Ein Blog für literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Beiträge der MLU Halle

Kassandra: Zwischen Ekstase und Sinnesverlust – Annalena Harter

Zwischen Ekstase und Sinnesverlust
Feministische Neuverarbeitungen des
Kassandra-Mythos bei Christa Wolf und
Florence + The Machine

Johann Wolfgang von Goethes Prometheus und Iphigenie auf Tauris, Heinrich Kleists Penthesilea, James Joyces Ulysses, Christa Wolfs Kassandra und Florence + the Machines Cassandra – gemeinsam ist all diesen Werken, dass sie sich mit Mythen beschäftigen, und zwar vorrangig mit den Geschichten der griechischen Mythologie. Der Philosoph Hans Blumenberg spricht davon, dass es eine der wesentlichen Funktionen des Mythos sei, das Unerklärbare zu erklären, den Menschen die Angst vor einer scheinbar allgegenwärtigen Übermacht in der Welt zu nehmen.1

Ausgehend von dieser These verbunden mit der Beobachtung, dass die oben aufgeführten Werke in einer Zeit entstanden sind, in welcher die Wissenschaft als Welt erklärende Instanz den Mythos eigentlich entbehrlich gemacht hat, stellt sich die Frage, wieso der Mythos dennoch weiterhin wiederholt, oder genauer: verarbeitet wird. Gerade das 20. und 21. Jahrhundert bieten revolutionäre Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, man denke beispielsweise an die Entwicklung der Quantentheorien im frühen 20. Jahrhundert – wieso also noch den Mythos bemühen? Es scheint ein gewisses produktives Moment im Mythos an sich, wie auch in dessen literarischer und intermedialer Wiederholung gegeben zu sein, dessen Funktion nicht (mehr) ausschließlich in der Erklärung der Welt besteht. Im vorliegenden Aufsatz stelle ich daher die zunächst einfach anmutende Frage, wieso Mythen so beständig wiederholt werden.

Der Fokus liegt dabei zum einen auf dem Aspekt der Wiederholung in Form eines feministisch motivierten Umschreibens. Welcher Effekt wird hervorgerufen, wenn ein bereits verarbeiteter Stoff erneut aufgegriffen, ein bereits bestehendes Werk erneut literarisch, nun mit Fokus auf Genderverhältnissen, erzählt wird? Welchen ›Mehrwert‹ erhält ein literarisches Werk durch die variierende Wiederholung antiker Stoffe – weshalb ist gerade eine mythische Neuverarbeitung weitaus mehr als ein simples Nochmal-Erzählen? Zum anderen wird untersucht, wieso sich gerade die ›Textsorte‹ Mythos als so beliebt für genderbezogene künstlerische Bearbeitungen herausstellt. Was zeichnet den Mythos aus und welcher Vorteil für die Erzeugung von Bedeutung ergibt sich, wenn statt einer einfachen Schilderung eines Zustandes ein mythologisches Geschehen als Metapher oder Allegorie zur Veranschaulichung genutzt wird?

Als Textgrundlage werden dabei zwei moderne Verarbeitungen des Kassandramythos verwendet: Christa Wolfs Erzählung Kassandra sowie das Lied Cassandra der englischen Alternative-Band Florence + the Machine. Beide Werke werden bezüglich des feministischen Umschreibens und der Funktion des Mythos untersucht.

Der verschmähte Mann und die verfluchte Frau – Kassandra in der Antike: Aischylos’ »Agamemnon«

Kassandra ist in der griechischen Mythologie, so auch im Agamemnon, die Seherin, welche ihre Prophetinnengabe durch den Gott Apoll erlangt. Um Seherin zu werden, verspricht Kassandra, die sexuellen Begierden des Gottes, die dieser für sie hegt, zu erfüllen. Da sie dieses Versprechen jedoch nicht einhält, verfügt Apoll als Strafe, dass niemand ihren (wahren) Prophezeiungen Glauben schenkt.2

Agamemnon ist die erste der drei Tragödien in der Orestie und wurde von dem griechischen Dichter Aischylos verfasst. Der Agamemnon behandelt das Ankommen desselben und Kassandras an der Burg der Atriden in Mykene. Dort wartet bereits Agamemnons Ehefrau Klytaimnestra, um beide zu ermorden. Grund dafür ist einerseits die Opferung Iphigenies, Agamemnons und Klytaimnestras Tochter, durch Agamemnon (vgl. O, 21) sowie das außereheliche Verhältnis Agamemnons und Kassandras, welches im Zuge des Troianischen Krieges entsteht (vgl. O, 105).

Anders als in Prosatexten ist es typisch für die Gattung des Dramas, und damit der Tragödie, dass keine direkt erzählende Instanz vorliegt. Die Handlung wird durch den »Wechsel zwischen Gesang und dramatischer Rede«, das heißt Redebeiträge der beteiligten Figuren, vermittelt.3 Zwar kann der Chor als Organ, welches das Geschehen überblickt und den Zuschauer:innen wichtiges Vorwissen zukommen lässt, als eine solche Instanz agieren (vgl. O, 11), jedoch ist gerade das Sprechen der Figuren ohne eine ordnende Erzählinstanz charakteristisch für Drama und Tragödie. Wann und in welchem Ausmaß Kassandra im Drama eine Stimme findet, ist dabei abhängig vom Verfasser Aischylos. Wichtig zu beachten ist auch, dass die Darstellung Kassandras und ihre Erfahrung als Frau in der Tragödie selbst aus einem männlichen Standpunkt – der Perspektive des Aischylos – heraus konzipiert sind. Es gilt daher zu untersuchen, wie die Figur der Kassandra und ihr Sprechen aus der männlichen Perspektive des Aischylos heraus dargestellt werden und vor allem welche Unterschiede zur Verarbeitung desselben Stoffes aus einer weiblichen Perspektive heraus bestehen.

Kassandra tritt erst in der zweiten Hälfte des Agamemnon auf, doch nimmt sie daraufhin – bis zu ihrem Tod – einen recht großen Anteil der Gesamtrede ein. Auffällig ist, dass Kassandras erstes Sprechen eigentlich keine ganzen Sätze, sondern vielmehr einzige Laute der Klage sind: »O oh o weh, o weh, ach!/Apollon, Apollon!« (O, 75). Kassandra mag im Drama eine Stimme haben, gerade zu Beginn ihrer Anwesenheit hat es aber den Anschein, als könne sie sich mit der menschlichen Sprache gar nicht richtig ausdrücken. Während des weiteren Verlaufs der Handlung werden ihre Sätze jedoch zusammenhängender und wohlartikulierter. Kassandra wird anfangs vor allem als eine über ihr Schicksal trauernde Frau dargestellt. Sie klagt: »Apollon, o Heilgott,/Wegführer, Unheilgott für mich:/In Unheil warfst du mich ja ganz zum zweitenmal!« (O, 75) und »O weh, o der Unselgen düstres Todeslos!/Mein eignes klag ich laut, mein Leid misch ich darein./Wozu hast du mich hier – die Arme – hergeführt?/Allein doch, daß ich mit hier sterbe: wozu sonst?« (O, 79, 81). Später fügt sich Kassandras Klage eine Wut über ihre Seherinnengabe bei, die sie veranlasst, sich von ihrem Priesterinnentum loszusagen:


Wozu, die mich zu aller Spott gemacht, trag ich sie noch:/Den Stab hier und am Hals die Seherbinde da?/Dich, eh mein Los sich mir erfüllt, zerbrech ich so!/Zur Höll mit euch! Da liegt ihr! So zahl ich euch heim!/Eine andre macht an meiner Statt an Unheil reich! (O, 91)


Den Titel als Seherin und das damit verbundene Unglück, dass niemand ihren Prophezeiungen glaubt, welches auch zu ihrer gegenwärtigen Situation führte, weist sie somit explizit von sich. Dass Kassandras Rede tendenziell wenig Glauben geschenkt wird, zeigt sich im Agamemnon vor allem durch die Interaktionen zwischen Kassandra und dem Chor, besonders dem Chorführer. Zuweilen scheint der Chor fast von ihrer Rede überzeugt: »Uns wahrlich scheinst glaubwürdig du zu prophezein.« (O, 87). Das Misstrauen des Chores überwiegt allerdings. Er bezeichnet sie als »sinnesgestört« und ihren gegenwärtigen Zustand des Sehens als Wahn (vgl. O, 81). Die falsche Betrachtung von Kassandras Sinnen, die die Wahrheit erkennen und kommunizieren, als nicht funktional, ist der exakte Ausdruck ihres Schicksals. Niemand außer Kassandra ist von der Wahrheit ihrer Rede überzeugt. Somit befindet Kassandra sich automatisch in einer Situation der Ausgrenzung. Sie als alleinige Person, welche die Wahrheit in ihrem Sehen erkennt, steht dem Rest des Volkes, das an diesem Erkennen scheitert, gegenüber. Die gesellschaftliche Randposition wird auch durch die Antithese »Apollon, o Heilgott,/Wegführer, Unheilgott für mich« deutlich (O, 75). Im normalen Kontext des Alltags der Griech:innen wird Apollon als Heilgott angesehen, lediglich die gestrafte Kassandra sieht in ihm einen (persönlichen) Unheilgott.

