Kontraste der Weiblichkeit
Das Waldweib Ruel und die Ideale höfischer Frauen im »Wigalois«
Jeder Vierte fühlt sich durch Schönheitsideale unter Druck gesetzt. 1
Es sind alarmierende Ergebnisse, die im August dieses Jahres vom MDR veröffentlicht wurden. Laut einer Studie, an der etwa 20.000 Menschen aus Mitteldeutschland teilgenommen haben, fühlt sich jede vierte Person durch Schönheitsideale unter Druck gesetzt.2 Frauen sind davon doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Ergebnisse der Studie sind auf den ersten Blick überraschend, haben wir in den letzten Jahren doch eine immer größer werdende Bewegung zur Akzeptanz unterschiedlicher Körperformen erlebt. Die ›Body Positivity‹ ist eine dieser Bewegungen. Sie wendet sich gegen ungesunde Schönheitsideale und versucht eine positive Grundeinstellung zum eigenen Körper zu erzielen. Vor dem Hintergrund dieser weltweiten Bewegung ist es umso bedenklicher, dass vor allem Frauen immer noch unter Schönheitsidealen leiden. Ein Grund hierfür sind die unrealistischen Bilder, die durch Social Media verbreitet werden. Im März 2023 gerät beispielsweise ein neuer TikTok-Filter mit dem Namen ›Bold Glamour‹ in die Schlagzeilen, der das Gesicht der Nutzer:innen so stark verändert, dass Psycholog:innen vor mentalen Auswirkungen auf die Gesundheit warnen.3 Große volle Lippen, eine schmale Nase, hervortretende Wangenknochen, weiche Haut und ein symmetrisches Gesicht – dieses unrealistische Schönheitsideal setzt der Filter als vermeintliche Realität. Die Gefahren, die von diesen Idealen vor allem für Jugendliche ausgehen, dürfen nicht unterschätzt werden. Der Filter bewirkt nämlich, dass »wir nach dieser engen Definition von Schönheit streben und das Gefühl haben, dass mit uns etwas nicht stimmt, wenn wir sie nicht erreichen«.4 Die Folgen können nicht nur Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, sondern auch Essstörungen, ein geringes Selbstwertgefühl und gravierende psychische Probleme sein.5
Schönheitsideale wie diese sind jedoch nichts Neues – es gab sie schon immer und es wird sie auch in Zukunft geben. So lassen sich bereits im Mittelalter Ideale der Weiblichkeit und Männlichkeit finden. Die klassischen Rollenbilder in der mittelalterlichen Literatur sind in der Mediävistik bereits viel erforscht worden. In Wirnt von Grafenbergs Wigalois lassen sich diese Schönheitsideale ebenso finden wie in anderen mittelalterlichen Werken. Dort sind an vielen Stellen genaue Beschreibungen schöner Frauen zu lesen, die ein explizites, weibliches Idealbild vermitteln. Besonders spannend ist hierbei allerdings, dass im Wigalois zudem auch Andersartigkeit thematisiert wird. So sticht das Waldweib Ruel durch eine detaillierte Beschreibung ihres ungewöhnlichen und von der Norm abweichenden Aussehens besonders hervor. Mit Blick auf die heutigen Bewegungen zur Akzeptanz unterschiedlicher Körperformen, stellt sich die Frage, ob es nicht bereits im Mittelalter einen Ansatz zum Aufbruch konventioneller Frauenbilder gegeben hat und ob das Waldweib Ruel somit einen revolutionären Charakter darstellt.
Der folgende Aufsatz beschäftigt sich tiefergehend mit der Darstellung Ruels im Vergleich zu den beiden höfischen Frauen Larie und Florie. Dabei soll zunächst auf die Konzeptionen idealer Weiblichkeit in der höfischen Epik geblickt werden. Im Anschluss an den theoretischen Aspekt folgen meine Ausarbeitungen zum Wigalois, im Rahmen derer die drei ausgewählten weiblichen Charaktere und ihr Aussehen in ihrer Chronologie analysiert werden. Abschließend wird die Frage geklärt, ob Ruel durch ihr ungewöhnliches Aussehen einen Ansatz zum Aufbruch konventioneller Frauenbilder darstellt.
Konzeptionen idealer Weiblichkeit in der höfischen Epik
Im Hochmittelalter etablieren höfische Dichter ein neues Frauenbild, welches sich von dem vorherigen stark abwendet. Bevor sich das neue Bild entwickelt, werden Frauen als minderwertig und bedürftig dargestellt.6 Frauen sind demnach unrein und sündig. Sie sind das ›schwache‹ Geschlecht und den Männern in allen Punkten unterlegen. Sie müssen den Männern dienen und stehen in der Pflicht, sich ihnen unterzuordnen. Begründet wird diese mittelalterliche Ansicht damit, dass die Nachrangigkeit der Frau bereits Konsequenz ihrer Erschaffung aus der Rippe des Mannes ist.7 Darüber hinaus besitzen Frauen laut der mittelalterlichen Sicht eine vermeintliche geistige und moralische Schwäche, weshalb sie unter der Vormundschaft des Mannes stehen müssen.
