Ein Blog für literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Beiträge der MLU Halle

Morisco: Zukunftspessimismus und Gegenstimmen – Anna Maria Franke

Alfred WellmsMorisco
Zukunftspessimismus und Gegenstimmen aus Halle-Neustadt

©Gerald Große


Das Literaturhaus Halle ist gefüllt wie noch nie zuvor. Die Türen des Grünen Salons bleiben offen, es werden noch einige Stühle hinzugeholt, sodass alle Besucher:innen einen Platz finden. Wer hätte gedacht, dass ein Gespräch über Halle-Neustadt in Literatur und Photographien so viele Menschen interessiert? Ein Gespräch über die Vergangenheit und (vergangene) Zukunft des Stadtteils, das vielerlei Reaktionen im Publikum hervorruft. Vor allem zustimmendes Nicken und Lachen, sobald von der ›Gummistiefelzeit‹ und anderen prägnanten Erinnerungen gesprochen wird. Doch bei diesen Reaktionen bleibt es nicht. Ein literarischer Text sorgt für Kopfschütteln und keineswegs zustimmende Reaktionen. Vielmehr wirkt es, als ob die Besucher:innen nur einen Gedanken haben: ›Wie kann man so etwas sagen über diesen Stadtteil, in dem wir so viel erlebt haben und mit dem wir uns seit Jahrzehnten verbunden fühlen?‹
(Vignette, Anna Maria Franke)


Als kleine Gruppen von Studierenden fanden wir uns Ende 2023 zusammen, um mehr über Halle- Neustadts Vergangenheit und (vergangene) Zukunftsvorstellungen herauszufinden. Einen Veranstaltungsort sowie ein festes Datum für die Präsentation unserer Ergebnisse standen von Anfang an fest, doch was und wie wir es präsentieren, war zu dem Zeitpunkt noch völlig unklar. Schnell entstand jedoch der Entschluss, dass wir uns auf wenige ausgewählte literarische Werke fokussieren. Darunter befanden sich Werner Bräunigs Der schöne Monat August, Hans-Jürgen Steinmanns Zwei Schritte vor dem Glück, Alfred Wellms Morisco sowie Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand. Jeder der Texte trug dabei auf seine eigene Art und Weise zu einem vielseitigen Blick auf Halle-Neustadt bei, sei es durch atmosphärische Beschreibungen, Fokussieren auf die negativen Aspekte des Stadtteils und dessen Erbauung oder teilweise hoffnungsvolle Vorhaben für die Zukunft. Doch wollten wir es nicht bei diesen Quellen belassen. Uns schien es zentral zu berücksichtigen, dass es sich bei unserem ›Untersuchungsgegenstand‹ um einen Heimatort für viele Personen handelt, deren Stimmen wir – als Außenstehende, nicht in Halle-Neustadt Lebende – nicht ignorieren dürfen und wollen, weswegen es uns wichtig war, Anwohner:innen in Form von Interviews die Möglichkeit zu geben, selbst über ihre Heimat zu sprechen. Dabei fanden kurze Textausschnitte aus den von uns ausgewählten Werken sowie Photographien von Gerald Große, der die Aufbauzeit intensiv dokumentiert hat, Verwendung, die als Anregung für die Interview-Teilnehmer:innen dienten, um von ihren Erfahrungen, Erinnerungen und Meinungen zu Halle-Neustadt zu berichten. Dieser Essay ist ein Versuch, das literarische Werk Morisco – als dasjenige mit den scheinbar polarisierendsten Aussagen – mit den Anwohner:innen aus Halle-Neustadt in ein Gespräch treten zu lassen, um so herauszufinden, inwiefern der Stadtteil in der Literatur dargestellt wird, dieser ein Spiegel einer (vergangenen) Realität sein kann und in welchem Verhältnis heutige, überwiegend positive Stimmen zu dem kritisch-literarischen Blick stehen.

