Tote Bestseller auf dem Stadtgottesacker

Der Stadtgottesacker mit träumerisch-brutalem Namen war ein aufgelassener Friedhof und wie ein italjänischer Campo Santo beschaffen. Die häuserähnlichen Erbbegräbnisse aus dem sechzehnten Jahrhundert waren berühmt in den Kunstgeschichten wo sie zum Exempel der Schwibbögen dienten.

– Sarah Kirsch, Schwingrasen – Stück ‚Pfeffer und Salz‘ (1991)

Inspiriert von italienischen Camposanto-Anlagen, finden auf dem Stadtgottesacker seit dem 16. Jahrhundert Begräbnisse statt. Besonders fallen die ringsum liegenden, verzierten und mit Inschriften versehenen Bögen auf, die bekannten Persönlichkeiten als Gräber dienen. Zu diesen gehören auch zwei Autor:innen, deren Werke allerdings in Vergessenheit geraten sind.

Machen Sie doch einen Spaziergang entgegen dem Uhrzeigersinn entlang der Bögen. Bevor Sie losgehen, werfen Sie gerne noch einen Blick auf den Lageplan des Stadtgottesackers im Eingangsbereich. Hier können Sie sich bereits orientieren, auf welchen Innenfeldern sich die Gräber von Anselma Heine und Richard von Volkmann befinden. Wenn Sie wollen, können Sie sich auf ihrem Weg bereits einen Ausschnitt aus dem Werk Anselma Heines anhören. Oder Sie lesen oder hören ihn an ihrem Grab. Das bleibt ganz Ihnen überlassen.

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Stadtgottesacker

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Stadtgottesacker 51.482338, 11.977471 Stadtgottesacker

Nachdem Sie die Hälfte des Rundgangs erreicht und an Innenfeld IV und III vorbeigekommen sind, gehen Sie einfach nach links auf den Hauptweg. Gleich die erste Treppe zu Ihrer linken Seite führt Sie ins Innenfeld III und zu Anselma Heines Grab – eine Säule mit einem Gefäß darauf.

 ▽ „Die Erscheinung“ von Anselma Heine (1927)

Riedhammer bat ihn um ein Wachsstreichholz, um sich in sein Zimmer hinauf zu leuchten, wie er sagte. Am Treppengeländer blieb er stehen und horchte. Dann, als alles ruhig geworden war, tappte er sich, Johnes’ Namen still vor sich hindenkend, im Dunkeln wieder hinunter nach Nr. 117, zündete sein Wachshölzchen an, konstatierte die Nummer und öffnete die unverschlossene Außentür. Dann vorsichtig die andere, die sie gleichfalls offen gelassen hatte. Plötzlich, von einem kalten Luftzug getroffen, verlosch seine kleine Leuchte. Unangenehm kahl hatte der Raum geschienen bei ihrem letzten aufflackern.

Riedhammer, unruhig geworden, machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein. Warum war wohl der Teppich weggenommen?

Behutsam rief er. Keine Antwort. Er blieb wie angewurzelt. Alles war so sonderbar. Das Fenster mußte aufstehen; es war kalt und eigentümlich feucht im Zimmer. Mehr als am Tage machte sich auch ein fataler Geruch bemerkbar. Nach Karbol kam es ihm vor.

Um keinen Lärm zu machen, erregt und zitternd, streckt er die Hände vor, sich am Toilettentisch vorbeizutasten. Er greift ins Leere. Verzweifelt macht er ein paar Schritte. Nichts. Er faßt hier und da ins Dunkel – alles leer. Er ruft noch einmal, lauter, nach Johne – tiefe Stille. Auf einmal sieht er im Dunkeln den Kaminspiegel glänzen, geht darauf zu, faßt danach, es ist die Fensterscheibe. Das Fenster steht weit auf, keine Vorhänge mehr, keine Gardinen. Da faßt ihn etwas an. In wahnsinnigem Schrecken schreit er laut auf und greift danach. Er fühlt ein Stück halbabgerissene Tapete, die sich im Luftzug bewegt. Die Wand, an die er rührt, ist feucht und kahl. Er ist in ein gänzlich fremdes, unheimliches Zimmer hineingeraten.