In der höfischen Epik entwickelt sich schließlich ein neues Bild des weiblichen Geschlechts. Es entsteht das Ideal der höfischen Frau. Sie wird zur unerreichbaren vrouwe, die vom Mann hoffnungslos angebetet wird und seinen Kampfesmut steigert.8 Bevor ein Blick auf die höfische Frau geworfen wird, muss zuerst der Begriff höfisch betrachtet werden. Das Wort kommt von dem Substantiv Hof. Es bedeutet so viel wie »dem Hofe gemäß« oder »den guten Eigenschaften und Gewohnheiten und Sitten des Hofes gemäß«.9 Die höfische Frau stammt also aus adeligen Verhältnissen und besitzt besonders positive Charaktereigenschaften verbunden mit einem guten Benehmen. In der mittelalterlichen Literatur zeichnet sich die höfische Frau durch Eigenschaften wie Tugendhaftigkeit, Güte und moralische Vollkommenheit aus.10 Die innere Tugend der Dame steht dabei im Zusammenhang mit der äußerlichen Schönheit. Des Weiteren gehören eine höfische Bildung sowie Treue und Fügsamkeit gegenüber den Eltern oder dem Ehemann zu den Eigenschaften einer vrouwe. So zeigt sich die weibliche Treue häufig in einer (langanhaltenden) Trauer oder Klage, wenn der Partner der Dame getötet wird oder verstirbt.11 In der höfischen Dichtung manifestiert sich die höfische Frau als das weibliche Idealbild – in gewisser Weise auch als Traumbild. Die höfische Frau stellt dar, wie die damalige Dame sein soll und fungiert als Vorbild. Die Dame wird als Inbegriff der Vollkommenheit dargestellt und teilweise sogar vergöttert. Im Gegensatz zum vorherigen Frauenbild ist die höfische Frau dem Mann vor allem im Minnesang übergeordnet. Zudem zeichnet sie sich durch ihre Idealität und Unerreichbarkeit aus, wodurch sie bei den Männern zu einem Wunschobjekt wird.12
Das neue Frauenbild stellt allerdings in keiner Weise die Realität der mittelalterlichen Zeit dar. Die Frauenverehrung ist lediglich eine literarische Konstruktion, in der Gesellschaft ist die Frau weiterhin dem Mann untergeordnet. Einer der Hintergründe der höfischen Idealisierung ist die christliche Vorstellungswelt. So gibt es im Mittelalter eine starke Marienverehrung, die sich vor allem in literarischen Werken finden lässt.13 Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass sich die Verehrung der Gottesmutter Maria auf eine allgemeine Frauenverehrung ausgeweitet hat.
In der Verehrung der Frau lässt sich eine wichtige gesellschaftliche Funktion erkennen. »Durch ihre Schönheit und Vollkommenheit weckt sie im Mann die Kraft der hohen Minne«.14 Sie vermittelt den Männern ein Hochgefühl höfischer Freude und soll sie zum Minnedienst animieren. Allerdings bleibt es die einzige Funktion der Frau, den Mann zur Selbstverwirklichung zu bewegen. Eine eigene Aufgabe hat die Frau in der mittelalterlichen Literatur nicht.
Ein Kennzeichen der höfischen Frau ist ihre außerordentliche Schönheit. In der germanistisch- mediävistischen Forschung wird körperliche Schönheit auf Tugend projiziert.15 Demnach ist Schönheit der »Spiegel der inneren Vollkommenheit«.16 Dies lässt sich damit begründen, dass das »normbildende höfische Frauenideal dies verlangt und weil es der Rolle der Umworbenen und Liebespartnerin entspricht, welche die Frauen in den Dichtungen der Zeit meist innehaben«.17 Im Zentrum der höfischen Epik steht die Überzeugung, dass Liebe durch den Anblick von Schönheit entsteht und zur Vervollkommnung des Mannes führt. Das Aussehen der Frau ist das ausschlaggebende Kriterium, weshalb sich ein Mann für sie entscheidet. In der Regel sind schöne Frauen auch höfische Frauen. So offenbart sich in der körperlichen Schönheit die innere Tugend der Dame.18
Es stellt sich nun die Frage, was in der höfischen Literatur als äußere Schönheit verstanden wird. In der mittelalterlichen Epik wird Schönheit oft nur behauptet, ohne dass diese genau definiert wird. Generell lässt sich jedoch sagen, dass das Schöne als etwas Objektives aufgefasst wird.19 Stellenweise lassen sich stereotype Zuschreibungen finden. So werden blasse, junge und schlanke Frauen besonders oft als schön bezeichnet. Zudem kann kostbare Kleidung zu äußerer Schönheit beitragen.20
In der mittelalterlichen Literatur lassen sich überwiegend schöne Frauen finden. Eine hässliche Dame widerspräche dem höfischen Frauenbild. Trotzdem können in manchen höfischen Werken auch von der Norm abweichende Frauenbeschreibungen gefunden werden.
Es stellt sich daher die Frage, was im Mittelalter unter dem Begriff ›hässlich‹ verstanden wird. Im Alt- und Mittelhochdeutschen ist ein Wort mit der heutigen Bedeutung nicht nachweisbar.21 Zwar existiert ein Adjektiv mit der gleichen Lautform heszlich, doch »dieses Adjektiv fungiert nicht, wie heute, als Gegenbegriff zu schön«.22 Stattdessen lässt es sich mit feindselig oder hassenswert übersetzen. In der höfischen Literatur können trotzdem Begriffe gefunden werden, die für unsere heutige Auffassung von hässlich genutzt werden. So werden unschöne Menschen als undaere, ungevüege, ungehiure oder boese bezeichnet. Wie bereits erwähnt, ist Schönheit ein Attribut, welches der höfischen Gesellschaft zugeordnet wird. Hässlichkeit dagegen wird mit dem Nicht-Höfischen oder den niederen Ständen in Verbindung gebracht.
Ebenso wie es für die weibliche Schönheit eine Idealvorstellung gibt, lassen sich bestimmte Aspekte für die Hässlichkeit finden. Es können drei Merkmalskomplexe für die Hässlichkeit festgehalten werden. Das erste Merkmal stellt die Tierähnlichkeit dar.23 In der spätmittelalterlichen Literatur kommt vermehrt die wilde frouwe vor.24 Sie ist ein Zwischenglied zwischen einem Menschen und einem Tier. Die weibliche Hässlichkeit wird dort mit Riesenhaftigkeit und Gewalt verbunden.25 Das Wort wilde kann laut dem mittelalterlichen Wörterbuch mit Adjektiven wie beispielsweise wüst, fremd, seltsam, dämonisch, untreu oder auch irre übersetzt werden. Das mittelalterliche Wort wilde hat also eindeutig eine negative Konnotation. Auch bei der Verwendung des Wortes wird dies deutlich, so wird damit eine starke Normabweichung ausgedrückt.26 In Bezug auf die wilde frouwe lässt sich festhalten, dass diese nicht den höfischen Idealen entspricht und sich außerhalb der sozialen Ordnung befindet.
