Tripperburg in der Kleinen Klausstraße

„Ich habe gedacht, hier stimmt irgendetwas nicht, hier geht irgendwas nicht, ist irgendwas nicht in Ordnung hier und dann haben sie mich hier in die Tripperburg gebracht.“ 

– Patientin, Interview aus Disziplinierung durch Medizin (2014)

Augenscheinlich nicht mehr erkennbar, befinden Sie sich in der Kleiner Klausstraße 16 vor einer ehemaligen Poliklinik, in welcher von 1962 bis 1982 Frauen auf der geschlossenen Venerologischen Station inhaftiert waren. Mädchen ab 12 Jahren wurden aufgrund von vermeintlichen Geschlechtskrankheiten staatlich medizinischer Gewalt ausgeliefert. Diese Venerologischen Stationen sind auch als „Tripperburgen“ bekannt und waren Teil des sozialistischen Erziehungssystems der DDR. Seit September 2015 befindet sich in der Kleinen Klausstraße ein Gedenkstein für die Opfer der Tripperburg Halle. Ein fast vergessener Skandal, der nun auch literarisch aufgearbeitet wurde. 

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Tripperburg

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Tripperburg 51.483706, 11.967983

Setzen Sie sich vielleicht in eines der gastronomischen Einrichtungen in der Großen Nikolaistraße und betrachten Sie eine der ehemaligen Polikliniken, während Sie Einblicke in die Zwangseinweisung von jungen Frauen in Krankenhäuser der DDR erhalten.

Triggerwarnung: staatlich sexualisierte Gewalt durch
medizinisches Personal

„HERUMTREIBERINNEN“ VON BETTINA WILPERT (2022)

»Auf der Tripperburg 
Montag, 20. Juni 1983

Da war mein Körper. Meine Augen nahmen nur Einzelheiten war. Ich blickte auf meine Zehen, sah, wie sie sich kantig krümmten, meine Nägel viel zu lang, ich hasste Zehennägel schneiden und vernachlässigte es; meine Waden mit unregelmäßig wachsenden Haaren, an den Fesseln waren sie am dichtesten, zu den Knien hin wurden sie lichter, an den Oberschenkeln dann nur mehr heller Flaum, kaum zu erkennen; Meine Scham, die ich nicht sehen konnte, das krause scharzgrauen Schamhaar verdeckte sie; mein Hüftkochen, der links herausragte, weil ich mein Gewicht auf das rechte Bein verlagert hatte. 

Die Schwester näherte sich mir mit einer Schere. Instinktiv wollte ich zurückweichen, aber ich war schon an der Wand, der Raum war klein. Meine Locken sollten ab. Kurz sah ich die Zukunft: Wie ich mir ins Haar fasste, fassen wollte, um meine Locken um den Zeigefinger zu wickeln, eine Beschäftigung, der ich meist im Unterricht nachging, wenn mir langweilig war, und wie ich ins Leere fassen würde, wie da keine Haaren wären, keine Locken. Wie fühlt sich nackte Kopfhaut an? 

Doch wie soll man mit einer Schere die Haare abrasieren? Diesen Zaubertrick bekamen sie selbst in der Lerchenstraße nicht hin. Sie schnitten meine Locken kurz, Haare hatte ich danach noch auf dem Kopf, aber keine Frisur. Die abgeschnittenen Haare klebten an meinem Körper, vermischten sich mit denen, die noch wuchsen, sammelten sich in den Schamhaaren, sodass es juckte. 

Der Kittel, den sie mir hinwarfen, war grau, es war besiegelt: ich im Gefängnis. Die Schwester führte mich in einen anderen Raum. Ich konzentrierte mich auf ihren Daumen, der sich in meinen Bizeps grub, diese Berührung schärfte meine Sinne, sodass ich die Welt klar wahrnahm. Doch die Welt bestand nur aus meinen Zehen, meinen Zehennägeln, meinen Oberschenkeln, meinen Bauchnabel. Meinen Armen. Als mit mir gesprochen wurde, öffnete sich ein kleines Fenster meiner Kapsel. Ich war in einem Büro und wurde gegenüber einer Frau und einem Mann gesetzt.