Nun will er hinaus. Er findet die Tür nicht mehr. Ganz sinnlos dreht er sich ein paarmal im Kreise und stürzt endlich atemlos und schweißbedeckt hinaus.

[…]
Entschlossen ging Riedhammer die Treppen hinunter zum Portier. »Welche Zimmernummer hat Madame Stevens?«

»Madame Stevens?« Der Mann sah lange in die Luft. Dann wandte er sich an einen der Herren, die hinter dem langen Bureautische die Bücher führten. Er räusperte sich: »Existiert eine Madame Stevens hier bei uns im Hotel?«

»Eine Holländerin,« sagte Arnold zitternd vor Ungeduld. Die Herren schlugen nach. »In den letzten Wochen ist hier keine Dame dieses Namens eingetroffen.«

▽ANSELMA HEINE: LEBEN UND WERK

Die Werke der Schriftstellerin Anselma Heine (1854-1930) sind überwiegend in Vergessenheit geraten. Bereits früh ist sie eine leidenschaftliche Leserin und versucht sich am Schreiben von Versen sowie Prosa. So legt sie den Grundstein für viele Erzählungen, Gedichte, Rezensionen, Romane und Theaterstücke, die sie im Laufe ihres Lebens zunächst unter den männlichen Pseudonymen Anselm Heine und Feodor Helm veröffentlicht. Ihr Leben widmet sie dem Schriftstellertum, statt sich Heirat und Familiengründung zu verschreiben. Ihre Befürwortung der Selbstständigkeit von Frauen zeigt sich auch in ihren Werken, welche oft von Frauenschicksalen erzählen. So handelt ihre Novelle „Die Erscheinung“ von dem Schicksal der Frau Johne Stevens, die dem Protagonisten Arnold Riedhammer begegnet, sich verliebt, mit ihm zusammen nach Paris reist und schließlich wie vom Erdboden verschluckt ist.

Setzen Sie nun Ihren Rundgang entlang der Bögen fort. Dabei können Sie sich, wenn Sie wollen, wieder bereits das Werk des nächsten Autors anhören.
Nachdem Sie Innenfeld I hinter sich gelassen haben, gehen Sie einfach noch ein Stück weiter und betreten Innenfeld II relativ mittig. Nur ein paar Schritte weiter ist Richard von Volkmanns Grab – eine größere schwarze Platte.

 ▽ „Wie der Teufel ins Weihwasser fiel“ von Richard von Volkmann (1871)

Daß der Teufel öfters Unglück hat, weiß jedermann. Ja, es kommt so häufig vor, daß man einen Menschen, der Zahnschmerzen hat, oder im Winter mit zerrissenen Stiefeln auf der Chaussee Steine klopfen muß, oder dem sein Schatz an seinem Geburtstage einen Brief schickt, in dem kein Glückwunsch steht, wohl aber eine Absage auf immer – daß man sie alle drei arme Teufel nennt.

Eines Tages schnupperte der Teufel im Kölner Dome umher, in der Hoffnung, vielleicht ein fettes Mönchlein oder eine alte Betschwester zu erhaschen, da stolperte er und – plantsch! – fiel er mitten in das Becken mit dem Weihwasser hinein. Da hättet ihr sehen sollen, was er für Gesichter schnitt, wie er sprudelte und prustete und wie flink er machte, daß er wieder herauskam! Und wie er sich nachher schüttelte und wie ein begossener Pudel davonschlich! Dabei war es noch um die Weihnachtszeit, so daß er vor Frost klapperte, als er vor dem Dome stand, aus dem er schleunigst retiriert war, weil er fürchtete, daß die Frommen es bemerkt haben und ihn auslachen könnten.

»Was fang‘ ich nun an?« sagte er und besah sich von oben bis unten. »Zu Haus, in die Hölle, getraue ich mich in dem Aufzuge nicht. Meine Großmutter würde mir gut den Text lesen. Ich werde auf ein paar Stunden ins Mohrenland gehen, da ist es warm, und ich kann meine Kleider trocknen. Außerdem werden heute dort Gefangene geschlachtet. Hab‘ ich meinen Operngucker mit?«

Er ging also nach Mohrenland, sah beim Schlachten zu, klatschte tüchtig Bravo, wenn es ihm gefiel, und als sein Rock völlig trocken war, trollte er sich vergnügt nach Hause, in die Hölle.