Auch eine dunkle Hautfarbe ist ein Merkmal von Hässlichkeit. Die dunkle Haut verweist aus mittelalterlicher Perspektive auf die Finsternis der Hölle.27
Die höfischen Damen Florie und Larie als Idealbilder der Weiblichkeit im Wigalois
Die Frauenfiguren im Wigalois sind laut dem Mediävisten Christoph Fasbender durch ihre Schönheit und ihr höfisches Auftreten gekennzeichnet. Sie »spornen dadurch Männer zu Taten an, die entweder zum Guten führen oder ins Unglück«.28 Florie und Larie gehören zu den höfischen Frauen im Wigalois, welche den mittelalterlichen Idealvorstellungen entsprechen. Den beiden Frauen wird eine Sonderstellung zugeschrieben, da sich ihre Schönheitsbeschreibungen von denen anderer Damen abgrenzen. Durch die häufigen Erzählerkommentare werden Florie und Larie als besonders relevante Figuren hervorgehoben. Im Folgenden soll ein Überblick über die Idealisierung beider Frauen gegeben werden.
Si was benamen âne strît / diu schœnest die er ie gesach; / des prîses ir diu werlt jach (V. 726ff.).
Als Gawein zum ersten Mal der höfischen Dame Florie begegnet, ist er fasziniert von ihrer Schönheit. Sie ist die schoenest die er ie gesach (V. 726). Nicht nur Gawein schreibt Florie eine außerordentliche Schönheit zu; der Erzähler betont, dass alle Welt dies genauso sehe. Zu Beginn des Zusammentreffens beider Figuren wird Flories Schönheit nur behauptet, ohne beschrieben zu werden. Schon alleine ihr Aussehen reicht, um Gaweins Herz zu entflammen. Zudem werden ihr Eigenschaften wie gewizzen und ganziu tugent / geburt unde sinne (V. 732) zugeschrieben.
Es folgt eine über 200 Verse lange Schönheits-descriptio. Solche detaillierten Aufzählungen zum Aussehen von Figuren lassen sich in der mittelalterlichen Literatur häufig finden. Die Nennung wesentlicher Züge erfolgt von Kopf bis Fuß und auch die Kleidung der höfischen Dame wird genau beschrieben.29
Florie ist außerordentlich gut gekleidet, als sin ein edel maget sol (V. 745). Alleine die Beschreibung ihrer Kleidung fasst über 100 Verse, wobei auch auf den Schmuck der höfischen Dame ausführlich eingegangen wird. Florie truoc einen roc wîten, / von zwein samîten / gesniten vil gelîche, / eben unde rîche (V. 746ff.). Flories Kleid ist überzogen von Hermelin und besitzt einen Gürtel, daz was ein borte guot genuoc / von golde und von gesteine / grôz unde kleine (V. 771ff.). An ihrer Kleidung lässt sich deutlich erkennen, dass sie der adeligen Gesellschaft angehört. Auffällig an der Beschreibung ist, dass diese durch Erzählerkommentare unterbrochen wird. Der Erzähler hebt durch seine Kommentare Flories Schönheit hervor, indem er sagt: ichn gesach ir nie deheine – / geworht âne zungen – / diu sô wol bedrungen / mit gezierde wære / als an disem mære (V. 787ff.).
Bemerkenswert ist zudem, dass in der Beschreibung Flories an mehreren Stellen auf ihre glänzende oder leuchtende Kleidung sowie ihren Schmuck hingewiesen wird. An ihrem Hals trägt sie einen herre Amor (V. 831), also ein Schmuckstück aus Stein. Das besondere hierbei ist, dass der Stein der Jungfrau den Weg in der Nacht leitet und keine Finsternis zulässt (V. 842ff.). Nicht nur ihre Kleidung und ihr Schmuck werden in der descriptio zur Lichtquelle, auch ihr Körper scheint vor lauter Schönheit zu leuchten. Ihr ganzer Körper ist lûter als ein spiegelglas (V. 949). Ihre blonden Haare und ihre glänzende Haut lassen Florie einem Engel gleichen. Florie besitzt feines, gelocktes Haar, sowie rosenfarbige bis weiße Haut. Vollendet wird ihr Gesicht durch ihre makellos geformten Ohren und ihre ebenso wohlgeformte Nase. Der Erzähler hebt zudem ihren lieblichen Mund hervor, der bei einem Kuss jeden Kummer vergessen lässt (V. 915). Florie scheint perfekt, makellos und fast sogar göttlich zu sein. Passend dazu wird ihre übermäßig leuchtende Gestalt mit der saelde (V. 850) gleichgesetzt, »denn der von ihr ausgehende Glanz wird in einen religiösen Diskurs übertragen, wenn die göttlichen Fertigkeiten ihr Antlitz ›gemischet het begarwe‹«.30 In der mittelalterlichen Literatur lassen sich engelsgleich strahlende Figuren als »Realabstraktionen« des Höfischen verstehen.31 Sie sorgen für eine vroide auf Seiten des Mannes. So zeigt sich auch bei Florie, dass alleine ihr Anblick zu einer Hochgestimmtheit führt. Ihre strahlende Schönheit wirkt sich insbesondere auf ihren Geliebten Gawein aus. Flories Anblick ist ihm eine Freude und lässt ihn jeden Kummer vergessen: wan si erliuht daz herze mîn / rehte alsô der sunnen schîn / tuot den liehten sumertac (V. 985ff.). Ihr Geliebter Gawein ist begeistert von ihrer atemberaubenden Schönheit und macht deutlich, welche Wirkung Florie auf ihn hat. Er liebt sie von ganzem Herzen (V. 952). Hier zeigt sich deutlich die Liebeskonzeption des Minnesangs. Doch nicht nur Gawein scheint von ihrer Schönheit begeistert, denn ez wære wîp oder man, / swen si güetlîche an / mit lachenden ougen sach, / swaz dem leide sie geschach, / des was zehant vergezzen (V. 879ff.). Alle Traurigkeit und jedes Leid wird vergessen, sobald jemand Florie ansieht.