Halle-Neustadts Ansehen und Morisco als literarische Verarbeitung der (vergangenen) Realität

Im Jahre 1964 legte Horst Sindermann den Grundstein für Halle-Neustadt – die als eine Stadt des Sozialismus und der Zukunft erbaut werden sollte, in der viele Hoffnungen lagen; Hoffnungen die sich nicht vollständig realisieren ließen. Die Meinungen über diesen Stadtteil Halles könnten nicht unterschiedlicher sein und sie scheinen weiterhin so präsent zu sein, dass die interviewten Bewohner:innen Halle-Neustadts diesen anhaltenden Dissens mehrfach thematisierten. So berichtete beispielsweise eine Interview-Teilnehmerin:


Und da kann ich Ihnen jetzt noch erzählen, dass ich eine Freundin verloren habe. Eigentlich eine gute Freundin […]. Und wir waren sehr gut befreundet […]. Und die ist aber nie hierher gekommen. Und da habe ich sie dann mal gefragt. ›Sag mal, warum? Kannst du doch mal kommen?‹ ›Also Gudrun weißt du, ich mag Neustadt nicht. Ich bin da noch nie gewesen und ich komme auch nicht zu euch. Ich mag Neustadt nicht‹.
Und es gibt ja so viele Menschen, die hier gewohnt haben. Gucken Sie mal an, Neustadt hatte mal fast 95.000 Einwohner. Ja, das sind alles Menschen. Und da sind viele weggezogen, aber viele denken gerne… Also solche Menschen habe ich auch erlebt. Und ich habe Ihnen das erzählt mit einer Freundin, die meint ›nach Neustadt, komme ich nicht.‹ Das ist gut, das sind dann Einzelpersonen, aber es gibt auch viele, die gerne nach Neustadt kommen […].


Dabei wird das bestehende konträre Meinungsbild deutlich: Viele blicken gerne auf die Erbauungszeit zurück, sehnen sich nach der damaligen Zeit und fühlen sich bis heute mit diesem Wohnort sehr verbunden. Einige Menschen betrachten diesen Ort, dessen Geschichte, Baustil oder auch Bewohner allerdings kritisch. Abseits von derartigen Meinungsbekundungen im alltäglichen Leben fand Halle- Neustadt – oder auch generell alle ›Neustädte‹, die erbaut wurden – als Thema und Handlungsort ihren Weg in zahlreiche literarische Werke.

Zu diesen literarischen Zeugnissen gehört unter anderem der 23 Jahre nach der Grundsteinlegung erstveröffentlichte Roman Morisco (1987) von Alfred Wellm – ein Autor, der besonders für seine Kinder- und Jugendliteratur bekannt war. Halle-Neustadt findet in diesem Text keine namentliche Erwähnung und dient somit nicht als spezifischer Ort der Handlung. Stattdessen ist von einer namenlose sozialistische Planstadt die Rede, deren Darstellung und Geschichte jedoch deutlich auf Halle-Neustadt bezogen werden können. Der Protagonist Andreas Lenk – ein Arbeiterkind und Architektur-Student, der nach erfolgreichem Studium zum Bauleiter in dieser namenlosen Stadt wird und mit der Zeit in Rang und Ansehen aufsteigt – sieht sich im Laufe seines Lebens mit Widersprüchen, Zwiespalt sowie Desillusionierung konfrontiert. Zunächst widmet er sich seiner Arbeit noch voller Elan und Zuverlässigkeit, denn »es machte [ihm] einen unheimlichen Spaß, zuverlässig zu sein, zu reagieren, wie [er] reagieren mußte«.1 Er bemüht sich um die bestmögliche, den Vorschriften entsprechende Umsetzung der Projekte, um so den Bau der Stadt voranzutreiben. Doch sind es schließlich genau diese Vorschriften, die für ihn zum Problem werden und zunehmend dafür sorgen, dass Lenks eigene Arbeit ihn nicht mehr erfüllt.

Die Industrie verlangt eine Stadt

Die im Roman vorherrschende Unzufriedenheit mit dem Stadtbau ist dabei durch Umstände bedingt, die sich auch bei dem Bau Halle-Neustadts wiederfinden lassen. Dieser war vor allem von wirtschaftlicher Notwendigkeit geprägt, wie es auch in den Interviews mehrfach erklärt wurde:


Neustadt sollte ursprünglich eine eigene Stadt werden und eigentlich für die Arbeiter in Buna und Leuna. Aber durch die Größe und Nähe zu Halle wurde das dann ein Teil von Halle. […] wir haben auch unser eigenes Rathaus hier noch.