Als er aber kaum in die Stube eingetreten war und die Großmutter seiner ansichtig wurde, ward sie abwechselnd veilchenblau und schwefelgelb im Gesicht und rief: »Wonach riechst du wieder einmal, und wie siehst du aus, du Lump?! Hast du dich schon wieder in den Kirchen umhergetrieben?« – Da erzählte der Teufel stotternd, was ihm passiert war

»Zieh den Rock aus,« herrschte die Großmutter ihn an, »und leg dich einstweilen ins Bett.« Und der Teufel tat, wie ihm befohlen war, und zog sich das blau und rot karierte Federbett so weit über die Ohren, daß unten die schwarzen Fußspitzen herausguckten; denn er schämte sich gewaltig. Die Großmutter aber faßte den Rock mit zwei Fingern an seinem äußersten Zipfel wie die Köchin eine tote Maus am Schwanz. »Brr!« sagte sie und schüttelte sich vor Ekel. »Wie der Rock aussieht!« Dann trug sie ihn in die Gosse, wo der ganze dicke Höllenschlamm und das ganze Spülwasser aus der Hölle abläuft, zog ihn ein paarmal durch, weichte ihn tüchtig ein und wusch ihn in der Gosse. Darauf hing sie ihn über einen Stuhl ans Feuer und ließ ihn trocknen.

Als er ganz trocken war und der Teufel eben schon ein Bein aus dem Bett heraussteckte, um aufzustehen und den Rock anzuziehen, nahm sie den Rock noch einmal und beroch ihn: »Pfui!« sagte sie und nieste, »was doch so ein Kirchengeruch schwer wegzubringen ist!«, holte ein Kohlenbecken, streute ein paar Hände voll klein gehackter Hundehaare und geraspelter Pferdehufe darauf, und wie es so recht brenzlig zu riechen begann, hielt sie den Rock drüber. »So,« sagte sie zum Teufel, »nun ist der Rock rein, nun kannst du dich doch wieder in anständiger Gesellschaft sehen lassen! Aber ich verbitte mir, daß so etwas wieder vorkommt! Verstehst du mich?« –

▽ RICHARD VON VOLKMANN: LEBEN UND WERK

Richard von Volkmann (1830-1889) ist vor allem bekannt für seine Leistungen im chirurgischen Bereich. Der studierte Mediziner schreibt allerdings auch literarische Werke, wenn auch nur selten, welche er unter dem Namen Richard Leander veröffentlicht. Seine Werke sind in Vergessenheit geraten, was überraschend ist angesichts des Erfolgs seiner Märchensammlung „Träumereien an französischen Kaminen“. Darin sind 22 Märchen enthalten, die er während seiner Tätigkeit als Generalarzt der preußischen Armee in der Belagerung von Paris 1870/71 für seine Frau und Kinder zu Hause schreibt. Mit dem poetischen, fantasievollen aber auch leicht ironischen Stil der Kunst- und Volksmärchen erreicht das Werk über 300 Auflagen sowie über 1 Million gedruckte Exemplare.

Literaturtipps

Heine, Anselma: Der Zwergenring. Erzählung aus Goethes Jugendland. Berlin, 1925.

Heine, Anselma: Die Erscheinung. Berlin, 1927.

Heine, Anselma: Die verborgene Schrift. Ein Roman aus dem Elsaß. Berlin [u. a.], 1918.

Heine, Anselma. Mein Rundgang. Stuttgart, 1926.

von Volkmann, Richard (alias Richard Leander): Alte und neue Troubadour-Lieder. Breitkopf und Härtel, Leipzig, 1889.

von Volkmann, Richard (alias Richard Leander): Träumereien an französischen Kaminen. Hesse & Becker Verlag, Leipzig 1871.

Vom Stadtgottesacker nehmen Sie den Ausgang zum Hansering und laufen den Hansering nach rechts runter. Biegen Sie dann links in die Rathausstraße hinein.