Neben ihrem makellosen Aussehen, macht sie auch ihr Verhalten zu einer höfischen Dame. Eigenschaften wie gewizzen unde ganzer tugent (V. 994) werden ihr von Gawein zugeschrieben. Nach dem Tod ihres Vaters und ihres Sohnes trauert sie über zwei Jahrzehnte lang.32 Sie zählt damit als Vorbild einer treuen und liebenden Frau.
Dar ûf ist diu vrouwe mîn, / daz niht schœners möhte sîn / in dirre werlte dan si ist (V. 3639ff.).
Die zweite höfische Dame im Wigalois ist die Jungfrau Larie. Die erste Begegnung von Wigalois mit der schœnen maget (V. 4127) erfolgt im Festsaal Roimunts. Larie betritt mit fünfzig weiteren Jungfrauen den Saal, in dem sich auch der Ritter Wigalois befindet. Von der Vielzahl junger Frauen zieht der Erzähler jedoch dreißig ab, wan si niht in der wîse / gelîch den zweinsic wâren / an geburt noch an gebâren, / an schœne noch an rîcheit (V. 4109ff.). Es bleiben zwanzig Damen übrig, die reich gekleidet sind und durch ihre Schönheit herausstechen. Wigalois sieht sich im Saal um und erblickt die schöne Jungfrau Larie. Sie ist die Schönste aller Frauen und geliutert als ein spiegelglas (V. 4135). Die erste Begegnung mit der Dame Larie steht im Zeichen der Minne, denn der Ritter Wigalois verliert beim ersten Blick auf die Schöne sein Herz. Sie wird als vrou Minne (V. 4139) bezeichnet und zieht Wigalois in ihren Bann. Es wird sogar angedeutet, dass der Ritter für sie in den Kampf ziehen würde. Ihre Schönheit wird an dieser Stelle jedoch nur behauptet, ohne dass hier bereits eine descriptio vorliegt. Im weiteren Verlauf der Handlung wird die schöne Larie immer wieder erwähnt. Ihre außerordentliche Schönheit wird sogar mit dem Leuchten der Sonne gleichgesetzt: ir schœne gegen der sunnen streit (V. 10530). Der Erzähler lässt bei der Figur Larie zunächst allerdings viel Interpretationsspielraum bezüglich ihres Äußeren. Zwar weiß der textinhärente Betrachter Wigalois, wie Larie aussieht, der Rezipient erfährt es allerdings nicht.33
Eine nähere Beschreibung ihres Aussehens erfolgt erst ab Vers 10560. Larie befindet sich auf dem Heereszug nach Namur. Hier liegt eine detailliertere descriptio vor, wobei in dieser nur auf ihren Schmuck und ihre Kleidung eingegangen wird: diu vrouwe hêt umb sich geleit / einen riemen von Iberne; / als die liehten sterne / daz edel[ge]steine darûffe lac (V. 10556ff.). Zudem trägt die Minnedame Larie einen Rubin, der so hell leuchtet wie der Tag, und eine Spange aus Metall (V. 10560ff.). Ihr Rock und ihr Mantel gehörten zur französischen Mode und besitzen offene Schnüre (V. 10548ff.).
Als schließlich Gawein die Minnedame zum ersten Mal sieht, ist auch er von ihrer Schönheit begeistert. So sagt er: swaz ich vrouwen hân erkant / od mit den ougen ie gesach, / der schœne macht dîn schœne swach. / du bist ir aller spiegel (V. 9725ff.). Ihre Schönheit ist von Gott geschaffen und soll als Vorbild für alle Frauen dienen. Larie ist selbst für Gawein die schönste Frau, die er je gesehen hat, obwohl er vorher bereits Florie begegnet ist.
Die Beschreibungen Laries ziehen sich durch die ganze Geschichte. Immer wieder lassen sich Bezüge zu der schönen Frau finden, wenn der Ritter Wigalois beim Anblick anderer Frauen den Vergleich zu ihr zieht oder wenn er sich in Kampfessituationen befindet und durch die Vorstellung von Larie neue Kraft bekommt. Doch außer der descriptio ihres Schmuckes und ihrer Kleidung, lassen sich nur wenige Beschreibungen zu ihrem Äußeren finden. Bis zum Ende des Wigalois muss der Rezipient ihre Schönheit hinnehmen, ohne sich ein eigenes Bild machen zu können. »Im Hinblick auf Laries fehlende descriptio bei ihrer Einführung in den Text und im Kontrast zu Flories ausführlicher Beschreibung kann Larie durchaus als ›blass‹ bezeichnet werden«.34 Sie wird zwar ähnlich wie Florie als engelsgleich und makellos beschrieben, doch die Figur Laries scheint nur einen Zweck zu erfüllen: Sie ist der âventiure-Preis für den Ritter Wigalois, der aufgrund ihrer Schönheit zum Kampf motiviert wird. Im späteren Verlauf wird ihr noch die Funktion einer treuen Ehefrau zugeschrieben. Eine eigene Aufgabe hat Larie nicht, weswegen sie vielfach in der Forschung als Nebenfigur betrachtet wird. Ihre Figur könnte ohne weiteres durch eine der zahlreichen anderen schönen Frauen im Wigalois ersetzt werden.