Die Handlungen der Kassandra im Drama beschränken sich auf das Klagen sowie die Konversationen mit dem Chor. Sie hat außer diesem Akt des Lossagens von ihrem Priesterinnentum keinen Anteil an Taten, die die Handlung des Dramas explizit vorantreiben. Ebenso wenig kann sie die Handlung des Dramas verändern oder gar verhindern. Die Literaturwissenschaftlerin Svenja Schmidt erwähnt in diesem Kontext auch, Kassandra lenke durch ihre Vorhersagen lediglich die Erwartungen der Zuschauer:innen.4 Der Titel der Tragödie, Agamemnon, verdeutlicht bereits, dass dieser die Hauptfigur darstellt. Kassandra nimmt in der Tragödie eher die Rolle einer Nebenfigur ein und fungiert als Gegenspielerin Klytaimnestras.

Aufgrund der Form der Tragödie kann die Figur der Kassandra nur durch ihr eigenes Sprechen oder die Reden der anderen Figuren charakterisiert werden. So wird sie zu Beginn durch die Zuschreibungen Klytaimnestras und denen des Chors skizziert. Erstere meint, »rasend ist sie, bloß verbohrt in bösen Trotz« (O, 73). Für Klytaimnestra stellt Kassandra also eine sture und intrinsisch böse Frau dar. Die Bewertung Kassandras als eitel und »sinnesgestört« durch den Chor integrieren sich in dieses Bild. Kassandra wiederum erwidert diese Antipathie. Sie sieht Klytaimnestra als »verhaßte[s] Untier«, als »rasende Höllenmutter« (O, 87). Für die Rezipient:innen ist demnach offensichtlich, dass die Frauen Klytaimnestra und Kassandra sich verfeindet gegenüberstehen und Aischylos sie gewissermaßen gegeneinander ausspielt. Der Grund für die Feindschaft scheint das Begehren ein und desselben Mannes, des Agamemnon, zu sein. Die direkte Gegenspielerin und Feindin ist Kassandra deshalb, da sie diejenige ist, mit welcher Agamemnon den Ehebruch begeht:


Die Kriegsgefangne – hier! Die Zeichendeuterin/Und Beischläfrin von dem dort, die Wahrsagerin,/Getreuer Bettschatz ihm, die Schiffsverdeckes Bank/Mit ihm gedrückt! Doch ungestraft nicht taten sie’s. (O, 105)


Der Agamemnon zeigt ebenfalls, dass die Figuren verschiedenen, komplexen, nicht ausschließlich patriarchalen Machtverhältnissen unterstehen. Als Zweifachmörderin steht Klytaimnestra in einem matriarchalen Machtverhältnis zu Kassandra und Agamemnon. Kassandra wiederum steht unter dreifacher Gewalt. Zum einen ist sie die Sklavin Agamemnons und damit in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt. Durch den Fluch Apolls ist sie auch diesem untergeordnet. Apoll verfügt über die Macht, die Rede der Frau in der Gesellschaft glaubhaft oder unglaubhaft wirken zu lassen. Diese Verhältnisse sind als patriarchal zu beschreiben. Gleichzeitig unterliegt sie durch ihren Tod jedoch auch Klytaimnestras Macht.

Zusammenfassend wird Kassandra im Agamemnon als ein tragisches Frauenschicksal dargestellt. Familien und ganze Städte gehen unter, da die Wahrheit sprechende Frau kein Gehör findet. Diese Strafe erhält sie von dem von ihr verschmähten Mann (und Gott) Apollon: Die Abweisung eines Mannes durch die Frau Kassandra wird zum Auslöser für Leid. Sie selbst gerät bereits in Troia in eine Situation der gesellschaftlichen Ausgrenzung, welche in Griechenland durch die Feindschaft mit Klytaimnestra bestärkt wird. Die Feindschaft zwischen den beiden Frauen ist hier persönlich motiviert. Beide zeigen Interesse an oder empfinden, in Kassandras Fall, Sympathie gegenüber Agamemnon.5 Die Rede der Kassandra besteht in der Tragödie zum Großteil aus Klage, dem ›Sehen‹ und Dialogen mit dem Chor. Gemäß dem Mythos wird Kassandras Prophezeiung auch bei Aischylos in Abrede gestellt. Dieser Umstand veranlasst sie schlussendlich dazu, sich von ihrer Identität als Seherin loszusagen. Als Nebenfigur kann Kassandra die Handlung des Dramas nicht aktiv verändern. Zudem steht sie im Drama unter dreifacher, teils matriarchaler und teils patriarchaler Gewalt, was ihre Handlungsfähigkeit in der Tragödie zusätzlich einschränkt.

Christa Wolfs Kassandra – die literarische Emanzipation einer Figur

Christa Wolfs Erzählung Kassandra, 1983 erstmals in der BRD erschienen, ist ein innerer Monolog Kassandras. Diese rekapituliert – auf dem Beutewagen des Agamemnon vor der Burg Mykene sitzend und auf ihren Tod wartend – ihr Leben in Troia als Königstochter und Seherin bis zum Untergang der Stadt und der Ankunft in Griechenland. Da in Bezug zur Forschungsfrage vor allem die Unterschiede zwischen Wolfs Werk und Aischylos Agamemnon von Relevanz sind, soll im Folgenden nur summarisch auf die Gemeinsamkeiten und ausführlicher auf die vor allem feministisch motivierte Variation des Mythos in der Erzählung mit Aischylos’ Drama eingegangen werden.

Wie auch im Agamemnon ist Kassandras Leben bei Christa Wolf von einer deterministischen Schicksalhaftigkeit geprägt. So reflektiert sie zu Beginn der Erzählung: »Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können hätte mich an ein andres Ziel geführt«.6 Zudem wird Kassandras Warnungen, zumindest in den entscheidenden Augenblicken, immerhin Beachtung, aber kein Glauben geschenkt. Als die Troianer das Kriegsgeschenk der Griechen in die Stadt ziehen und Kassandra »schrie, bat, beschwor und […] in Zungen [redete]«, glaubt ihr der Anführer Eumelos nicht (K, 176). Sie begreift, »was der Gott [Apoll] verfügte: Du sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben« (K, 177). Kassandra ist eine respektierte Traumdeuterin (vgl. K, 177), sie wird aber, sobald sie in politischen Angelegenheiten (berechtigte) Warnungen ausspricht, der Öffentlichkeit entzogen und als wahnsinnig erklärt. Ihre Prophezeiungen finden kein Gehör. So erkennt Kassandra beispielswiese als einzige, dass das Vornehmen des Paris, Menelaos’ Ehefrau Helena zu entführen, nur im Krieg enden kann. Als sie schreit, »Wehe, wehe. Laßt das Schiff nicht fort!«, wird sie »aus dem Saal geschleift« und es kursiert das Gerücht, sie sei wahnsinnig (K, 79).

Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Kassandrafiguren ist die Verortung in spezifischen Machtverhältnissen. Zwar werden in Christa Wolfs Erzählung explizit matriarchale Orte als Gegenräume zum patriarchalen Troia entworfen (siehe dazu beispielsweise die Kybele-Gemeinschaft der troianischen Frauen),7 in einem körperlichen Sinn untersteht Kassandra aber vor allem dem Mann Panthoos, einem griechischen Priester (vgl. K, 87). Weiterhin steht Kassandra als troianische Bürgerin trotz ihrer königlichen Herkunft unter dem troianischen Gesetz und muss sich dem Willen des Königs, ihrem Vater, und dessen Dienern fügen.