Die damaligen Baustile, der sogenannte P2 Ratio, […] war einfach dem geschuldet, dass man eine Bautechnologie entwickeln musste, womit man sehr schnell Wohnraum schafft. Es ging darum, sehr schnell Wohnraum zu schaffen.


Aufgrund der Industriestandorte Buna und Leuna in der Nähe benötigte man für die zahlreichen Arbeiter schnellstmöglich genügend Wohnraum. Dementsprechend ist sowohl in der Realität als auch im Roman die »Stadt […] ein Verlangen der Industrie« (229). Es herrschten strikte Vorgaben bezüglich des Aussehens und der Ausstattung von Gebäuden und einzelnen Wohnungen, sowie zeitliche Fristen, die bei dem Bau eingehalten werden mussten. Dies betont auch Lenk in Morisco, wenn er von dem Zeitdruck spricht, unter dem der Bau steht:


Nicht länger darf gezögert werden. Jeder Tag hieße Terminverlust, hieße die Betongrundplatte später gießen; dies aber würde ernsthaft unsere Taktstraße gefährden, in deren Fluß wir stehen, Wohnblöcke errichten, Wohnblock um Wohnblock für: die neue Stadt. — Schlimmer noch wäre eine irrtümliche Entscheidung. (92)


Allein in diesen wenigen Zeilen wird der vorherrschende Zeitdruck deutlich, denn Zögern oder – noch schlimmer – Fehler werden als hinderlich empfunden. Stattdessen soll der Bau perfekt und schnell, dem Plan und zeitlichen Vorgaben entsprechend Vollendung finden. Lenk bewertet seine Projekte unter diesen Umständen rückblickend mit folgenden Worten: »Wir [Bauleute] waren bereit, auf das alles einzugehen, und daß dies ein Teufelspakt war, das sollten wir viel später erst erfahren, Jahre danach« (164). Während er selbst am Tag auf der Baustelle und gegenüber den Kollegen im Namen der baulichen Regelungen agiert und diese verteidigt, sitzt er nachts am Entwurf einer Ideal-Stadt der Zukunft, Helianthea, den er einst mit seinem mittlerweile verstorbenen Studienfreund Marinello begonnen hat. Zugunsten der sozialistischen Planstadt und der Einhaltung der Vorgaben vernachlässigt er mit der Zeit zunehmend seine individuellen Architektenwünsche und -vorstellungen und »hatte [s]eine Absicht, ein Architekt zu sein, wenn auch nicht völlig aufgegeben, so doch weit in die Zukunft hinausgeschoben« (164). Sein Leben spaltet sich mehr und mehr in zwei Teile – ein Zwiespalt, den er letztendlich auch akzeptiert.

Monotone Neustadt vs. Dekorierte Altstadt

Dass in Realität eine gewisse Monotonie aufgrund des planmäßigen Aneinanderreihens von Wohnblöcken vorherrschte, wird sowohl durch diverse Bilder Gerald Großes bestätigt als auch durch Interview-Aussagen wie »die [Gebäude] waren alle eigentlich Einheitsbrei. […] Jedes Haus sah gefühlt gleich aus. […] einfach Plattenbauten, gleichfarbig und so hochgezogen«. Dieser Aspekt wird ebenso im Roman deutlich, da die Einhaltung der Vorgaben die Entstehung einer monotonen Gebäudelandschaft bewirkt:


Wohnblock reiht sich an Wohnblock, Zeile an Zeile, nur das gestatten unsere bautechnischen, bautechnologischen Bedingungen. Jetzt aber, da der erste Wohnkomplex sich seiner Fertigstellung nähert, wollen wir den Gleichlauf durchbrechen, wollen wir der Monotonie entgegentreten, der stumpfsinnigen, tötenden Ereignislosigkeit (182f.).