»Ungeheuer« und »Teufelin«: Das Waldweib Ruel als Gegenentwurf zur höfischen Frau
Die Begegnung von Wigalois mit Ruel erfolgt am Anfang der zweiten Aventürereihe, nachdem Wigalois gegen den Drachen Pfetan gekämpft hat und aus Joraphas abgereist ist.35 Der Held ist auf dem Weg zur Befreiung Korntins im Dienste der schönen Larie. Auf seiner Reise kommt Wigalois allerdings in Gedanken versunken vom Weg ab, sodass er an der Felshöhle am Flussufer an Ruel vorbei geht. Das Treffen mit Ruel ist reiner Zufall, wodurch sich diese Szene von anderen Kampfszenen abgrenzt. Alle anderen Gegner von Wigalois gehören zu seiner Aufgabe oder stellen sich ihm absichtlich in den Weg zur Schlussaventüre.36 Das Waldweib Ruel tritt aus ihrer Höhle heraus. Bereits auf den ersten Blick wird dem Helden deutlich, dass ihr Äußeres nicht den höfischen Vorstellungen von Weiblichkeit entspricht.
Ûz dem hole sach er ein / wîp gegen im loufen dar, / diu was in einer varwe gar / swarz, rûch als ein ber. (V. 6285ff.)
Das sind die ersten Verse, in denen Ruel beschrieben wird und schon hier wird deutlich, dass sie den höfischen Idealen nicht entspricht. Interessant ist, dass Ruel zu allererst als wîp eingeführt wird. Erst nach dieser Bezeichnung beginnt die ausführliche Beschreibung ihres Aussehens.
Ruel hat auffällig schwarze Haut und ist behaart wie ein Bär. Ihr Äußeres ist vergleichbar mit dem eines Tieres, wodurch Ruel als unmenschlich charakterisiert wird. Mehr als fünfzig Verse widmet Wirnt von Grafenberg der Beschreibung ihres Auftretens und ihrer Hässlichkeit. Nicht nur die Verslänge ist dabei beachtlich, sondern auch die Detailfülle und die qualitative Ausgestaltung der Beschreibungen.37 Wirnt von Grafenberg folgt der typischen Beschreibung des Äußeren nach der descriptio. Dies ist ungewöhnlich, denn die Beschreibung wird üblicherweise nur bei höfischen Damen verwendet. Im Falle des Waldweibs Ruel wird die descriptio allerdings gebraucht, um ihr hässliches Aussehen zu verdeutlichen.
Ruel wird als ungehiure (V. 6291) dargestellt. Ihr Haar ist enpflohten unde lanc, / zetal in ir buoc ez swanc (V. 6292f.) und ihr Gesicht wird als houbet groz, ir nase vlach beschrieben (V. 6294). Hinzukommt, dass ihr Gesicht, ebenso wie ihr restlicher Körper, behaart ist und ihre Augen wie brennende Kerzen aussehen. Durch diesen Vergleich wird die Gefahr, welche von Ruel ausgeht, verdeutlicht und die Abscheulichkeit des Waldweibs hervorgehoben. Des Weiteren wird sie mit ir brâ lanc unde grâ, grôze zene, wîten munt beschrieben (V. 6297f.). Zudem besitzt sie einen krummen Rücken und Brüste, die ihr bis zur Hüfte hängen, sowie starkiu bein, krumbe vüeze (V. 6348).
In den darauffolgenden Ausführungen zu ihrem Äußeren werden weitere Vergleiche zu Tieren gezogen: »Fell und Handballen wie die eines Bären, Greifenklauen, dazu die Ohren eines Hundes«.38 Die Vergleiche unterstreichen, dass Ruel einem Tier ähnlicher ist als einem Menschen. So lässt sich das Waldweib aufgrund ihrer Hybridität in die Nähe des Monströsen einordnen. Sie ähnelt mehr einem Mischwesen als einem wîp. Es stellt sich daher die Frage, warum Ruel im ersten Vers als Frau vorgestellt wurde, wenn sie dem weiblichen Ideal in keiner Weise entspricht. Obwohl sie nicht explizit so bezeichnet wird, liegt die Vermutung nahe, dass Ruel als wildes wîp gesehen werden kann. Wie bereits erwähnt, leben Wildleute in der mittelalterlichen Literatur im Wald und sind durch eine starke Behaarung gekennzeichnet. Zudem sind sie ein Zwischenglied zwischen Tier und Mensch, was auch auf Ruel zutrifft. Dagegen spricht jedoch, dass Wildleute in der mittelalterlichen Literatur in der Regel dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden.39 In der Forschung ist diese These bereits diskutiert worden. So folgt der Literaturforscher Michael Veeh der anthropologischen Deutung, dass Ruel das weibliche Pendant des ›wilden Mannes‹ darstellt. Seiner Meinung nach ist Ruel ein anthropomorphes Wesen, das allein und zurückgezogen im Wald lebt, völlig verwildert ist und über Riesenkräfte verfügt.40 Ihre außerordentliche Hässlichkeit lässt sich dadurch erklären, dass wilde Menschen oft dämonisiert und als Verkörperung des Teufels dargestellt werden. So wird das Waldweib im Laufe der Beschreibung nicht nur als ungehiure (V. 6291), sondern auch als tiuvelin (V. 6379) bezeichnet. »Diese Übereinstimmungen rücken Ruel in die Nähe eines Ungeheuers und deuten an, wie weit sie von den Normen nicht nur höfischen, sondern auch generell menschlich-weiblichen Auftretens und Verhaltens entfernt ist«.41
An einigen Stellen unterbricht Wirnt von Grafenberg die Beschreibungen Ruels, um intertextuelle Vergleiche mit den höfischen Damen herzustellen. Beispielsweise vergleicht er das Waldweib mit Larie: als uns diu âventiure seit, sô was diu schoene Lârîe schoener danne ir drîe (V. 6301–6304). Larie ist demnach dreifach so schön wie Ruel, wenn nicht sogar noch schöner. Die Gegenüberstellung der hübschen Minnedame Larie mit dem Waldweib erscheint unnötig, denn die extreme Hässlichkeit Ruels wird bereits durch die ausführliche Beschreibung deutlich. Es lassen sich trotzdem noch weitere Vergleiche mit anderen Minnedamen finden. Wirnt von Grafenberg nutzt die Beschreibung Ruels, um mit den Werken etablierter Vorgänger in den Dialog zu treten. Er setzt der hässlichen Ruel Hartmanns Enite und Wolfgangs Jeschute gegenüber. Im Gegensatz zu Ruel entsprechen beide Frauen den mittelalterlichen Idealen: hêt iemen von ir hôhen muot, / dern sach der vrouwen Ênîten niht, / wan der herre Hartman giht, / daz wær gar ûz dem strîte / ezn wære vrouwe Ênîte / ze Karidôl diu schœnste maget, / als im sîn meister hêt gesaget (V. 6307–6313). Durch den Vergleich wird noch einmal deutlich gemacht, dass Ruel in keiner Weise liebenswürdig ist und man sich nur in sie verlieben kann, wenn man der schönen Enite nie begegnet ist.