Da in diesen Beispielen immer ein männlicher Part Gewalt über die weibliche Kassandra ausübt, sind diese Machtverhältnisse ebenfalls als patriarchal zu beschreiben. Eine Macht von Frauenfiguren über Männerfiguren ist in Wolfs Erzählung allerdings ebenfalls dargestellt. So liegt ein Vorteil der Frauen Troias in einer Art intellektueller Übermacht gegenüber den troianischen Männern, vor allem gegenüber König Priamos. Kassandra scheint beispielsweise mehr über ihre Mitmenschen zu wissen, als diese von sich selbst wissen oder wahrhaben wollen. Ihrem Vater wirft sie vor: »Du liegst […] mit dir selbst im Widerstreit. Hältst dich selbst in Schach. Lähmst dich« (K, 88).

Die wichtigsten Unterschiede zwischen der Kassandra bei Christa Wolf zur Kassandra des Aischylos liegen in der literarischen Form der Darstellung der Kassandrageschichte und den bei Wolf vorliegenden feministischen Zügen des Textes. Wolfs Erzählung weist, anders als Aischylos’ Tragödie, eine Erzählerin auf: die Hauptfigur Kassandra, Tochter des troianischen Königs Priamos. Die Erzählinstanz ist demnach eine homo- und autodiegetische, intern fokalisierte. Die Erzählung selbst, der innere Monolog Kassandras, beginnt in medias res und liegt als meist analeptisches Erzählen ihres Lebens in Troia mit gelegentlichen Einschüben des gleichzeitigen Erzählens, also Schilderungen aus der Erzählgegenwart, vor.

Durch die Gattung der Prosa kann bereits die erste elementare Weiterentwicklung in der literarischen Darstellung Kassandras vollzogen werden: Kassandra selbst hat eine allgegenwärtige Stimme und damit die Freiheit, zu entscheiden, in welcher Sprache, auf welche Weise und in welchem Umfang Ereignisse geschildert werden. So ist die gesamte Erzählung ein Zeugnis der ausgeprägten Artikulation Kassandras und ihrer Lebenserfahrung (als Frau).

Diese Lebenserfahrung schildert sie vergleichsweise ehrlich und direkt: So bringt sie sowohl zur Sprache, dass »Achill das Vieh« (K, 104) die tote Penthesilea vergewaltigt (vgl. K, 156), als auch, dass Agamemnon seine eigene Tochter ermordet. Die Bezeichnung »Achill das Vieh« zieht sich dabei durch den gesamten Monolog und stellt Kassandras Wunsch dar, die Dichter mögen aufhören, ruhmreiche Heldenlieder über den (in vielerlei Hinsicht) Täter Achill zu singen (Vgl. K, 104.). Sie legt ebenfalls besonderen Wert darauf, dass Iphigenies Ermordung nicht etwa durch Formulierungen wie opfern oder Ähnliche verschleiert wird (K, 71). Schonungslos entlarvt sie als männlich codierte Verhaltensweisen und Psychologie: »Die Frau schinden, um den Mann zu treffen«, und die Dynamiken der patriarchalen, troianischen Gesellschaft: »Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich überhaupt noch zu empfinden, uns [die Frauen] als Opfer« (K, 156). Im Kontext der Geschichte betrachtet, in welcher Kassandra der Öffentlichkeit jedes Mal entzogen wird, sobald sie beginnt, Tatsachen auszusprechen, die ein männlicher Part als solche nicht anzuerkennen scheint, ist gerade das Aussprechen mit der Erzählung ein Akt der Auflehnung gegen patriarchale (Rede-)Verhältnisse, wie sie im Text selbst existieren.

In Anbetracht der literarischen Form ist ebenfalls der poetologische Aspekt der Kassandra anzumerken. Kassandra bezeichnet ihre Gedanken explizit als »Erzählung«, mit welcher sie »in den Tod« geht (K, 7). Da Erzähltexte immer einen mindestens impliziten Adressaten oder eine implizite Adressatin voraussetzen, ist anzunehmen, dass auch Kassandra ihre Gedanken an eine Zuhörer:innenschaft richtet. Die Erzählung ist demnach nicht mehr nur reine persönliche Rekapitulation eines Lebens, sondern ein Umstand, ein Beispiel, welches für eine gewisse Adressat:innengruppe aufgrund eines bestimmten Zweckes aufbereitet wird.

Gleichzeitig spielt der Aspekt der Zeug:innenschaft für sich selbst sowie das Bewusstsein und kognitive Verarbeiten der eigenen Erfahrungen bis zum letzten Moment des eigenen Lebens eine enorme Rolle im Umgang mit dem eigenen Selbst und Schicksal der Kassandra. So erklärt sie: »Ich will die Bewußtheit nicht verlieren, bis zuletzt« (K, 31) und »Ich will Zeugin bleiben, auch wenn es keinen einzigen Menschen mehr geben wird, der mir mein Zeugnis abverlangt« (K, 32). Es scheint sinnvoll, anzunehmen, dass ein Teil der Autonomie Kassandras als Frau daraus hervorgeht, die Zeug:innenschaft nur für sich selbst ablegen zu können, unabhängig von der Existenz potenzieller Adressat:innen und Rezipient:innen – schließlich erlangt sie diese Autonomie nicht zuletzt durch den Umstand, dass die Erzählung ihr eine Stimme verleiht. Die Frau kann eine Stimme haben, die für sie Selbstzweck und nicht nach einem männlichen Rezipienten ausgerichtet ist. Dies entspricht einem neuen Verhältnis von Frauen und Männern (von Geschlechterbinarität ausgegangen), in welchem die Frau und vor allem die Rede der Frau nicht in Relation zu einem männlichen Counterpart, sondern für sich alleine steht. Die Frau ist als Frau ohne Rückgriff auf einen männlichen Part definierbar.

Zur Rede der Kassandra bei Christa Wolf gehört ebenfalls, dass für die Darstellung von Kassandras Schicksal und gegenwärtige Situation kein klagender Ton verwendet wird. Sofern ihre Rekapitulation von einer Emotion unterbrochen wird, dann von der der Angst (vgl. K, 32). Generell wird die Figur der Kassandra im Gegensatz zur tragischen Darstellung bei Aischylos eher in einem positiven Sinn konstruiert; sie beschreibt sich selbst als umgänglich, bescheiden und anspruchslos, als aufrecht, stolz und wahrheitsliebend (vgl. K, 18). Hier wird demnach kein der Kunstform des antiken Dramas wegen tragisches Frauenschicksal dargestellt. Die Frau wird als Person beschrieben, die für ihre gesellschaftliche Gruppe relevante und kennzeichnende Erfahrungen macht.

Christa Wolfs Kassandra ist in einer weiteren Hinsicht feministisch konzipiert. So schafft Kassandra in ihrer Erzählung Raum für die Darstellung explizit weiblicher Erfahrungen. Im Kontext der Vergewaltigung Penthesileas durch Achill spricht sie von einem kollektiven, weiblichen Gefühl der Anteilnahme: »Und ich stöhnte. Warum. Sie hat es nicht gefühlt. Wir fühlten es, wir Frauen alle« (K, 156). Aus dieser kollektiven Anteilnahme am Leid der Penthesilea heraus entsteht ein Zug,


der Penthesileas Leiche trug und sich auf dem Weg vom Fluß her, wo sie [die Anhängerinnen Penthesileas] sie herausgezogen hatten, immer mehr vergrößerte. Amazonen, Troianerinnen, alles Frauen. (K, 157)


Dass Achill die tote Penthesilea noch schändet, löst bei den Frauen einen schieren Wahnsinn aus. Während der Totenwache derselben entwickelt sich aus der rasenden Wut über Achill und die gleichzeitige Verehrung Penthesileas bei den Frauen ein rauschartiger Zustand, welcher in der Ekstase gipfelt:


Die Frauen, die im Kreis standen, […]. Begannen sich zu wiegen. Wurden lauter, zuckten. Eine warf den Kopf, die andern folgten. Krampfhaft zogen die Körper sich zusammen. Eine taumelte in den Kreis, neben der Leiche begann sie zu tanzen, stampfend, die Arme schleudernd und sich schüttelnd. Ohrenbetäubend wurde das Gekreisch. Die Frau im Kreis verlor die Selbstkontrolle. Schaum trat ihr vor den Mund, der sperrweit aufgerissen war. Zwei, drei, vier andre Frauen waren, ihrer Glieder nicht mehr mächtig, an dem Punkt, da höchster Schmerz und höchste Lust sich treffen. Ich spürte, wie der Rhythmus auf mich überging. Wie in mir der Tanz anfing, eine heftige Versuchung, nun, da nichts mehr helfen konnte, alles, auch mich selber aufzugeben und aus der Zeit zu gehn. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit, so hieß der Rhythmus, und ich war dabei, mich ihm ganz zu ergeben. […] Tanze, Kassandra, rühr dich! Ja, ich komme. Alles in mir drängte zu ihnen hin. (K, 157f.)