Lenk bemerkt diese einschränkenden Vorgaben somit auch selbst. Doch der angestrebte und aufwändige Versuch, die vorherrschende Monotonie der Gebäude zu durchbrechen und seinen individuellen Architektenwünschen in der Realität zumindest ansatzweise nachzukommen, scheitert letztlich. Übrig bleibt lediglich ein neidvoller Blick auf die Altstadt:


Blicken nur neidisch und flußaufwärts auf die Altstadt — mit ihren Unzulänglichkeiten. Ihren Mängeln aus Jahrhunderten, ihren zahllosen Verkrüppelungen, die uns rühren. Wir neiden dieser Stadt das alles, neiden ihr die tausend Jahre, die sie hatte zu entstehen. Neiden ihr die Kindheit und die Jugendjahre. Ursprünglich war nur der Fluß, der hier zwei große Reiche (Welten) voneinander trennte, wissen wir. (183)


Im Gegensatz zu der Neustadt war es der Altstadt möglich, sich ohne jeglichen Zeitdruck oder Bindung an akribische Planung zu entfalten. Aufgrund der Notwendigkeit schnell Wohnraum zu schaffen ist in der Neustadt kaum Platz für eine freie Entwicklung der neuen Stadt und ebenso wenig für eine individuellere Gestaltung der Gebäude. Auch hierzu äußern sich die Interviews:


Und jetzt sage ich mal, ich habe […] das so als schlimm empfunden, wie kaputt Halle war. Und das wird ja alles heute ein bisschen verschwiegen. Und […] da musste schnell was gebaut werden. Die Stadt konnte so schnell nicht saniert werden. Da gab es nicht die Mittel dazu, da gab es nicht die Leute, die bereit waren. Also […] es ist ja jahrelang nichts gemacht worden. […] Ja, und da war es in Halle ganz schwer. Was wir für Wohnungen angeboten gekriegt haben, das darf man nicht vergessen. Und wie glücklich wir dann waren, als wir eine Chance hatten, nach Neustadt zu ziehen.

Es musste sehr schnell gehen, dass man da nicht mit kleinen Türmchen, wie in der Altstadt von Halle oder in anderen Städten arbeiten konnte, mit Schnärzelchen […]. Das […] durfte keine Rolle spielen. Schnellstens Wohnraum für die Leute, warum? Buna und Leuna.


Im Vergleich zu Halles Altstadt, die von individuellen Gebäuden mit Wiedererkennungswert aber auch von zur damaligen Zeit sanierungsbedürftigen Häusern geprägt war, schien Halle-Neustadt aufgrund des Wohnungsbedarfs und raschen Aufbaus gemäß Vorschriften zwar zu einem monotonen Dasein verdammt, die dort neu gebauten Gebäude waren aber nicht ohne Vorteil, denn »fließend warmes Wasser, das war ein Segen«. Zudem entstand trotz fehlender Individualität der Gebäude das Gefühl eines Zuhauses, denn


es war unsere Wohnung, es war unser Bereich und da haben wir uns wohlgefühlt. Wir haben auch nicht erwartet, dass wir jetzt in irgendeinem sanierten, mit Stuckdecke und Pipapo und riesen Räume, hohe Räume.


Diese Aussage zeigt, dass Halles und Halle-Neustadts Bewohner:innen ihre Erwartungshaltung diesbezüglich nicht zu hoch setzten. Stattdessen waren sie sich der damaligen Realität bewusst und hielten ihre Erwartungen eher gering. Dabei darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass sie der Neustadt viel Positives abgewinnen konnten:


Wir haben die Infrastruktur genossen in Neustadt. Der Paulick hat so eine sinnvolle Infrastruktur hier gemacht. Es war alles fußläufig erreichbar. […] Aber es waren immer für 10.000 bis 15.000 Menschen alle Sachen, die gebraucht wurden, vorhanden. Vom Kindergarten, Zahnarzt, Bank, Kaufhalle, Schule.