Nicht nur Ruels Äußeres, sondern auch ihr Auftreten, entspricht keineswegs den weiblichen Idealen. Im Aufeinandertreffen des Waldweibs Ruel mit dem Ritter Wigalois äußern sich ihre unhöfischen Verhaltensweisen.
Wigalois hat nach der Abreise aus Joraphas bereits einige Kämpfe hinter sich, beispielsweise gegen den Drachen Pfetan. So hat er schon einige Kampfeskraft eingebüßt, als er auf Ruel trifft. Das Waldweib ist unbewaffnet, weswegen der Ritter seine Waffe nicht zieht. Aufgrund des Kampfverbots gegen Frauen ist es Wigalois ohnehin untersagt, mit ihr zu kämpfen. Ruel greift den Ritter unbewaffnet an und überrumpelt ihn mit ihrer körperlichen Kraft. Sie trägt ihn davon und fesselt ihn an einen Baum. Die hässliche Frau möchte ihn enthaupten, doch genau in diesem Moment wiehert Wigalois’ Pferd »so markerschütternd, dass Ruel in der Annahme, der Drache sei noch am Leben, in ihre Höhle flieht«.42 Das Waldweib lässt den gefesselten Wigalois zurück, um ihr eigenes Leben vor dem vermeintlichen Drachen zu retten.
Ruel weist eine starke Brutalität auf, welche durch die Trauer um ihren Mann Feroz, der von Flojîr von Belamut getötet wurde (vgl. V. 6355f.), begründet wird. Ruel möchte sich nun rächen. Sie wählt Wigalois als Opfer ihres Racheaktes aus, da sie ihn aufgrund seiner Ritteridentität mit Flojîr von Belamut verbindet. Aus ihrer Sicht steht Wigalois in dieser Szene stellvertretend für alle Ritter, »die in ihren Augen alle gleich und alle gleichsam die Mörder ihres Mannes sein müssen«.43
Alleine das Angreifen des Helden kann als unhöfisch angesehen werden. Hierbei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich um die Rache für ihren verstorbenen Ehemann handelt. Ruel kann daher zu den trauernden Witwen gezählt werden, zu denen im Wigalois auch Florie, Beleares, Liameres und Japhite zählen. Die Trauer der anderen Frauen ist jedoch gekennzeichnet durch Passivität und Hilfslosigkeit bis hin zum Suizid.44 Die Art und Weise, wie Ruel mit ihrer Trauer umgeht, steht daher in großem Kontrast zu den höfischen Damen. Das Waldweib reagiert aktiv und greift den Ritter Wigalois an, um sich zu rächen. »Wenngleich die willkürliche ›Rache‹ an Wigalois in ihrer Sinnlosigkeit befremdlich erscheint, ist der Waldfrau und den Damen doch die triuwe zum jeweiligen Ehemann gemeinsam«.45 Die Gewalttat Ruels richtet sich gegen höfische Verhaltensmuster. Das Idealbild der Frau setzt in der mittelalterlichen Literatur voraus, dass Damen sich gewaltfrei verhalten. Ruel dagegen greift den Ritter unbewaffnet an und besiegt ihn dank ihrer Körperkraft.
Die körperliche Kraft Ruels ist ein weiterer Punkt, der sie von den höfischen Damen abgrenzt. Ihre große Körperkraft entspricht den tierischen Elementen, durch den Angriff kommt ihre Hybridität zum Vorschein. Das Waldweib weist ein deutliches raubtierhaftes Verhalten auf, welches sich in ihrer Schnelligkeit bei der ›Jagd‹ zeigt. Hinzu kommt, dass Ruel ihren Gefangenen fesselt. Das Fesseln ist im Mittelalter ein typisches Verhalten des Teufels. So treten Teufel und Dämonen in Aktion, »um Menschen beziehungsweise ihre Seelen davon zu schleppen«.46 Ruel verkörpert also nicht nur durch ihr Aussehen eine tiuvelin (V. 6379), sondern verfügt auch über teuflische Verhaltensweisen. Das Waldweib kann demnach als Verkörperung des Teufels angesehen werden.
Die Eigenschaften der Körperkraft und der Gewalt werden im Mittelalter nicht dem weiblichen, sondern dem männlichen Geschlecht zugeschrieben. So gehört die körperliche Gewaltausübung zu den etablierten Verhaltensmustern eines adligen Mannes.47</ Ruel stellt damit nicht nur durch ihr hässliches Äußeres das Gegenbild höfischer Weiblichkeit dar. Ihre Verhaltensweisen gleichen eher denen eines Ritters als denen einer Frau.
All diese Punkte lassen auch Wirnt von Grafenberg immer wieder zu dem gleichen Fazit kommen: Daz wîp dûht in unsüeze (V. 6347) oder guotes wîbes minne / was ir trûten ungelîch (V. 6402f). Sowohl ihr Aussehen als auch ihr Verhalten sind für Wirnt von Grafenberg Gründe, dass Ruel nicht liebenswürdig ist. »Eine erotische Begegnung mit ihr würde einem Mann ein ›sûrez trûten‹ (V. 6324) bescheren und ihn schlagartig altern lassen (V. 6350f)«.48 Körperliche und emotionale Nähe zu Ruel führt dementsprechend zu einem verkürzten Leben. An dieser Stelle wird die starke Bedrohung, welche von Ruel ausgeht, deutlich.