Dass dieser Rausch, diese Ekstase eine explizit weibliche ist, kann damit begründet werden, dass der Rauschzustand nur aufgrund von spezifisch weiblichen Erfahrungen zustande kommen kann: dem Gefühl der Ohnmacht, der wahnsinnigen Wut gegen das männliche Handeln der Frau gegenüber. In der Kassandra stellt sich dies im Gefühl der wahnsinnigen Wut der Frauen über Penthesileas Ermordung und Vergewaltigung dar. Der ekstatische Höhepunkt der Frauen markiert zugleich den Höhepunkt in der veränderten, auf weibliche Lebensrealitäten und Erfahrungen fokussierten Darstellungsweise, nicht nur der Kassandra, sondern der gesamten Frauen Troias. Die Erzählung erweist sich als das Zeugnis einer weiblichen Lebensrealität im generellen sowie weiblicher Grenzerfahrungen, exemplarisch durchgeführt am Mythos der Kassandra von Troia.

Verbunden mit der Beobachtung, dass sich der Text explizit selbst als Erzählung ausweist, und somit eine gewisse, allerdings unklar definierte Adressat:innengruppe impliziert, kann das ›Ansprechen‹ und ›Aussprechen‹ der gesellschaftlichen Missstände, der von Benachteiligung zeugenden Erfahrungen der Frauen, als politisierend betrachtet werden. Die Adressierten werden vor allem für von der heutigen Gesellschaft als fundamental betrachtete Themen, die Lebensrealität der Frau, sensibilisiert.

Ein weiteres Gefühl, das als weiblich codiert dargestellt wird, ist der Moment des Verstehens des Dreierverhältnisses von Agamemnon, Kassandra und Klytaimnestra zwischen Letzteren, als Klytaimnestra das Gegenstück ihrer Halskette an Kassandras Hals entdeckt: »Mit der gleichen Geste griffen wir danach, blickten uns an, verstanden uns, wie nur Frauen sich verstehn« (K, 135). Im Vergleich mit Aischylos’ Konzeption der Frauenfiguren, welche sich als äußerste Feindinnen gegenüberstehen, und damit kein Verständnis für die Situation der jeweils anderen empfinden können, liegt hier eine interessante Weiterentwicklung in der Darstellung der Frauenfiguren und deren Verhältnis zueinander vor. Das gegenseitige Verständnis für die Position der Anderen, diese Art der Solidarität, steigert sich noch in der Erklärung Kassandras:


Durch ein Schulterzucken gab sie mir zu verstehn, daß, was geschah, nicht mir persönlich galt. Nichts hätte zu andern Zeiten uns hindern können, uns Schwester zu nennen, das las ich der Gegnerin vom Gesicht ab, […] in den Mundwinkeln der Klytaimnestra erschien das gleiche Lächeln wie in den meinen. Nicht grausam. Schmerzlich. Daß das Schicksal uns nicht auf die gleiche Seite gestellt hat. (K, 57)


Durch das gegenseitige Trauern über die äußeren Umstände – der Krieg Troias mit den Griechen – zeigt sich, dass beide Frauen sich im Klaren darüber sind, dass einzig die sozialpolitischen Umstände die Gründe für ihre Gegenspielerinnenposition sind. Der Mord an Kassandra, welcher bei Aischylos noch deutlich aus persönlichen Gründen hervorging, scheint hier lediglich politisch motiviert und eine reine Formalität zu sein – ein Umstand, welchen beide Frauen aus ihrem Wissen um die patriarchalen Gesellschaften heraus, in welchen sie existieren, verstehen und akzeptieren. Auch hierin sind die beiden Frauenfiguren weiterentwickelt. Beide werden, anders als bei Aischylos, nicht auf ihr Verhältnis zu einem Mann reduziert, aus welchem dann zusätzlich eine Feindschaft resultiert, sondern als Figuren in bestimmten politischen Geflechten konstruiert. Zugleich sind die Frauen komplex genug angelegt, um sich dieser Verhältnisse bewusst zu werden und sie zu akzeptieren, mit Fassung anzunehmen. Beide Frauen befinden sich in keiner emotionalen Abhängigkeit zu Agamemnon, sind nicht von ihren Gefühlen geleitet, was die Verbundenheit von Kassandra und Klytaimnestra ermöglicht. Die auf romantischer Liebe basierende Abhängigkeit von einem Mann und die damit oft einhergehende Einschränkung in den Handlungen wird damit überwunden.

Ein weiterer Unterschied in der Verarbeitung des Kassandrastoffes liegt bei Christa Wolf in Kassandras Verhältnis zu ihrer Seherinnengabe. Obwohl diese ihre Gabe letztendlich akzeptiert, sogar »Lust aus allem [zog], was [sie] sah – Lust; Hoffnung nicht! – und […] weiter [lebte], um zu sehn« (K, 8), was der schlussendlichen Lossagung von der Identität als Seherin bei Aischylos diametral gegenübersteht, schildert Kassandra den Weg zur Annahme der Seherinnenidentität als schwierig. Ihr anfänglicher Wunsch, »diesen verbrecherischen Körper, in dem die Todesstimme ihren Sitz hatte«, (K, 80) auszuhungern, auszudörren, wandelt sich allmählich um in eine Gewöhnung an das Sehen, in ein Gefühl der Überlegenheit (vgl. K, 128f.) und schließlich zu einer allumfassenden Lust (vgl. K, 8).

Obwohl auch Christa Wolfs Kassandra daran zugrunde geht, dass ihr im entscheidenden Augenblick niemand Glauben schenkt, so besteht die (auch feministische) Veränderung bei Wolfs Kassandra in der selbstbestimmten Praxis derselben, sich der Seherinnengabe anzunehmen, sie zum elementaren Bestandteil der eigenen Identität zu machen. Obwohl die Gabe durch den Fluch des Apollon ihren primären Sinn, die Menschen zu warnen, verloren hat, sagt sich Kassandra nicht von ihr und dem mit ihr einhergehenden Leid los.

Auch hier wird die Abhängigkeit, die Fremdbestimmung durch den Mann Apollon überwunden, indem das verhängte Los nicht nur passiv angenommen, sondern für sich selbst aktiv umgedeutet wird – das Leid des Sehens wird zu Lust. Interessant wäre in diesem Kontext auch die Überlegung, ob mit dem Begriff der Lust gleichzeitig der Gedanke der sexuellen Emanzipation mitschwingt, oder ob Lust in der Erzählung lediglich als Gegenstück zu Leid fungiert.

Christa Wolfs Kassandra ist in vielerlei Hinsicht eine Weiterentwicklung der literarischen Darstellung der Kassandrafigur im Vergleich zur Darstellung der Kassandra im Agamemnon des Aischylos. Während Kassandra bei Aischylos nur eine Nebenrolle einnimmt, ist die Kassandra Wolfs ein einziges ungefiltertes Zeugnis der Lebenserfahrung einer Frau im antiken Troia. Die Erzählung ist insofern feministisch zu lesen, als eine zweifach weibliche Perspektivierung vorliegt. Zum einen wird die Geschichte um Kassandra textintern durch Kassandra selbst geschildert. Sie berichtet ausführlich von einer weiblichen Lebensrealität und weiblichen (Grenz-)Erfahrungen. Ihre Rede ist wesentlich autonom und autark. Die Kassandrafigur ist von Wolf – einer weiblichen Autorin – zum anderen in einer Komplexität dargestellt, welche die des Aischylos überschreitet: Kassandra ist ausgesprochen selbstreflexiv und komplex in ihrer persönlichen Entwicklung. Mit ihrer Figur wird die emotionale Abhängigkeit von Agamemnon und das Verhältnis mit dem Gott Apollon, der ihr die Seherinnengabe als Art Fluch auferlegt, überwunden. Sie klagt nicht mehr und deutet das Leid des Sehens zum Lustempfinden um. Christa Wolf greift zudem andere vielschichtige Themenbereiche auf, die sich durch die gesamte Erzählung ziehen. Fragen der Politik, Kultur und Gesellschaft sowie des Glaubens, der Sprache und des Sprachverlustes, der Identitätsfindung und Ich-Gespaltenheit bis hin zu Themen des Rausches, matriarchalen Strukturen und queeren Diskursen vereinen sich in der Kassandra.

