Mal verlangt sie die Erläuterung eines Wandbildes (Wieso findest du es nicht schön? Ich find es schön bunt!), mal will sie mit Rücksicht auf ihren kranken Fuß getragen werden, mal hat sie allen Schmerz vergessen und balanciert auf den Steinumfassungen der Vorgärten. Unsere Straße führt auf ein neues Wohnhaus zu, an dem seit Monaten gebaut wird. Ein Aufzug zieht Karren mit Mörtelsäcken hoch und transportiert leere Karren herunter. Tinka will genau wissen, wie das funktioniert. Sie muß sich mit einer ungefähren Erklärung der Technik begnügen. Ihr neuer, unerschütterlicher Glaube, daß alles, was existiert, »zu etwas gut ist«, ihr zu etwas gut ist. Wenn ich so oft um die Kinder Angst habe, dann vor allem vor der unvermeidlichen Verletzung dieses Glaubens. Als wir die Treppen der Post hinunterlaufen, klemme ich sie mir unter den Arm. – Nicht so schnell, ich fälle! – Du fällst nicht. – Wenn ich groß bin und du klein, renne ich auch so schnell die Treppen runter. Ich werd größer als du. Dann spring ich ganz hoch. Kannst du übrigens über das Haus springen? Nein? Aber ich. Über das Haus und über einen Baum. Soll ich? – Mach doch! – Ich könnte ja leicht, aber ich will nicht. – So, du willst nicht? – Nein. – Schweigen. Nach einer Weile: Aber in der Sonne bin ich groß. – Die Sonne ist dunstig, aber sie wirft Schatten. Sie sind lang, weil die Sonne noch tief steht. – Groß bis an die Wolken, sagt Tinka. Ich blicke hoch. Kleine Dunstwolken stehen sehr hoch am Himmel.“