Der Mann schrieb, die Frau sprach; der Mann war jünger als die Frau, sie stellte sich vor, ich vergaß den Namen sofort wieder, sie trugen keine Kittel, sondern Kasacks, waren also Mitarbeiter dieses Krankenhauses oder Gefängnisses, keiner nannte mir die richtigen Bezeichnung für die Tripperburg.

Sie fragten ab: Name, Adresse. Mussten sie es nicht schon wissen, hatten sie nicht meinen Ausweis eingesteckt? Hatten sie ihn verloren? Ich nannte die Informationen, sie fragten weiter: Größe, Gewicht, alles. Hinten in der Ecke stand ein Gummibaum auf einer Blumenbank, ich konzentrierte mich auf ihn, wollte nicht mit meinen Zehen in einem Raum sein, wollte lieber die Blätter der Zimmerpflanze zählen. 

Partner, fragte sie. Ich dachte an Maxie, die war meine Partnerin, aber warum sollte ich ihnen das erzählen? Der Mann schrieb unablässig, auch wenn ich nichts sagte. Was schreib er auf? Protokollierte er mein Verhalten, mein Nicht-Verhalten? Er war jung, ein bisschen älter als mein Bruder, die Frau war klar die Vorgesetzte, er musste ausführen, vielleicht ein Praktikant.

Geschlechtspartner, fragten sie. Der Gummibaum rückte in die Ecke, mein Verstand kehrte zurück, mein Körper drückte. Ich schüttelte den Kopf. Keine Geschlechtspartner. Ich solle nicht lügen, sie hätten mich doch im Heim gefasst, bei den ausländischen Werktätigen, da sei kein Frauenbesuch gestattet, und es war klar, was Frauenbesuch dort bedeutete.

Sie war eine direkte Frau. Sie mochte es klar und eindeutig: Alle Utensilien, die auf dem Tisch lagen, Papier, Stifte, Stethoskop und Leuchte waren parallel und in identischem Abstand zueinander angeordnet. Ihre Augenbrauen bildeten einen dicken Strich, ihre Brille rutschte unablässig vom Nasenbein, während sie sprach. Ich verstand nicht, was sie sagte, ich konnte meine Sinne nicht mehr kontrollieren, sie machten, was sie wollten, hörten nicht zu, als könnte ich die Ohren verschließen wie die Augen. Dauernd schob die Frau die Brille mit dem Mittelfinger nach oben, der junge Mann wirkte auch genervt davon.

Ich nickte, ich sei im Heim gewesen, aber wir hatten keinen Geschlechtsverkehr. Wann hatte ich das letzte Mal Geschlechtsverkehr? Noch nie, sagte ich. Der Kopf der Frau machte eine Bewegung, die weder Schütteln noch Nicken war, der Mann schrieb, ich hörte das Kratzen auf dem Papier. 

Die Tripperburg heiße nicht umsonst Tripperburg, sagte sie, der Mann nickte. Ich stehe unter Verdachte, eine Geschlechtskrankheit zu haben, man würde mich gleich untersuchen auf Gonorrhoe und Streptokokken und so weiter, alles was solche wie ich eben hätten. Was Untersuchen bedeutete, erklärten sie mir nicht. Sie sagte: Laut Paragrafen soundso sei es gesetzeswidrig, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten; ein Luftzug brachte einen Geruch in den Raum, der mich an Birnen erinnerte. Alles Geschlechtspartner von mir müssten ebenso untersucht werden, bekämen eine Vorladung, ich solle ihren Namen nennen, für ihre Gesundheit. Ich sagte nichts. Appellieren hilft bei der nichts, meinte die Frau zu dem jungen Mann gewandt, als könnte ich sie nicht hören. Ich wiederholte, ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr. Sie seufzten, sie legten den Stift auf das Blatt, legten das Blatt in einen Ordner, klappten den Ordner zu. Sie führten mich in einen anderen Raum, ich fror unter dem grauen Kittel.

[…]

Auf der Tripperburg 
Montag, 20. Juni 1983

Im nächsten Raum ein Stuhl mit vier Armlehnen; ich auf dem Stuhl, die Beine nach oben, zwei der Armenlehnen stellte sich als Beinlehnen heraus; Gesäß nach vorne hieß es, ich klappte mein Becken ein, die Schwester schloss die Schnallen um meine Fesseln. Sie führte ein weißes Röhrchen, das den Umfang eines Fünf-Mark-Stücks hatte, in mich es, es war kalt. Ich hatte noch nie innen gefroren. Die Schwester rammte, drehte, stieß, ich schrie und sie schlug mir auf den Oberschenkel, ich sollte mich nicht so anstellen. Ich blutete. 