Feministisches Umschreiben bei Wolf – Warum sich der Mythos eignet

Mit den Frankfurter Poetik-Vorlesungen, welche Christa Wolf 1982 an der Goethe-Universität hielt, lassen sich das Interesse und die Ideologie der Autorin hinter der Kassandra-Erzählung hinreichend nachvollziehen. Diese werden im Folgenden als leitende Interpretation des Textes betrachtet. In den vier Vorlesungen berichtet Wolf von ihrer Griechenlandreise, deren Einfluss auf ihre Vorstellung der Kassandra und von dem Schreibprozess der Erzählung. Die Reflexionen über feministische, soziokulturelle und erzähltheoretische Themen bieten die Grundlage zur folgenden Erörterung der Frage, was an der literarischen Technik der – vor allem feministisch motivierten – Wiederholung so produktiv ist.

Während der Lektüre von Aischylos’ Orestie beginnt sich die Figur der Kassandra in Wolfs Vorstellung zu entwickeln.8 Wolf berichtet davon, dass sie der Kassandrastoff regelrecht gefangen nehme,9 sie die mythologische Frau auf eine bestimmte Art und Weise verstehen und sich in sie hineinversetzen kann.10 Diese anfängliche Faszination wandelt sich während der Beschäftigung Wolfs mit den soziokulturellen und politischen Gegebenheiten der historischen, nicht mythischen Kassandra in eine Art der produktiven Distanz:


Die Figur verändert sich andauernd, indem ich mich mit Material befasse; immer mehr schwindet der tierische Ernst, alles Heroische, Tragische, demzufolge schwinden auch Mitleid und einseitige Parteinahme für sie. Ich sehe sie nüchterner, sogar mit Ironie und Humor. Durchschaue sie.11


Produktiv ist diese Distanz, das geringere Mitfühlen daher, als eine aus Mitgefühl resultierende tragisch-pathetische Darstellung des Schicksals der Kassandra, wie sie eher bei Aischylos vorliegt, das eigentliche Vorhaben Christa Wolfs eher behindern würde: die »Rückführung aus dem Mythos in die (gedachten) sozialen und historischen Koordinaten«.12 Ziel des Umschreibens mag also eine möglichst realistische Darstellung der Frau Kassandra sein, losgelöst von literarisch-tragischen, und damit oft künstlichen Konzeptionen, die beispielsweise (reale) relevante Gender-Problematiken verdecken.

Ihr Anliegen, das Leben und Wahrnehmen der Kassandra wiederholt zu erzählen, nur anders, möglichst historisch akkurat und aus einer weiblichen Perspektive heraus, zeigt sich unter anderem in der Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen Kassandra und Klytaimnestra. Die Solidarität der Frauen untereinander sowie das gegenseitige Verständnis für die Situation der jeweils anderen ist Christa Wolfs Antwort darauf, wie »der männliche Dichter diese Frauen sehen [will]: haßvoll eifersüchtig, kleinlich gegeneinander – wie Frauen werden können, wenn sie aus der Öffentlichkeit vertrieben, an Haus und Herd zurückgejagt werden«.13 Diese Antwort zeigt sich auch in Wolfs komplexen Konstruktionen der beiden Frauenfiguren, die ohne bestimmte von Abhängigkeit charakterisierte Verbindungen zu einem Mann definiert werden können. Die Bedeutsamkeit des Perspektivwechsels von männlich zu weiblich, von Aischylos zu Christa Wolf, begründet letztere folgendermaßen:


Inwieweit gibt es wirklich ›weibliches‹ Schreiben? Insoweit Frauen aus historischen und biologischen Gründen eine andre Wirklichkeit erleben als Männer. Wirklichkeit anders erleben als Männer, und dies ausdrücken. Insoweit Frauen nicht zu den Herrschenden, sondern zu den Beherrschten gehören, jahrhundertelang, zu den Objekten der Objekte, Objekte zweiten Grades, oft genug Objekte von Männern, die selbst Objekte sind, also, ihrer sozialen Lage nach, unbedingt Angehörige der zweiten Kultur; insoweit sie aufhören, sich an dem Versuch abzuarbeiten, sich in die herrschenden Wahnsysteme zu integrieren. Insoweit sie, schreibend und lebend, auf Autonomie aus sind.14


Dass Frauen aufgrund ihrer unterdrückten Positionen in patriarchalen Gesellschaften eine andere Wahrnehmung der Wirklichkeit aufweisen als Männer, auf deren Weiterentwicklung und Vorteil patriarchale Gesellschaften primär ausgelegt sind, ist der Grund, wieso auch literarische Darstellungen von weiblichen Erfahrungen aus einer männlichen Perspektive nicht hinreichend adäquat sind. Sie können Missstände nie authentisch problematisieren und zur Sprache bringen. Interessant ist dabei doch, dass gerade Mythen in vielerlei Hinsicht männlich geprägt sind: Männer produzieren Quellen, sind verantwortlich für deren Überlieferung, und es gibt kaum aus weiblicher Perspektive verfasste Texte. Zudem existieren in den meisten Mythen, so auch in der Kassandra-Figur des Aischylos, von männlichen Personen geprägte Frauenbilder.15

Zugleich geht mit dem Schreiben, dem ›Aussprechen‹ von explizit weiblichen Erfahrungen und Problemsituationen eine gewisse Autonomie und Selbstermächtigung einher. So definiert Christa Wolf die »innere Geschichte« der Kassandra als »das Ringen um Autonomie«.16 Auch die Literaturwissenschaftlerin Heike Bartel spricht davon, dass ein – wenn nicht sogar der wichtigste – Bestandteil der feministischen Auseinandersetzungen mit Mythen der Perspektivenwechsel vom männlichen zum weiblichen Blick und die Freilegung der weiblichen Stimme sei.17 Obgleich die Kassandra bei Wolf selbst noch Teil des patriarchal organisierten Troia ist, ist die Weiterentwicklung in der literarischen Darstellung in eine feministische Richtung durch die Stimme der Kassandra in der Erzählung gesichert. Die Erzählung könnte, wie oben bereits beschrieben, sogar in dem Sinn als politisierend beschrieben werden, als die Erzählerin Kassandra mit ihrer Rede im Mindesten ihre Rezipient:innen für Themen feministischer Bewegungen sensibilisiert.

Zudem ordnet sich die Kassandrafigur Wolfs durch die poetologischen Verweise, die Ausweisung des Gedankenmonologs als ›Erzählung‹, selbst in den Kunstdiskurs ein. Dies ist insofern bedeutungstragend, als zum einen Christa Wolf selbst die Ansicht vertritt, dass nur Sprache, nur Literatur die wirklichen Mitteilungen über menschliches Zusammenleben bringe.18 Zum anderen erklärt schon Simone de Beauvoir, dass von Mythen transportierte Blicke, Definitionen und Denkmodelle im Verlauf der Zeit weitertransportiert werden und dadurch ihre Beständigkeit entfalten.19 Die marxistische Literaturwissenschaft nimmt an, dass in der Literatur vertretene gute Werte die rezipierende Gesellschaft beeinflussen können und sollen.20 Wird Wolfs Kassandra in diesem Kontext gelesen, scheint die Erzählung sowie die Figur der Kassandra selbst die benötigte (feministisch motivierte) Stimme zu sein, die die vom Mythos bisher vermittelten Werte und Paradigmen durch neue Aussagen über Gesellschaft und Kultur überlagert.

Da Mythen »wesentlich dazu bei[tragen], retardierende Denkmuster zu vermitteln, die Gesellschafts- und Geschlechterordnungen affirmieren, stabilisieren und perpetuieren«, ist gerade die Wiederholung, das erneute, doch Anders-Erzählen und Umdeuten des Mythos so aussagekräftig.21 Zwar gibt es, Hans Blumenberg zufolge, keine Korrektur, keine Richtigstellung von Mythen, da diese nie Original, vielmehr schon immer Variation waren,22 jedoch kann die poetologische Erzählung Christa Wolfs als ein Versuch gewertet werden, diese von Mythen kommunizierten und im Mythos kumulierten Denkmuster und Perspektiven auf verschiedene gesellschaftliche Zustände in eine andere – feministische – Richtung zu lenken. Somit wird der Kassandramythos im Gesamten mit einer weiteren, anderen Bedeutungsebene angereichert. Diese Überlagerungen oder Anreicherungen von verschiedenen Bedeutungen eines Mythos, die aus verschiedenen Rezeptionen in verschiedenen Kontexten entstehen,23 begründen ebenfalls, wieso das Wiederholen, Anders-Sagen, Umdeuten von bereits Bestehendem sogar aussagekräftiger sein kann, als beispielsweise ein inhaltlich neues Werk mit feministischer Motivik.