Die Infrastruktur hatte also auch vorteilhafte Aspekte, die man aus heutiger Sicht vermutlich viel weniger nachvollziehen kann als die Menschen, die eine zerstörte Altstadt miterlebt haben. Für sie war dieser neu gebaute Stadtteil ein wahrer Fortschritt, der neue Möglichkeiten bot und durch das Unterbringen vieler Familien außerdem zu einem starken »soziale[n] Zusammenhalt[,] […] eine[r] richtige[n] soziale[n] Gemeinschaft« führte.

Betrachtet man a die Bilder Gerald Großes, so lässt sich erkennen, dass Halle-Neustadt kein vollständig monotoner Ort war, wie es der Roman vermuten lässt. Diverse Aufnahmen beweisen, dass auch ausgefallene Gebäude wie der damalige Delta-Kindergarten oder Schrebergärten vor Ort existierten. Zu den Gärten in Halle-Neustadt äußerte sich zudem ein Interview-Teilnehmer:


Es wurden hier also Gartenkolonien gegründet und man hat also durchaus festgestellt, dass die Menschen was brauchen, wo sie sich individuell verwirklichen können. Das haben die Stadtoberen eben auch erkannt. Bei allem was sie sich bemühten, das Wohnen so wohnlich wie möglich und so angenehm wie möglich zu gestalten, haben sie schon gemerkt, dass die Leute irgendwelche Freiräume brauchen.


In Form der Gärten waren somit auch Orte zur freien Entfaltung der menschlichen Individualität vorhanden, die einen Gegenpol zu und Fluchtort weg von den eintönigen Plattenbauten und typisierten Wohnungen boten. Dementsprechend widerspricht die Realität Halle-Neustadt sowie anderer sozialistischer Planstädte der reinen Monotonie, die in Wellms Roman in einem extremen Ausmaß dargestellt wird.

Nicht-realisierbares Ideal und verlorene Hoffnungen

Lenks Sicht auf die neue Stadt, an deren Aufbau er beteiligt ist, ist hingegen durchgängig negativ und hoffnungslos. Dass er mit dieser Wahrnehmung und Unzufriedenheit nicht allein ist, offenbart sich in Morisco in einer zentralen Szene. Bei dem Geburtstag des Chefarchitekten versammeln sich zahlreiche Gäste, sagen in einem freien, geradezu performativen Sprechen Trinksprüche auf und stoßen auf die neue Stadt an. So beginnt zunächst eine Lobrede auf die in der Zukunft dann vollendete Stadt:


»Auf unsre Stadt, die wir für Kind und Kindeskind erbauen!« Wir hoben unsere Gläser hoch und tranken. »Auf unser Werk, mit dem wir unsre Spuren hinterlassen«, sagte der Direktor Deutscher, »fortan, in alle Ewigkeit!« […] »Die eine Perle unter allen Städten werde!« rief Frau Hoppenrade. »Und Ausdruck eines aufrichtigen Geistes!« rief Le Frong. […] »So wir dem Anbruch einer neuen Zeit ein Denkmal setzen«, sagte Benjamin, »das Denkmal eines neuen Äons!« (177)


Alle Anwesenden bezeugen auf diese Art ihre (einstigen) Hoffnungen für die von ihnen erbaute Stadt. Dass diese von dem vorherrschenden sozialistischen Ideal der Zeit geprägt sind, macht sich bemerkbar, wenn sie im gleichen Atemzug auch »Im Namen der Gewerkschaft!« ausrufen (177). Doch bald schlägt die Stimmung um und die Gäste bedauern eben diese Stadt und sprechen Gedanken aus, die sie normalerweise zurückhalten:


»Ich trinke auf die arme, auf die armselige Stadt, die keiner lieben wird.« […]
»Auf die Stadt, mit der wir unsere Hoffnungen begraben!« sagten wir und tranken.
»Jawohl, und unsere Selbstachtung und unsere Ehre!«
»Und unseren Stolz und alles, was wir hätten bauen können.«
»Auf die saudumme Stadt«, rief Le Frong, »die uns auf dem Gewissen hat!« […]
»Mit der wir die historische Herausforderung verpassen«, sagte Hoppenrade, »die einmalige Chance, die wir nur haben. Ist das nicht wahr?«
»Auf die Stadt, die wir statt ihrer hätten bauen können!« […]
»Auf unsere Illusionen«, sagte Frau Benjamin, »auf die ewigen, niemals erhörten Illusionen …« (178f.)