Sie löste die Schlingen um meine Fesseln, wieder in der Vertikalen spürte ich das warme Blut an meinen Innenschenkeln hinablaufen, ich ging nicht gerade. Wenn ich breitbeinig auftrat, meine Beine in O-Form setzte spürte ich den Schmerz weniger.

Die Schwester reichte mir eine Unterhose und Socken, zündete eine Zigarette mit einem Streichholz an, das sie aus einer Schachtel, die in ihrer linken Brusttasche verstaut war, geholt hatte und reichte sie mir, bevor sie den Raum verließ; der Rauch benebelte mein Hirn und meine Sicht. Ich dachte nichts. Ich konzentrierte mich auf das Ziehen an der Zigarette. Ich schwitze, die Sonne schien unnachgiebig auf das Flachdach des roten Backsteinbaus. Im Hof sah ich einen Birnbaum. Bevor ich die Zigarette auf den Boden warf, überlegte ich, sie auf meinen linken Arm auszudrücken. Tat es nicht. Eine neue Schwester gab mir Bettwäsche, ich solle meinen Platz im Schlafraum beziehen. 

Im Schlafraum hielte sich mehrere Frauen in den gleichen Frauen Kitteln wie ich auf, nur eine sah mich an, als ich hineinging, ihre roten Haare erleuchteten den sonst kargen Raum, und sie fragte: Alles schick?«

„Falsch erzogen“ von Mona Krassu (2020)

»Wir stiegen auf einer Huckelstraße aus. Mutter knickte um.
„Scheiß Kopfsteinpflaster“, sagte Vater.
Ich suchte nach einem Bus- oder Bahnsteig, fand aber keinen. Susanne war wach. Sie stand neben Mutter und hielt sich an deren Hosennaht fest. Vater saß auf dem Koffer und rauchte schon wie-der. Ich sah mich um. Da war kein Meer. Mutter schirmte die Augen ab und zeigte nach rechts. „Da müssen wir lang.“ Vater seufzte. Er stand vom Koffer auf, trat die Zigarette aus und stapfte hinter Mutter und Susanne her. Ich setzte mich ins Gras.

„Solveig, komm endlich.“ Vater drehte sich kurz zu mir um.
„Ich denke, du willst das Meer sehen.“
Wollte ich nicht. Ich wollte nach Hause, mein Puppentheater bas-teln, mit Frau Becker “ Flieg mein Hütchen spielen oder in den Pantoffelhort gehen. Ich fragte mich, wo das Meer war. Außer den Steinen war da nur Gras und Erde und weiter hinten ein paar Häuser, die komische Dächer hatten.
„Das sind Reetdächer.“, sagte Mutter. Für mich sahen sie eher aus wie Elkes Haare und an Elke wollte ich jetzt nicht denken.
Susanne blieb stehen. Sie fing an zu weinen. Mutter trug sie.
„Ich kann auch nicht mehr“, sagte ich.
„Ist nicht mehr weit“, sagte Vater.

Tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis Vater den Koffer vor einer Tür abstellte und klingelte. Ferienheim des VEB… Das Wort danach konnte ich nicht lesen, weil die Tür geöffnet wurde. Eine alte Frau mit Dutt begrüßte uns. „Beeke“, sagte sie und händigte Vater einen Schlüssel aus. Sie strich Susanne und mir über den Kopf und wünschte uns einen schönen Urlaub.

Vater reichte den Schlüssel an Mutter weiter und trug den Koffer nach oben. Stieg die Holztreppe wieder runter und holte die Reisetasche.
„Komm hoch, oder willst du hier unten stehen bleiben?“ Ich schaute zur Treppe. Sie war schmal. Die Stufen hatten bei jedem Schritt geknarrt.
„Du wirst doch vor einer Treppe keine Angst haben!“ Er lachte.
„Du bist müde“, sagte er.
„Bin ich nicht.“
Ich stieg hinter ihm die Treppe hoch. Auch bei mir knarrten die Stufen und ich hatte das Gefühl, sie würden sich biegen. Vielleicht wollte die Treppe nicht bestiegen werden.