Dass es gerade der Mythos ist, welcher Denkmuster und Gesellschaftsordnungen so zuverlässig durch die Jahrhunderte transportiert, erklärt auch, wieso Mythen wiederholt werden. Gerade bei einem Medium mit beispielsweise problematischen Geschlechterbildern ist ein wiederholendes, variierendes Aufgreifen durchaus produktiv – möglicherweise produktiver und effektiver als ein Verhandeln von Geschlechterbildern an einem völlig neuen literarischen Beispiel. Da der Mythos immer die Gesellschaft als Ganze betrifft, betrifft auch eine Variation des Mythos mit der Aussage, dass sich die Welt auch anders deuten lässt, die Gesellschaft als Ganze. In den folgenden Kapiteln soll der zweiten Frage, wieso gerade der Mythos wiederholt, immer wieder aufgegriffen und neu verarbeitet wird, ausführlicher an einem Beispiel der zeitgenössischen populären Musik nachgegangen werden.

Eine singende Kassandra? Florence + the Machines Cassandra im Vergleich mit Aischylos und Wolf

Der Song Cassandra ist der sechste Titel des 2022 erschienenen fünften Studioalbums Dance Fever der britischen Alternative-Band Florence + The Machine und soll im Folgenden als Beispiel für das Wiederaufgreifen des Kassandramythos in einem anderen Medium als dem der Literatur dienen – der Musik. Dabei werde ich auch hier den Fokus der Untersuchung auf Aspekte des feministischen Umschreibens oder Weiterschreibens des Mythos legen. Aufgrund der Gedicht-ähnlichen Form des Textes, wie auch aufgrund des Aspekts, dass das Lied Cassandra auch als ›Poem Version‹ auf der ›Complete Edition‹ des Albums existiert, wird der Liedtext im Folgenden wie ein Gedicht analysiert; das ›Ich‹ im Song wird dabei ebenfalls als ›lyrisches Ich‹ bezeichnet.

Die namentlich nicht bekannte Stimme des Liedes ist wie in Christa Wolfs Kassandra eine weibliche. Der fundamentale Unterschied zu Wolfs und Aischylos Werken liegt allerdings darin, dass das lyrische Ich selbst nicht Kassandra darstellt. Dies wird durch die Zeile »Cryin’ like Cassandra« deutlich.24 Das Ich im Song vergleicht sich demnach lediglich mit der mythologischen Figur Kassandra. Durch diesen namentlichen Vergleich im Song und den Titel Cassandra wird jedoch eindeutig auf den Mythos angespielt. Mit Gerard Genettes Terminologie der Intertextualität (im engen Sinn) lässt sich festhalten, dass der Kassandra-Mythos – einschließlich aller Varianten und Verarbeitungen des Mythos – in den Lyrics der Cassandra effektiv präsent ist. Dies schließt nach Heike Bartel alle Varianten und Verarbeitungen eines Mythos ein.25

Das lyrische Ich weist einige Gemeinsamkeiten mit der mythologischen Figur der Kassandra auf, vor allem der Kassandra bei Wolf, in Teilen aber auch mit der des Aischylos. Zum einen ist das lyrische Ich ebenfalls die Protagonistin des Textes. Es berichtet primär von eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Dabei treten die offensichtlichen Ähnlichkeiten zur mythologischen Kassandra recht schnell hervor: Das lyrische Ich ist eine weibliche Person, die in der Vergangenheit eine Seherinnengabe besaß: »I used to see the future« (C, 1). Dabei ist hervorzuheben, dass die Frau – wie Christa Wolfs Kassandra – die Seherinnengabe annimmt und wertschätzt. Sie bezeichnet die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen als »treasure in my hands« und macht sie zum Teil ihrer Identität (C, 9). Lediglich der Prozess der Annahme dieser Gabe ist nicht so ausführlich wie in Kassandra dargestellt.

Dass das lyrische ich eine weibliche Stimme ist, bringt einen zusätzlich emanzipatorischen Effekt in die Verarbeitung des Mythos. Wie auch bei Christa Wolf scheint das Schildern aus der eigenen, weiblichen Perspektive heraus ganz zentral für das Werk. Zudem liegt auch hier eine zweifach weibliche Perspektivierung der Erfahrungen vor: einerseits durch die weibliche Stimme des Liedes und andererseits durch die Songwriterin Florence Welch. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Ich des Liedes trotz herausgeschnittener Zunge von den eigenen Erlebnissen berichtet (Vgl. C, 5). Das Lied kann somit als eine Art Auflehnen gegen die erlebte Gewalt gelesen werden.

Untermalt wird dies zusätzlich von dem Fakt, dass der Aspekt des laut Aussprechens und des Performativen bei einem Lied noch wesentlicher ist, als bei einer literarischen Erzählung, wie sie mit Wolfs Kassandra vorliegt, die vorrangig leise gelesen, nicht laut artikuliert vorgetragen wird. Dieser Umstand erlangt zusätzliche Bedeutung, wenn die Parallele zwischen dem Kassandra-ähnlichen Ich betrachtet wird, dem die Stimme tatsächlich genommen wird, und der Kassandra bei Wolf und Aischylos, denen die Stimme auf eine symbolische Art genommen wird (indem man ihrer Rede keinen Glauben schenkt). Das Lied setzt sich durch diesen Parallelismus also auch über den Mythos, wie ihn Aischylos aufgreift und fortschreibt, hinweg, und fügt eine neue Bedeutungsebene hinzu, in welcher eine Frau, ähnlich der Kassandra trotz aller Hindernisse spricht.

Eine interessante Besonderheit des Cassandra-Songs ist weiterhin die doppelte Adressierung von Rezipient:innen sowohl auf textinterner Ebene [»there’s no one left to sing to« (C, 21)] als auch auf eher textexterner Ebene [»can you see me?« und »can you hear me?« (C, 14, 18)]. Wenngleich unklar ist, welchen ontologischen Status das lyrische Ich einnimmt, ist festzuhalten, dass auch das Lied von Welch dezidiert ein Zeugnis weiblicher Erfahrungen darstellt, die an eine spezielle Adressat:innengruppe gerichtet sind. Mit Beginn des Liedes »I used to see the future and now I see nothin’« (C, 1) wird allerdings klar, dass sich der Zustand des lyrischen Ichs im Gegensatz zu der früheren Zeit, in welcher es noch in die Zukunft sehen konnte, deutlich verschlechtert hat: Es kann nicht(s) mehr sehen. Direkt im zweiten Vers zeigt sich, dass die Unfähigkeit zu sehen im Lied keine Metapher, sondern Resultat einer Gewalttat ist. Ein namentlich unbekanntes »they« entfernte dem Ich die Augen – der Verlust des Sehsinns, in einem engen Sinn der Seherinnengabe, hat also rein physische Ursachen. Dabei wird ebenfalls deutlich, dass das lyrische Ich, wie auch die Kassandra bei Wolf und Aischylos, in einem Machtverhältnis, hier mit dem (geschlechtlich) unbekannten »they«, steht.

Diese Misshandlung integriert sich in das Bild des lyrischen Ichs, welches ähnlich wie die beiden Kassandrafiguren eine Position der Isolation im Lied einnimmt. Es berichtet: »Now I creep out when there’s no one about/‘Cause they put crosses on the doors to try and keep me out« (C, 10f.). Die Missbilligung des lyrischen Ichs und der Verstoß aus der Gesellschaft, zu welcher auch das namenlose »they« zu gehören scheint, bezeugen diesen isolierten Zustand des Ichs. Auch in diesem Kontext kann das Lied an sich als Auflehnen gegen bestehende Machtverhältnisse gelesen werden, in denen die Frau Opfer von Gewalt ist und aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird.

