Betonmoderne am Riebeckplatz

„Der frühere Riebeckplatz: Ruinen, Trümmerflächen. Von Häusermauern eingeengte Straßenkreuzungen, an der sich Autos, Straßenbahnen, Fußgänger zu Kolonnen stauten. Wir haben neue Straßen gebaut. Das alte Halle ist jung geworden. Die neuen Straßen führen uns hinein.“

– Hans-Jürgen Steinmann, Zwei an der Saale (1979)

Der Riebeckplat in der Nähe des Hauptbahnhofs ist zentraler Verkehrsknotenpunkt sowie urbanes Eingangstor zur Stadt. Hier kreuzen sich auf den Hochstraßen die wichtigsten Verkehrsachsen Halles: Die Achse zwischen den Wohngebieten in Nord und Süd sowie die Achse zwischen dem Industriegebiet im Osten und der Halle-Neustadt im Westen. Wir laden Sie ein, die breite Straße nach ‚Ha-Neu‘ gedanklich weiterzufahren und an dieser Stelle, die Atmosphäre der Plattenbauästhetik  im Westen der Stadt literarisch zu erleben. 

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Riebeckplatz

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Riebeckplatz 51.478851, 11.982221 Riebeckplatz
„Gewöhnliche Leute“ von Werner Bräuning (2008)

„Die Luft war noch immer warm, der Abend kam mit verhaltenen Geräuschen: Ein Lokomotivenpfiff, ein klappernder Ventilator am Gastronom, ein kleines Hundekläffen. Aber die Straßen waren leer. In fast allen Häusern waren fast immer die gleichen Fenster erleuchtet vom gleichen schwächlichen Fernsehlicht, die Straßenbeleuchtung verlor sich, die Stadt wirkte unbewohnt und kulissenhaft. Es ging Trumpeter wie oft an solchen Abenden: Er spürte bedrückend die Verlassenheit der leeren Straßen und Plätze zwischen den Hochhäusern, er spürte ihre Dunkelheit und Vorläufigkeit. Ein bißchen Park mit Bänken und Wegen und einem Brunnen vielleicht, ein kleines Eckcafé, Eisdielchen, Lichtinselchen mit Leuten, und es wäre schon ganz anders. Aber das war es nicht allein. Er liebte diese Stadt, er war besessen vom Bau, und dennoch wußte er: Städte ohne Vergangenheit sind wie Menschen ohne Geschichte. Wir sind in Straßen groß geworden, die lange vor uns da waren, in engen Wohnungen und lichtlosen Hinterhöfen, im Ruß und in der Patina der Jahrhunderte – endlich haben wir menschliche Behausungen, haben Raum und Farben und Helligkeit, aber wir sind darauf nicht vorbereitet. Wir sind mit der Stadt noch nicht fertig und noch nicht mit uns, das sind wir nie; aber wir wissen es plötzlich und leben intensiver, oder spüren die Unruhe und wissen nur ihren Namen nicht. Dachte er und ging durch die Straßen, die ebenfalls noch keinen Namen hatten, über die unbekannten Plätze dorthin, wo die Kräne aufragten über den dunklen Silhouetten der Rohbaublöcke.“ (Werner Bräuning: „Gewöhnliche Leute“ 2008)

▽ der Riebeckplatz und werner bräuning

Zu Zeiten der DDR wurde der ehemalige Thälmannplatz in den Jahren 1964–71 aufwendig umgebaut, um den verkehrstechnischen Ansprüchen der aufstrebenden Chemie- und Arbeiterstadt Halle gerecht zu werden. Der Riebeckplatz war zu dieser Zeit der verkehrtüchtigste Ort der gesamten DDR. Außerdem sollte der Umbau eine bessere Anbindung nach Halle-Neustadt ermöglichen, die ab Herbst 1958 im Aufbau begriffen war. Das gestalterische Pendant zum Riebeckplatz findet sich auf den Anhöhen der westlichen Saaleseite in Halle-Neustadt und verbindet die beiden Stadtteile damit nicht nur in städtebaulicher, sondern auch in ästhetischer Hinsicht.

Als bis heute größte realisierte Planstadt Deutschlands, bot Halle-Neustadt nicht nur tausenden Arbeiterfamilien angemessenen Wohnraum, sondern diente zugleich zahlreichen Künstlern, Architekten und Literaten als Inspirationsquelle. Dazu zählte auch Werner Bräuning – einer der wichtigsten Vertreter der DDR-Literatur. Im Jahr 1934 in Chemnitz geboren und zunächst handwerklich ausgebildet, widmete er sich ab den späten 1950er Jahren intensiv der Literatur zu. Sein umfangreichstes und bedeutendstes Werk, der Roman Rummelplatz, konnte wegen der strengen ideologischen und ästhetischen Dispositiven der DDR Kulturfunktionäre trotz enormen Protests und Widerstands vieler Autoren erst posthum nach der Wiedervereinigung Deutschlands veröffentlicht werden. Tief bestürzt und entmutigt von dieser Entscheidung, zog sich Bräuning ab 1967 nach Halle-Neustadt zurück und arbeitete dort als freiberuflicher Schriftsteller. Bis zu seinem Tod am 14. August 1976 erschienen unter anderem das Essay Prosa schreiben (1968), die Kollektivreportage Städte machen Leute (1969) sowie die Erzählsammlung Gewöhnliche Leute (erweiterte Ausgabe, 1971).

Die Ästhetik von Hochhäusern, Beton und Industrie spielte auch in den Gemälden des Halleschen Künstlers Karl Völker (1889 Halle/Saale – 1962 Weimar) in der Neuen Sachlichkeit eine zentrale Rolle. Sein Werke sind heute zu großen Teilen im Kunstmuseum Moritzburg der Stadt Halle zu besichtigen. Seine Betonung der Fläche, die Dominanz der Farbe Grau sowie die Entfremdung des Individuums in einer rasant wachsenden Stadtkulisse sind auch heute noch spürbare Erfahrungsmomente des heutigen Riebeckplatzes.

▽ Literaturtipps & Nachweise

Bader, Markus/Herrmann, Daniel (Hg.): halle-neustadt führer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2006.

Bräuning, Werner: Gewöhnliche Leute. Erzählungen, Aufbau Verlag, Berlin 2008.

Bräuning, Werner: Rummelplatz. Roman, Aufbau Verlag, Berlin ³2007.

Bräuning, Werner (u.a.): Städte machen Leute. Streifzüge durch eine neue Stadt, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1969.

Große, Gerald/Steinmann, Hans-Jürgen: Zwei an der Saale. Halle Halle-Neustadt, Brockhaus Verlag, Leipzig, 1979.

Hasche, Katja/Kiepke, Torben/Scheffler, Tanja (Hg.): Big Heritage. Halle-Neustadt?, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2016.

Wenzel, Anna-Lena: Auf den Spuren Werner Bräunings in Halle-Neustadt, Berlin 2022.

Bahnhof, Karl Völker (1889 Halle/Saale – 1962 Weimar), 1924/1926, Kunstmuseum Moritzburg Halle/Saale.

Industrielandschaft, Karl Völker (1889 Halle/Saale – 1962 Weimar), 1923, Kunstmuseum Moritzburg Halle/Saale.

Zement, Karl Völker, (1889 Halle/Saale – 1923 Weimar), 1923, Kunstmuseum Moritzburg Halle/Saale.

Vom Riebeckplatz gehen Sie geradeaus die Leipziger Straße hinunter, bis Sie Sprichwörtliches vor Augen haben.