Vater öffnete die Tür zu einem Zimmer, in dessen Mitte ein Ehebett stand. Mutter und Susanne lagen auf dem Deckbett. Susanne schlief. Sie hatte ihre Schuhe noch an. Ich schaute zu Mutter.
Auch sie hatte die Augen geschlossen, sagte Vater aber, er solle den Koffer auf den Tisch heben. Vater ließ Koffer und Tasche vor dem Bett stehen. 

[…]

Vierzehn Tage später waren die Wände neu tapeziert, und der alte Kleiderschrank aus Sannes und meinem Kinderzimmer stand an der Wand neben der Tür. Vater hatte ihn mit Bertolero bei Mutter abgeholt. Ich hatte mich geweigert mitzukommen.

Bis in die Nacht hatte Vater mit Bertolero am Küchentisch gesessen und Bier getrunken. „Jetzt ist der auch weg“, hatte Vater mehrmals gesagt und mit Bertolero darauf angestoßen. Erst ein paar Tage später bekam ich mit, dass es um Hartmut gegangen war. Hartmut wohnte nicht mehr bei Mutter. Ich ging trotzdem nicht zu ihr.
Wir trugen Vaters Sessel in mein Zimmer.
„Ich hab doch die Couch“, sagte er. Ich fiel ihm um den Hals.
Ich trug alle Decken zusammen, die ich finden konnte. Gleich heute Nacht wollte ich in meinem Zimmer schlafen. Vater zog die Matratze hinter der Pressspanwand vor. Er trug sie alleine über den Flur. Sie schliff auf dem Boden. Ich fasste am anderen Ende zu.
„Kannst es nicht erwarten von mir weg zu kommen“, sagte er, lachte aber. Ich wurde trotzdem traurig.
Und dann lag ich in meinem eigenen Zimmer auf der Matratze und konnte nicht einschlafen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Reagenzgläser und große Hände. Ich riss die Augen auf und drehte mich zur Fensterwand. Ich versuchte den Himmel zusehen. Da war nur Grau, dass immer dunkler wurde. Ich hatte Nässe und Rotz im Gesicht, aber kein Taschentuch. In meinem Zimmer gab es kein Taschentuch. Darüber musste ich lachen.
Es war komisch, ich lachte und heulte gleichzeitig.
Ich biss mir auf den Handrücken, um nicht zu schreien. Ich drehte mich zur Wand, dann wieder zum Fenster, dann wieder zur Wand. Irgendwann stand ich auf, drückte meine Stirn an die Wand. Wie ein Baum im Wald, flüsterte Frau Sattler in meinem Kopf. Jetzt stand ich mitten im Zimmer mit leicht gegrätschten Beinen und atmete. Ich atmete einfach nur ein und aus und ich legte dabei die Hand auf meinen Bauch. Jetzt atmete ich wieder richtig, wieder so, dass Luft in meine Lunge strömte.

„Liebeskummer, was?“, fragte Vater, als ich am Morgen in die Küche kam. „Am besten, du lässt es“, sagte er. Ich sagte nichts.
Ich verzog mich aufs Klo.
Auch während der Arbeit ging ich dauernd aufs Klo. Ich wartete auf meine Periode. Schon seit Wochen wartete ich auf den Mist. Aber da war nichts. Nicht mal Schmerzen hatte ich. Das erschreckte mich noch mehr. Denn seit meinem Zwangsaufenthalt in der Klinik hatte ich immer Schmerzen da unten.«

Ein fast vergessener Skandal

Die Tripperburg in Halle war kein Einzelfall. Seit den 1950er Jahren waren sie in fast allen größeren Städten der DDR zu finden – Berlin, Dresden, Erfurt, Gera, Leipzig, Rostock etc. Diese Stationen sind entstanden, um die während des Zweiten Weltkriegs entstandene Welle von Geschlechtskrankheiten in der DDR zu bekämpfen. Allerdings wurden sehr schnell nicht mehr nur Geschlechtskrankheiten behandelt, sondern auch versucht Prostitution zu regulieren und Mädchen zu erziehen. HwG-Personen (Häufig wechselnde Geschlechtspartner), Asoziale oder auch Herumtreiberinnen so wurden alle Mädchen und Frauen bezeichnet, die nicht in das sozialistische Einheitsbild der DDR passten. Frauen, die nicht ordentlich arbeiten gingen und als faul bezeichnet wurden. Frauen, die nicht monogam lebten, die in Bars gesichtet wurden, die der Prostitution verdächtigt wurden, aber vor allem Mädchen aus Heimen, angeblich schwererziehbare Jugendliche, oder Mädchen, die Freundschaften zu anderen angeblich staatsfeindlichen Personen pflegten.