Im Punkt der Sinnesverluste geht die Darstellung des Kassandra-ähnlichen Ichs im Lied allerdings über den Kassandramythos hinaus. Die Frau des Liedes kann nicht nur nicht mehr in die Zukunft sehen, sie kann ebenfalls weder sinnlich sehen noch hören. Dies drückt sich wiederholt im Chorus aus:


Well, can you see me?/I cannot see you/Everything I thought I knew has fallen out of view/In this blindness I’m condemned to/Well, can you hear me?/I cannot hear you/Every song I thought I knew,/I’ve been deafened to/And there’s no one left to sing to. (C, 14–21)


Das Ich des Liedes weist insgesamt einige Gemeinsamkeiten mit der mythologischen Kassandra, vor allem der Kassandra bei Christa Wolf auf. Zum einen ist der Zustand des Ichs von einer gewissen Schicksalhaftigkeit geprägt. Das textinterne Kassandra-ähnliche Ich ist seiner Seherinnengabe und seiner Stimme beraubt. Es befindet sich zudem in einem Zustand der Einsamkeit durch die gesellschaftliche Isolierung sowie in einem Zustand der Orientierungslosigkeit durch den Verlust der Sinne. Was Florence + the Machines Cassandra mit der Kassandra Christa Wolfs eint, ist die Bejahung und Akzeptanz der Seherinnengabe, welche als Teil der Identität des lyrischen Ichs fungiert. Diese Identitätsbildung durch das Sehen steht dem rhetorischen und performativen Verstoßen der Gabe im Aischylos gegenüber. Auch die Umdeutung der Bedeutung der Seherinnengabe für die Frau in Cassandra (das Sehen als positives Erlebnis) ist ähnlich wie in Christa Wolfs Kassandra ein emanzipatorischer Aspekt des Werkes. Als Protagonistin, welche allerdings mehr Empfängerin als Initiatorin von Handlungen ist, steht das lyrische Ich in Cassandra wie auch die Frauen bei Wolf und Aischylos in bestimmten Machtverhältnissen.

Der elementare Unterschied zu Wolf ist allerdings, dass Cassandra kein Umschreiben, das heißt auch keine Nacherzählung des Mythos darstellt: Durch die Erwähnung Kassandras im Titel und den Vergleich des lyrischen Ichs mit dieser wird dem Song lediglich der Mythos als Bedeutungsverweis ›beigelegt‹. Es geht nicht um das Erzählen nach neuen Maßstäben, wie dies bei Christa Wolf der Fall ist, sondern rein um die Anspielung auf den Mythos, durch welche dieser mit all seinen kumulierten Bedeutungen im Text präsent ist. Trotzdem wird er durch den Parallelismus des lyrischen Ichs und der Kassandra mit feministisch lesbaren Elementen angereichert.

Der Mythos als Weltverarbeitung bei Florence + the Machine

Das Lied Cassandra der Band Florence + the Machine bietet sich für die Lesart an, dass das Kassandra-ähnliche Ich des Textes mit der realen Songwriterin Florence Welch identisch ist. Anlass zu dieser Lesart und Interpretation bieten Welchs Eigenaussagen während des John Kennedy’s Track By Track Podcasts, in dem sie unter anderem davon berichtet, wie sie die Zeit der Pandemie und des Lockdowns wahrgenommen und verarbeitet hat. Diese Erfahrungen ähneln denen des lyrischen Ichs im Song deutlich. So erinnert sie sich beispielsweise: »I remember running down this completely empty stretch and seeing roses blooming«.26 Das lyrische Ich des Liedes berichtet ebenfalls davon, des Nachts alleine durch Straßen zu rennen (vgl. C, 13) und greift die blühenden Rosen auf, welche auch Welch im Gespräch mit John Kennedy erwähnt: »I try to still look with wonder on the world/As the roses bloom« (C, 26f.). Die These von der Identität des lyrischen Ichs mit der Frontsängerin Florence Welch wird zudem durch deren Eigenaussage bezüglich der Zeit des Lockdowns, als keine öffentlichen Veranstaltungen wie Konzerte stattfinden konnten, untermalt: »I was sort of singing about it, […] this sort of sense of being kinda condemned to then sing to nobody […] and to have a voice but no one to sing to and songs but no one to hear them«.27 Das Singen ohne Adressat:innen entspricht exakt der Erklärung des lyrischen Ichs »and there’s no one left to sing to« (C, 21).

Für Welch stellt das Performen eine Art der Spiritualität und der Kommunikation mit der Welt dar: »I think, songwriting for me, or even live performances have been always a way of I guess […] my sense of spirituality in the world, or how I’m communicating with something outside of myself«.28 Dies konnte sie zur Zeit der Pandemie jedoch nicht praktizieren. Die persönliche Funktion von Musik für Welch ähnelt den Leistungen des Mythos sehr – vor allem die Verarbeitung von (prima facie unerklärlichen und damit furchteinflößenden) Welterfahrungen – , wie sie Blumenberg bestimmt hat. Dieser sieht Mythen als »Kunstgriffe«29 zur Benennung des Unbenennbaren, Erklärung des Unerklärlichen,30 sie seien im Wesentlichen »Verarbeitungsformen früher Übermachterfahrungen«31 und dienen dazu, dem Menschen die anfänglich fremde, angsteinflößende Welt vertraulich zu machen und so Angst zu depotenzieren. Dass Mythen immer wieder verarbeitet und damit beständig aktualisiert werden, erklärt Blumenberg folgenderweise:


Die Grundmuster von Mythen sind eben so prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in jedem Sinne, daß sie immer wieder überzeugen, sich immer noch als brauchbarster Stoff für jede Suche nach elementaren Sachverhalten des menschlichen Daseins anbieten.32


Die Wiederholung des Mythos sei nicht nur »Berufung auf Autorität, sondern Anrufung einer gemeinsamen vertrauten Instanz für die ein ›System‹ tragende menschliche Erfahrung«.33 In dieser Lesart bietet der Mythos seine Wiederholung (und Variation) also aufgrund dessen an, weil er mitunter eine der bewährtesten Formen der Erklärung und Versöhnung mit der Welt darstellt. Die Arbeit mit dem und am Mythos, dessen Themen aufgrund ihrer Fundamentalität über Jahrhunderte hinweg relevant bleiben, ist demnach eine auf Vertrautheit begründete, kollektive soziale Praxis des Menschen, Welterfahrung zu verarbeiten. Dass Welch bei dieser Art der Verarbeitung über Weltzustände auf mythisches Material zurückgreift, erklärt sie wie folgt:


Ich habe sie [Kassandra] als Metapher eingesetzt […]: Alben und Tourneen zu planen hat mein gesamtes bisheriges Erwachsenenleben bestimmt. Dadurch wusste ich immer schon, was in den nächsten Monaten, manchmal Jahren geschieht. Mit Eintritt der Pandemie konnte ich plötzlich gar nichts mehr vorhersehen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie die Zukunft sich gestalten würde. Der prophetische Geist meiner Songs hatte mich verlassen, ich fischte im Trüben. Als hätten die Götter mich meiner Gabe beraubt.34


Der Mythos als persönliche Metapher, als besondere Ausdrucksweise und Möglichkeit zur Veranschaulichung von persönlichen Erfahrungen mit der Welt, entspricht Blumenbergs These des Mythos, welcher aufgrund seiner beständigen Prägnanz und Gültigkeit so attraktiv als Werkzeug zur Beschreibung und Verarbeitung von weltlichen Erfahrungen des Menschen ist. Auch Welch selbst sieht ihre Musik als eine Form der auf Weltereignisse bezogene und interpersonelle Kommunikation, ist sich jedoch zugleich bewusst: »Songs are kind of about making the personal universal«.35 Die Allvertrautheit des mythischen Materials stiftet eine Gemeinschaft, deren gemeinsame Praxis mit Hans Blumenbergs Terminologie in der Erklärung des Nicht-Erklärbaren besteht – der Mythos stellt sich als persönliches Hilfsmittel zur Bewältigung der Welt und Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen heraus.

Im Kontext dieses Aufsatzes ist allerdings eine möglicherweise implizitere Lesart des Textes nicht als persönliche Metapher zur Weltverarbeitung, sondern als (feministisch motiviertes) Weiterschreiben des Mythos interessanter: Denn der Mythos an sich ist nicht nur wesentlich vertraut, er ist ebenfalls umfassend in dem Sinn, als er, wie oben schon erwähnt, die Gesellschaft als Ganze betrifft. Der Mythos ist ein frühes Produkt kollektiver Bewältigung der Welt und damit bleibt die Implikation bestehen, dass er auch in seiner Variation über Jahrhunderte hinweg eine Angelegenheit der Gesellschaft als Ganzer ist. Indem der Mythos beständig und aus verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven heraus wiederholt wird, bleibt er immer ›Problematik‹ aller Menschen – ein Konzept, das Gegebenheiten verhandelt, welche die Gesellschaft und nicht unbedingt das Individuum betreffen.