So zeigen sie ihre inneren, dem Ideal der Zeit diametral entgegenstehenden Gedanken und sind sich im Kollektiv über die Unzufriedenheit mit der Stadt und deren Bauweise einig, da sie sich eigentlich etwas Besseres erhofft haben. Die sozialistischen Hoffnungen und Versprechungen können letztendlich nicht eingelöst werden, und alle Anwesenden holen einander auf den Boden der Tatsachen zurück, in dem sie die tatsächlichen Zustände in diesem kleinen halböffentlichen Rahmen einvernehmlich aussprechen. Zuletzt äußert sich noch der Direktor mit folgenden, die Situation abschließenden Worten:


»Nein«, fiel der Direktor ihr ins Wort, »wir trinken auf die Realität! Auf die Stadt, wie wir sie jetzt real gemeinsam bauen.« […] »Jawohl, auf die elende Stadt, der wir alles opfern, unsere Träume, unsere Seele und den Verstand, aber wir werden sie bauen, diese elende Stadt, und wir werden sie akkurat und termingerecht auf die Zigeunerwiesen stellen, und ich will nicht hören, daß noch einer einmal elende Stadt sagt, zu dieser verfluchten, elenden, armseligen Stadt, die wir jetzt bauen.« (179)


Es wird deutlich, dass zumindest in Morisco individuelle Vorstellungen nicht mit realen Umständen und Vorgaben vereinbar sind. Die Erschaffung der Neustadt ist die Priorität, alles Persönliche und Individuelle nur zweitrangig. Hoffnungen und Wünsche haben in diesem Rahmen keinen Platz und werden regelrecht zerstört.

Lenk verlagert die Realisierung seiner eigenen Wünsche, wie erwähnt, in die Planung seiner Idealstadt Helianthea, »die Stadt der Zukunft« (112). Dem gegenüber betont er immer wieder die negativen Seiten der Bauweise der neuen Stadt wie »die schnurgerade Ausrichtung der Häuser, die Typenreinheit, der Zeilenbau« (164) oder er merkt an, dass »[d]ie Erde […] zerkerbt [ist] mit Gräben, für Leitungen, für Heizungsrohre, inmitten klafft die Baugrube wie eine tiefe unheilbare Wunde« (91) – ein Zitat, das ein Interview-Teilnehmer auf eine überraschende Art und Weise reinterpretiert:


Aber so eine Baugrube beinhaltet meiner Ansicht nach auch immer die Hoffnung, hier wächst mal was. Hier wird mal was entstehen. Also nicht so pessimistisch.


Die interviewte Person widerspricht dem Zitat aus Morisco nicht vollständig, denn die Realität Halle- Neustadts war geprägt von Baugruben, die die Erde aufrissen. Stattdessen stellt die Aussage sich gegen die negative Sicht des Romans und zeigt so, dass man in den Gräben nicht nur eine Zerstörung sehen kann und unterstreicht damit eine zukunftsoptimistische Sicht, aus der heraus Baustellen und -gruben immer mit der Erschaffung von etwas Zukünftigem einhergehen. Dieser optimistische Blick auf die Dinge fehlt Lenk im Roman, der weiterhin seine kritische und pessimistische Meinung vertritt:


Weißt du, was unseren Blöcken fehlt, sie haben keinen Charakter, sie sind weder häßlich, noch sind sie … Sie sind ohne Zeit, sie haben nichts, keine Vergangenheit und keine Zukunft … Manchmal denke ich, und wenn wir die Buden aus Blech und Knüppeln bauen würden, vielleicht könnte der Mensch in ihnen überleben, aber in unseren Blöcken, versteh mich, auf die Dauer kann er es nicht.