Ruels Rolle im Wigalois ist in der Mediävistik bereits vielfach diskutiert worden. Mittlerweile gibt es unterschiedliche, teilweise sogar widersprüchliche Meinungen und Erklärungsansätze bezüglich ihrer Funktion. Laut dem Literaturwissenschaftler Stephan Fuchs ist das Waldweib Ruel für den Gang der Handlung unerheblich.49 Seiner Meinung nach ist sie nur ein Umweg der Geschichte, wobei sie nicht grundsätzlich unnötig ist. Das Waldweib hat nämlich eine relevante Funktion für den Helden Wigalois. Der Ritter findet am Ende der Ruel-Szene sein Gottvertrauen, als sein Pferd wiehert und das Waldweib dies für das Schnauben des Drachen hält, weshalb sie in ihre Höhle flieht. Die Hinwendung zum Gottvertrauen kann also als eine wichtige Funktion Ruels angesehen werden.
Die wohl einfachste Erklärung für die Figur Ruels ist allerdings, dass sie das Gegenbild einer höfischen Dame darstellt. In der Figur Ruels finden sich die Oppositionen ›menschlich und tierisch‹, ›gut und böse‹ sowie ›weiblich und männlich‹ wieder. Diese kategorialen Unterschiede lassen sich »paradigmatisch als Inszenierung von Ambivalenz bzw. Entdifferenzierung verstehen«.50 Die Aufgabe des Helden ist es demnach, diese Entdifferenzierung rückgängig zu machen und die höfische Welt vor den Gefahren der Außenwelt zu beschützen – in dem Fall stellt Ruel die Gefahr dar.
Zuletzt nutzt Wirnt von Grafenberg die Figur Ruels, um sein Können als Autor zu zeigen. »Oft erklären mittelalterliche Autoren die descriptiones zu einer Messlatte für einen Raum der Reflexion über das künstlerische Schaffen an sich«.51 Wie bereits erwähnt, ist es ungewöhnlich, eine hässliche Frau so detailliert zu beschreiben. Der Autor zieht zudem immer wieder intertextuelle Vergleiche zu schönen Frauen aus anderen literarischen Werken. Es kann davon ausgegangen werden, dass Wirnt von Grafenberg durch die Figur Ruels bewusst von der Norm abweicht, um von anderen Autoren Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten.
Fazit: Ablehnung der Andersartigkeit und Verstärkung des etablierten Frauenbilds
Im Wigalois lassen sich verschiedene Frauenbilder finden. Der Unterschied zwischen den schönen Damen Florie und Larie und dem Waldweib Ruel könnte nicht größer sein. Bereits in der descriptio der Frauen werden Gegensätze sichtbar. So werden Florie und Larie zu Beginn als schön hingestellt, ohne genauer beschrieben zu werden. Erst im Laufe der Geschichte folgen detailliertere Beschreibungen, die sich allerdings vor allem auf die Kleidung der höfischen Damen beziehen. Zudem werden immer wieder Vergleiche zu den schönen Frauen gezogen, wodurch ihre Schönheit an vielen Stellen hervorgehoben wird. Die Beschreibungen der beiden Frauen lassen viel Vorstellungsfreiheit, wie es in der mittelalterlichen Literatur üblich ist. Bei Ruel dagegen wird der komplette Körper von Kopf bis Fuß beschrieben. Ihre descriptio ist im Vergleich zu den Beschreibungen der beiden schönen Frauen deutlich länger. Durch die ausschließlich negative Darstellung von Ruels Aussehen und Verhalten werden ihre Andersartigkeit und ihre Ausgrenzung aus dem höfischen Leben betont, was sich ebenfalls in ihrem Lebensraum, dem Wald, widerspiegelt.
Auch die ersten Begegnungen der Ritter mit den jeweiligen Frauen weisen deutliche Unterschiede auf. So stehen das erste Treffen von Florie und Gawein sowie Larie und Wigalois im Zeichen der Minne. In der Szene von Ruel dagegen findet ein Kampf statt, bei dem das Waldweib den Ritter Wigalois angreift. Der Ritter macht bei diesem Aufeinandertreffen an vielen Stellen deutlich, wie abscheulich Ruel ist. Das Waldweib kann daher als ›Frau Unminne‹ bezeichnet werden.
Ihr Verhalten ähnelt dem von Tieren oder männlichen Verhaltensmustern, sodass sie als Hybrid angesehen werden kann. Zudem geht von Ruel eine teuflische Gefahr aus, die sich in ihrem Aussehen und ihrem Verhalten widerspiegelt. Das Waldweib fungiert somit als Gegenbild einer höfischen Frau. Ruels Andersartigkeit wird im Wigalois keinesfalls positiv dargestellt. Die anfängliche Frage, ob das Waldweib durch ihr außergewöhnliches Auftreten einen revolutionären Charakter hat, muss somit verneint werden. Dem Waldweib werden eindeutig negative Charaktereigenschaften zugeschrieben, sie wird sogar mit dem Teufel verglichen. Andersartigkeit ist im Wigalois also ein Grund zur Ausgrenzung und kein Versuch gegen die höfischen Idealvorstellungen einer Frau vorzugehen. Stattdessen werden die idealen Frauenbilder durch die negative Auslegung von Andersartigkeit verstärkt und verhärtet. Wirnt von Grafenberg möchte mit der Figur Ruel nicht zur Akzeptanz unterschiedlicher Körperformen beitragen. Stattdessen kann davon ausgegangen werden, dass der Autor das Waldweib zur kreativen Ausgestaltung seiner Geschichte nutzt, um Anerkennung von anderen mittelalterlichen Autoren zu erhalten.