Mädchen und Frauen in allen Altersklassen wurden in den Tripperburgen für mehrere Wochen zwangseingewiesen und medizinisch versorgt. Allerdings wurden die angeblichen Geschlechtskrankheiten nicht nur wochenlang mit Antibiotikum behandelt, sondern die Frauen mussten täglich gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen, die grob und schmerzhaft ausgeführt wurden. Selbst bei offensichtlich jungfräulichen Mädchen wurden die täglichen Abstriche durchgeführt. Ihnen wurden die Haare abgeschnitten, Fieberspritzen verabreicht, sie mussten auf Holzhockern schlafen.

Wilpert und Krassu erzählen schonungslos die Geschichten von Mädchen und Frauen, die Opfer dieser Disziplinierungstaten wurden.

Interviewausschnitte von Patientinnen aus „Disziplinierung durch Medizin“ (2014)

»Ja. Also, wir sind 1976, ich und meine Freundin, für sechs Wochen durch die DDR getrampt, einfach. Warum wir das gemacht haben, wir wollten einfach weg von zu Hause. Ich hatte sehr viel Probleme zu Hause und naja, dann haben sie uns von der Polizei aufgegriffen, haben uns in, ich weiß nicht, was das war, Durchgangsheim oder so was dann, dahin gebracht und dann sind wir irgendwann zu unseren Eltern zurückgeführt worden und dann bin ich wieder auf meine Lehrstelle gegangen und habe dort wieder meine Arbeit, bin wieder meiner Arbeit nachgegangen und auf einmal wurde ich zum Chef gebeten. Ich weiß nicht, ob es an dem Tag war oder am anderen Tag, das kann ich jetzt nicht mehr genau sagen, und da wurde gesagt, da sind zwei Männer, die sind vom Polizeipräsidium, aber die hatten keine Uniform an, sondern waren in Zivil gewesen und du sollst mit denen zum Polizeirevier gehen und du würdest danach wieder zu deiner Arbeitsstelle kommen, hat der Chef gesagt und die Männer auch. Wir haben gesagt, es geht darum, hier, wo ihr euch die sechs Wochen rumgetrieben habt da, was da war, da müsst ihr Aussagen machen. So, und dann musste ich zum Polizeirevier auf dem Hallmarkt und ja, da kam das da alles so. Was habt ihr gemacht und eben die Vernehmung und so alles so weiter und sofort. Du kannst doch zugeben, dass ihr euch prostituiert habt, ihr wart doch in Leipzig. Und da habe ich gesagt, wir haben uns nicht prostituiert, wir haben dort in der Gaststätte einen Kellner kennengelernt und der war homosexuell gewesen und der hat uns mit in seine Wohnung in Leipzig mitgenommen, weil wir so lange in der Gaststätte gesessen hatten und der hat gesagt, habt ihr kein Schlafplatz oder was. (…) Ich hatte so ein komisches Gefühl. Ich habe gedacht, hier stimmt irgendetwas nicht, hier geht irgendwas nicht, ist irgendwas nicht in Ordnung hier und dann haben sie mich hier in die Tripperburg gebracht.« (S.112-113)