Die Gebäude scheinen somit in seinen Augen nicht einmal hässlich zu sein, sondern sie sind lediglich neutrale, nichts aussagende Blöcke, die in keiner Weise herausstechen. Auf die überspitzte Formulierung, dass Menschen in ihnen nicht einmal überleben können, reagiert auch eines der Interviews:


›Ja, sie haben keinen Charakter‹, das stimmt natürlich. ›Sie haben nichts, keine Vergangenheit und keine Zukunft.‹ Keine Zukunft, würde ich nicht…. Hatten wir gerade das Thema, die Zukunft der Plattenbauten in der Bundesrepublik Deutschland. Aber es gab mal eine Sendereihe im Fernsehen über solche schlechten Wohnkomplexe. […] Da war aber Köln dabei, da waren auch Westdeutsche Städte dabei. Und da haben wir manchmal gestaunt, Mensch, die haben ja auch sowas. Warum machen die uns dann so fertig?


Diese Aussage eröffnet eine weitere Ebene der Probleme, nämlich dass besonders Halle-Neustadt als Opfer für Unmutsbekundungen über Neustädte herhalten muss, während diese Art von Städten doch in ganz Deutschland existieren. Daneben wird deutlich, dass auch in den Augen der Anwohner:innen Überleben und Leben in diesen Wohnungen und Gebäuden definitiv möglich sind, auch wenn deren Bauweise von wirtschaftlichen Umständen sowie dem sozialistischen Ideal geprägt ist und eine schnelle Erbauung zu einer überwiegend eintönigen Gebäudelandschaft führt. Dennoch sind sie für ein langfristiges Dasein gedacht, für nächste Generationen, »für Kind und Kindeskind«, wie bereits in den Trinksprüchen thematisiert wird (177).

Mit dieser Intention und dem Bauen der Stadt erschaffen die am Bau Beteiligten eine Brücke in die Zukunft und machen aus der sozialistischen Planstadt – und auch aus Halle-Neustadt – eine Stadt für alle nachfolgenden Generationen. Doch Lenks pessimistischer Blick auf die Zukunft steht in Kontrast zu der Brücke zu den nächsten Generationen, reißt sie gewissermaßen wieder ein. Was als Stadt für die Zukunft beginnt, verwandelt sich in seinen Augen in eine Stadt ohne Zukunft, die auch zu der Altstadt keine wirkliche Verbindung besitzt und lediglich Neid ihr gegenüber aufkommen lässt. Hinzu kommt, dass auch zwischen der Neustadt und den Wünschen der Bewohner:innen sowie Erbauer:innen keine Brücke entstehen kann, wenn alles nur nach vorgegebenem Plan erbaut wird. So erweist sich Morisco als Roman, der einen kritischen Blick auf die Erbauungszeit einer sozialistischen Planstadt, die Umstände der Erbauung sowie die nicht erfüllten Hoffnungen wirft. Individualität und persönliche Vorstellungen können anscheinend nur im Widerspruch zur Realität der Planstädte und dem sozialistischen Ideal stehen und sind kaum miteinander vereinbar.

Pessimismus und Sprechen über die Zukunft

Was kann man nun aus einer solch negativen Perspektive auf sozialistische Planstädte, deren Erbauung sowie nicht realisierte Hoffnungen für die jetzige Zukunftsvorstellung und das Sprechen über die Zukunft mitnehmen? Moriscos pessimistischer Blick auf die Erbauung einer solchen Stadt – und im übertragenen Sinn auf Halle-Neustadt – dient als Kontrastbild zu übermäßig positiven und im Sinne der sozialistischen Ideologie stehenden Darstellungen. Im Gegensatz zu einem alleinigen Fokus auf diesen Text, kann das Betrachten von literarischen Texten mit optimistischer wie auch pessimistischer Sicht sowie der Bilder von Gerald Große einen vielseitigen Blick auf Halle-Neustadt ermöglichen und uns reale Verhältnisse sowie positive und negative Aspekte einer ›Neustadt‹ näher bringen. Es lässt uns realisieren, dass Dinge nicht nur positiv oder negativ, sondern viel komplexer sind. Hierzu äußern sich alle Interview-Teilnehmer:innen, bemerken, wie grün, fußläufig, aber auch ethnisch vielfältig Halle- Neustadt ist und wie sich die Verbindung zu Halles Altstadt gebessert hat. Demgegenüber bemängeln sie allerdings die häufige Schließung von Läden, das Leerstehen und Verfallen von Gebäuden, sowie das nachlassende Gemeinschaftsgefühl aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung – Dinge, die mit Engagement leicht behoben und verbessert werden können. All diese Seiten muss man persönlich vor Ort erleben, um sich ein realistisches Bild von Halle-Neustadt machen zu können und seine Meinung nicht von einem schlechten Ruf und Vorurteilen bestimmen zu lassen. Dazu neigen Menschen häufig, blicken von außen oder oben auf Dinge, ohne jemals damit in Verbindung gekommen zu sein. Eine Interview-Teilnehmerin äußert sich diesbezüglich auch und meint: »Und meistens sind es die, die über Neustadt negativ reden, die gar nicht in Neustadt wohnen«. Exakt diesen externen sowie verallgemeinernden Blick gilt es zu überwinden.

Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft sind dementsprechend ebenso vielseitig, aber nicht immer realisierbar – zumindest nicht auf Anhieb. Allerdings hilft es, der Zukunft nicht rein pessimistisch gegenüberzustehen, wie es bei Lenk in Morisco der Fall ist, sondern optimistisch zu sein, um selbst in einer wunden-ähnlichen Baugrube einen Zukunftsoptimismus finden zu können. Dennoch darf man die Realität nicht aus den Augen verlieren, denn es steckt vermutlich auch Wahrheit in dem von Lenk bemerkten Problem, dass Realität und Vorstellungen nicht immer miteinander vereinbar sind. Die Zukunft ist aber nicht in Stein gemeißelt und nie zu Ende geschrieben, wird sie doch immer wieder zu einer neuen Gegenwart mit anderen Zukunftsvorstellungen. So bleibt auch Halle-Neustadts Zukunft unvollendet und kann immer weiter verändert werden. Was diesen Stadtteil ausmacht, sind dessen Bewohner:innen mit all ihren gegenwärtigen Ideen und Hoffnungen aber auch Taten, die die Zukunft beeinflussen. Es sind genau diese Hoffnungen, die es zu erhören und denen entsprechend es zu handeln gilt. Halle-Neustadts Gegenwart und Zukunft mögen momentan aus der Sicht vieler Menschen wenig Positives versprechen, aber unser gegenwärtiges Handeln hat das Potenzial, die Zukunft zu beeinflussen, zu verändern, und für eine bessere Gegenwart zukünftiger Generationen zu sorgen.


Wir sind alle mit Schuld, wenn die Städte so runtergehen. Und da müssen wir Ursachen finden, wie das kommt und dann müssen wir dagegen angehen. Und wenn da jeder einen kleinen Beitrag leistet, dann ist das schon-.


Anna Maria Franke

Nach einem Bachelor in Deutsche Sprache und Literatur sowie Anglistik und Amerikanistik studiert Anna (geb. 2000) jetzt Komparatistik sowie Englische Sprache und Literatur im Master. Dabei interessiert sie sich besonders für die Gegenwartsliteratur, feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies, Identitätsdarstellung und -verarbeitung in Literatur, sowie Digitale Literaturwissenschaft – im letzteren Bereich arbeitet sie momentan als wissenschaftliche Hilfskraft bei einem Projekt zur Recherche der Sprachkenntnisse bei deutsch-baltischen Autor:innen des 19. Jahrhunderts. In ihrer Freizeit übernimmt Anna liebend gern das Lektorat und Korrektorat bei Texten von Freund:innen.

Kontakt: anna.franke@student.uni-halle.de; anna.franke.amf@gmail.com


Anmerkungen

1Alfred Wellm, Morisco. Roman, Berlin 1987, 103. Im Folgenden nachgewiesen mit Seitenzahlen in Klammern direkt im Text.

Ein großer Dank gilt hier Gerald Große für die großzügige Erlaubnis, seine Fotos im Rahmen unserer Zeitschrift abzubilden.