Luzie (geb. 2000) studiert Sekundarschullehramt für die Fächer Deutsch und Geschichte und hat vor Kurzem erfolgreich ihr 1. Staatsexamen abgelegt. Ihre wissenschaftlichen Interessen sind dabei Rollenbilder in der deutschen Literatur und Sprechangst sowie funktionaler Analphabetismus in der Schule. Letzteres entstand besonders durch Luzies Tätigkeit als Nachhilfedozentin an Grundschulen. Daneben unterstützte sie das Germanistische Institut der MLU als wissenschaftliche Hilfskraft und war dabei für die Websites der Germanistik zuständig.
Kontakt: luzie.fiest@student.uni-halle.de
Anmerkungen
1Anna Siebenhaar, MDR fragt. Jeder Vierte fühlt sich durch Schönheitsideale unter Druck gesetzt; https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/mdrfragt-umfrage-ergebnis-body-positivity-fitness-gesundheit-102.html#:~:text=Dabei%20ist%20der%20Anteil%20derjenigen,m%C3%A4nnlichen%20Befragungsteilnehmern%20nur%2015%20Prozent [letzter Zugriff 16.01.2024].
2Vgl. ebd.
3Maria Windisch, »Bold Glamour«. Falsche Schönheit durch neuen Tiktok-Filter; https://www.berliner-zeitung.de/news/taeuschend-echt-tiktok-filter-bold-glamour-macht-jeden-zur-schoenheit-li.323393 [letzter Zugriff 16.01.2024].
4Denise Primbet, Toxische Beautystandards. Der »Bold Glamour«-Filter ist der Beweis dafür, dass Schönheit immer noch nach »westlichen« Beauty-Standards bemessen wird – und ich habe genug davon; https://www.glamour.de/artikel/bold-glamour-filter [letzter Zugriff 16.01.2024].
5Ebd.
6Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1999, 451.
7Vgl. Heinz Sieburg, Literatur des Mittelalters, 2. aktualisierte Auflage, Berlin 2012, 183.
8Vgl. Heike Sievert, Die Konzeption der Frauenrolle in der Liebeslyrik Walthers von der Vogelweide, in: Ingrid Bennewitz (Hg.), Das frouwen bouch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik, Göppingen 1989, 135–158, hier 136.
9Leslie Peter Johnson, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Vom hohen zum späten Mittelalter. Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30), Bd. 2, Teil 1, Tübingen 1999, 5.
10Bumke 1999, 451.
11Vgl. Sieburg 2012, 184.
12Vgl. Edith Wenzel, »Hêre vrouwe« und »Übelez wîp«. Zur Konstruktion von Frauenbildern im Minnesang, in: Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren (Hg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 1999, 264–283, hier 264.
13Vgl. Sieburg 2012, 183.
14Bumke 1999, 453.
15Vgl. Fabian David Scheidel, Schönheitsdiskurse in der Literatur des Mittelalters. Die Propädeutik des Fleisches zwischen ›asisthesis‹ und Ästhetik, Berlin 2022, 124.
16Ebd.
17Ingrid Kasten, Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters, in: Bea Lundt (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, 255–276, hier 256.
18Vgl. Bumke 1999, 452.
19Vgl. Kasten 1991, 256.
20Vgl. Sieburg 2012, 184.
21Vgl. Kasten 1991, 257.
22Ebd.
23Vgl. ebd.
24Vgl. Kasten 1991, 256.
25Vgl. ebd.
26Larissa Schulter-Lang, Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich, Berlin 2014, 13.
27Vgl. ebd. 162.
28Christoph Fasbender, Der ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin 2010, 175.
29Vgl. Ines Palau, Bild – Macht – Gender. Blicke, Bilder und Geschlechterrollen in der höfischen Epik, Bonn 2022, 4.
30Palau 2022, 165.
31Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin 2012, 32.
32Carmen Stange, Florie und die anderen. Die Frauenfiguren im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg, in: Monika Costard, Jacob Klingner, Carmen Stange (Hg.), Mertens lesen. Exemplarische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag, Göttingen 2012, 127–146, hier 128.
33Bianca Häberlein, Gestimmte Räume. Zur Poetizität und Interpassivität im ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg, Berlin 2021, 171.
34Vgl. ebd.
35Vgl. Cordula Böcking, »daz wær ouch noch guot wîbes sit, / daz si iht harte wider strit« Streitbare Frauen in Wirnts ›Wigalois‹, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin 2013, 363–380, hier 365.
36Jöran Balks, Verhandlungen höfischer Identität. Intersektionale Deutungs- und Zuordnungsprozesse in Artusromanen um 1200. Iwein – Lanzelet – Gwigalois, Göttingen 2021, 246.
37Annette Gerok-Reiter, Waldweib, Wirnt und ›Wigalois‹. Die Inklusion von Didaxe und Fiktion im parataktischen Erzählen, in: Henrike Lähnemann, Sandra Linden (Hg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 2009, 155–172, hier 166.
38Böcking 2013, 368.
39Vgl. Schulter-Lang 2014, 18.
40Vgl. Michael Veeh, Auf der Reise durch die Erzählwelten hochhöfischer Kultur. Rituale der Inszenierung höfischer und politischer Vollkommenheit im ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberg, Berlin 2013, 190.
41Böcking 2013, 369.
42Fasbender 2010, 88.
43Balks 2021, 250.
44Vgl. Böcking 2013, 371.
45Ebd.
46Vgl. Veeh 2013, 192.
47Vgl. Sieburg 2012, 184.
48Böcking 2013, 369.
49Vgl. Stephan Fuchs, Hybride Helden. Gwigalois und Willeham. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997, 159.
50Armin Schulz, Das Nicht-Höfische als Dämonisches. Die Gegenwelt Korntin im Wigalois, in: Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl, Matthias Däumer (Hg.), Artusroman und Mythos, Berlin 2011, 391–408, hier 402.
51Palau 2022, 7.