»Ich war damals 15 Jahre alt und wusste nicht, was mir geschieht. Ich wurde vom Durchgangsheim Goldberg in Halle an der Saale, von dort wurde ich eingeliefert. Das Erste, was sehr unangenehm war, ich bin da reingekommen, wir mussten uns alles ausziehen. Wir standen praktisch nackig im Behandlungszimmer, wurden untersucht auf brutalste Weise. Ich hatte damals lange Haare, die wurden mir abgeschnitten. So abgeschnitten, also da konnte man keine Frisur mehr machen. Wir haben dann Kopftücher bekommen, jeder ein Schlüpfer, solche komischen Latschen und ein ellenlangen grauen alten Kittel und den mussten wir anziehen. Und dann wurde man auf der Station eingeführt und was mir eigentlich sehr aufgefallen war, dass war eine Gitterbox direkt am Eingang mit einem Holzhocker drinnen und da wurde gleich gesagt, wenn wir nicht das machen, was ihr wollt, dann kommt ihr 24 Stunden da rein und wenn ihr dann noch nicht pariert, dann werdet ihr mit eiskaltem Wasser übergossen. Dann wurde ich in so einen Schlafsaal geführt, da wurde mein Bett und dann wurde die Wäsche da draufgeknallt und ich musste dann das Bett beziehen und eine Stunde später war wieder eine Untersuchung und dann habe eine Spritze bekommen und dann bin ich schon auf dem Weg zum Zimmer zusammengebrochen, sodass mich die anderen Patienten ins Bett reinlegen sollten und das durften die nicht, also wurde ein Schlaflager unten auf der Erde gemacht mit einer Decke und einem Kissen und ich habe dann Schüttelfrost gehabt, mir wurde übel, habe gebrochen, ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Das war alles wie gelähmt.« (S.121-122)

»Und dann war dann so am nächsten Früh, mussten wir um 6 aufstehen, also schon eher. Um 6 mussten wir alle vor dem Behandlungszimmer stehen in Reih und Glied, wie bei der Armee. Dann durften wir nicht reden, mussten wir den Mund halten und dann musste jeder Einzelne dann rein und dann haben sie einen Abstrich gemacht (…) dann musste ich da hoch auf dem Stuhl und dann habe ich schon draußen, wo wir noch draußen gestanden haben, habe ich schon gehört, wie die eine gesagt hat, oh Kurbeldora ist wieder da. Und dann habe ich nachher im Nachhinein erfahren, dass die sehr brutal war, die Schwester, ja. Und naja, dann habe ich mich da hingelegt und da muss die wohl das dickste Röhrchen genommen haben, was es gibt, jedenfalls hatte ich das Gefühl, das tat so weh und da habe ich da aufgeschrien und da hat die mir mit der Zange oder was die da in der Hand hatte, hat die mir auf den Oberschenkel gehauen, ja, ich soll mich nicht so anstellen, wo ich mit dem Jungen zusammen war, habe ich auch nicht geschrien und naja. Da hatten die dann einen Abstrich gemacht und dann konnte ich wieder gehen, raus da, ja. (…) Und dann bin ich dann da raus und dann habe ich so geblutet, ich habe gedacht, ich habe meine Regel, ja, so derb war das, aber wahrscheinlich durch der ihre Brutalität, ja. Und das war jeden Früh, 4 Wochen, jeden Früh.« (S.123)

Falls Sie noch etwas mehr Zeit mitgebracht haben, schauen Sie doch mal in das Feature Kleine Klaus 16 Halle, die „Tripperburg“ und ich von Irene Schulz hinein. Irene bietet in ihrem Feature Interviews mit verschiedenen Zeitzeugen zum Anhören oder Durchlesen.
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Literturtipps & Nachweise

Behling Klaus und Jan Eik: Vertuschte Verbrechen. Kriminalität in der Stasi. Militzke Leipzig, 2007.

Brüning, Steffi: Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989. be.bra Wissenschaft Verlag Berlin, 2020.

Krassu, Mona: Falsch erzogen. Edition Outbird 2020. 

Schochow, Maximilian: Zwischen Erziehung, Heilung und Zwang: Geschlossene Venerologische Einrichtungen in der SBZ/DDR. Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 2019.

Schulz, Irene: Kleine Klaus 16. Halle, die „Tripperburg“ und ich. Halle (Saale), 2023. kleineklaus16.

Sommermond, Juli: Tod einer Kinderseele. Band I: Von Geburt zu Geburt. Books on Demand, 2013.

Steger, Florian und Maximilian Schochow: Disziplinierung durch Medizin. Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 bis 1982. Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 2014.

Steger, Florian und Maximilian Schochow: Traumatisierung durch politisierte Medizin. Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2016

Strehler, Stefan: Annelore Bigalke-Zell. „Mach was aus dir!“ Eine Lehrerin erzählt aus ihrem Leben. Rohnstock-Biografien Berlin, 2006.

Wilpert, Bettina: Herumtreiberinnen, Verbrecher Verlag Berlin, 2022. S. 73-75/ S.78-79.