Die Musikwissenschaftlerin Birgit Wertenson zeigt diesbezüglich in ihrer Publikation Mythos & Neue Musik: die Faszination am Mythos als Ort kulturellen Wissens auf, inwiefern der Mythos als »kollektive Kulturform« verstanden werden kann.36 Obgleich sich ihre Forschung auf Werke aus der klassischen Musik des 20. und frühen 21. Jahrhunderts beschränkt, sind ihre Ausarbeitungen auch auf einige Beispiele der zeitgenössischen Pop-Musik, vor allem das Lied Cassandra von Florence + the Machine, anwendbar. So versteht sie den Mythos insofern als eine kollektive Kulturform, als er ein Medium darstelle, welches Wissen speichere, insbesondere Wissen, welches die gesellschaftlichen Wirklichkeits- und Weltvorstellungen betreffe.37 Diese Bestimmung sowie ihre Erklärung, »wenn der mythische Stoff angewandt und für ein Ereignis gezielt anverwandelt wird, wird der Mythos stets aufs Neue bestätigt und akkumuliert weitere Bedeutungsschichten«,38 decken sich zudem mit Heike Bartels Definition des Mythos als Ansammlung vieler Bedeutungsebenen, welche erst durch die Rezeption und Neuverarbeitung in verschiedenen zeitlichen, soziokulturellen und politischen Kontexten entsteht.

Mythisches Material wie das der Kassandra eignet sich also besonders gut für beispielsweise feministische ›Weitererzählungen‹ oder besser gesagt ›Anderserzählungen‹, da es eben aufgrund seiner Prägnanz, seines beständigen Daseins wegen und als gemeinsam vertrautes Kultursystem, das die gesamte Gesellschaft betrifft, die optimale Grundlage für Umdeutungen, neue Definitionen bietet. Es erzeugt Wirkmächtigkeit, wenn der Mythos nicht korrigiert, aber variiert wird, vor allem von kompetenten Sprecher:innen einer für die Situation relevanten gesellschaftlichen Gruppe, hier den Frauen. Dies deckt sich beispielsweise mit der schon angeführten Beobachtung, dass es a) die Frau Kassandra selbst ist, die spricht und dies b) durch die Worte der weiblichen Autorin Christa Wolf.

Der Mythos im Lied wird zum einen (in Kongruenz mit der Leseart, die Welchs Erfahrungen mit den Erfahrungen des lyrischen Ichs identifiziert) zur Verarbeitung von Lebenserfahrungen verwendet und zum anderen (mit einer sich auf den feministischen Fokus stützende Leseart) durch gewisse Veränderungen in der Darstellungsweise des lyrischen Ichs umgedeutet: Das Sehen wird (wie bei Wolf) angenommen und zum Teil der Identität gemacht, wobei das Rauben dieses Identitätsteils gleichzeitig subversiv mit dem Song an sich bezeugt wird. Auch die geraubte Stimme steht dem Auflehnen des lyrischen Ichs durch das Sprechen über die eigenen Erfahrungen entgegen und richtet sich so aktiv gegen bestehende (textexterne) Machtgefälle. So kann der Song auch als Auflehnung gegen die erfahrene Gewalt gelesen werden. Auch hier tritt also wieder der Zweck der Zeugenschaft weiblicher Erfahrungen in den Vordergrund. Diese Version einer Kassandra oder eines der Kassandra ähnlichen Ichs ist im Mythos als Objekt von überlagerten Bedeutungen nur eher peripher verortet, als der Song nur indirekt am Mythos selbst ›weiterschreibt‹. Es wird nicht Kassandra selbst mit neuer Bedeutung angereichert, sondern der Kassandra-Mythos als Mittel zur Bedeutungsanreicherung verwendet.

Fazit

Dass der Mythos kein isoliertes Gebilde für sich, sondern vielmehr ein nicht abgeschlossener, durch Wiederholung stetig mit neuer Bedeutung aufgeladener Textkörper ist, hat sich im Verlauf des vorliegenden Aufsatzes anhand des Kassandramythos deutlich gezeigt. Während die Kassandra bei Aischylos noch Nebenfigur der Tragödie Agamemnon ist und als dramatis personae lediglich eine bestimmte Handlungsfunktion zu erfüllen hat, ist die komplexe Darstellung der Kassandra bei Christa Wolf eine literarische Weiterentwicklung, die eine gewisse Beachtung verdient: Kassandra ist im Gegensatz zum Agamemnon ein ausführliches und ehrliches Zeugnis weiblicher Erfahrungen in einer patriarchalen Gesellschaft und die Darstellung der Entwicklung einer vielschichtigen Persönlichkeit. Kassandra vereint Themen des Feminismus, der Homosexualität und Sexualität im Generellen, der Selbstakzeptanz und Identität, Fragen des Glaubens, der Politik und Kultur sowie Themen des Rausches und Reflexionen über die Sprache. Besonders hervorzuheben ist die zweifach weibliche Perspektivierung des Werkes: Zum einen ist es Kassandra selbst, die ihr Schicksal schildert. Zudem – dies ist einer der Fortschritte im Vergleich zu Aischylos – ist die Perspektive der Kassandra selbst von einer weiblichen Autorin, nicht einem männlichen Dichter verfasst.

Eine mögliche Antwort auf die Frage, weshalb der Kassandramythos überhaupt wiederholt, das heißt mit neuem Fokus erzählt wird, liegt in mehreren Aspekten. Die Wiederholung im Sinn des Anders-, nicht nur Erneut-Erzählens, schafft eine Variante des Kassandramythos, welche eher an der Historizität der Kassandrafigur orientiert ist, bestehende Geschlechterbilder durch die weibliche Perspektive Christa Wolfs revidiert und neue weibliche Selbstverständnisse etabliert. Zum anderen geht mit der Freilegung der weiblichen Stimme, wie dies in der Kassandra geschieht, eine gewisse Autonomie und Selbstbehauptung daher. Weibliches Schreiben ist in diesem Fall sensibilisierendes Schreiben, insofern es weibliche Lebenserfahrungen authentisch problematisiert. Die Wiederholung des Kassandramythos ist damit vielmehr ein Zurückerlangen der Macht von Selbstzuschreibungen und der Fähigkeit, Zeugnis über die eigene (weibliche) Lebensrealität abzulegen. Zuletzt ordnet sich die Kassandraerzählung durch ihre poetologische Komponente selbst in den Kunstdiskurs ein, und kann so als ein Beispiel für ein literarisches Werk angeführt werden, welches die von Mythen transportieren Werte und Gesellschaftsverständnisse durch eine neue Erzählart mit einer neuen Bedeutungsebene überlagert, neue Definitionen vorschlägt.

Der Cassandra-Song von Florence + the Machine ist weniger ein modernes Retelling des Kassandramythos in pop-musikalischer Form, als ein Exempel für eine Art der indirekten Variation eines Mythos. Der Figur Kassandra wird im Lied keine eigene Stimme verliehen, sie ist lediglich die mythische Figur, mit welchem sich das Ich des Songs vergleicht. Durch diesen Vergleich, die Gemeinsamkeiten des lyrischen Ichs mit der mythologischen Kassandra und den Titel des Liedes – Cassandra – liegt eindeutig eine Anspielung auf den antiken Mythos vor. Dieser ist demnach mit all seinen Bedeutungsebenen effektiv in den Lyrics des Songs Cassandra präsent und beeinflusst so die Rezeption derselben.39

Der Mythos ist für die Verarbeitung in der Kunst so beliebt, da er eine der frühsten kollektiv praktizierten Formen der Menschen ist, sich die Welt zu erklären, und eigene Erfahrungen mit der Wirklichkeit zu verarbeiten. In Florence Welchs Fall ist diese Möglichkeit zur Verarbeitung einerseits dadurch gegeben, andererseits auch durch den Umstand, dass für sie auch die Musik sowie das ›Performen‹ an sich eine persönliche Art der Kommunikation und Verhandlung mit der Welt darstellt. Der Mythos ist als frühe kollektive Form der Bewältigung der Welt ebenfalls in seinem Wesen umfassend, meint: Er betrifft die Gesellschaft als Ganze. Er bleibt damit auch über Jahrhunderte der Variation hinweg ein relevantes kulturelles Medium, dass Kulturen und Gesellschaften als Ganze, und nicht lediglich eine spezielle, von gewissen Problematiken betroffene Gruppe von Individuen anspricht. Gerade bei feministisch motivierten Um- und Weiterschreibungen ist das Umdeuten des Mythos zudem wirkmächtig: Die Figur der Kassandra wendet sich subversiv gegen eine (frühere) Variante ihres Selbst.

Dass im Kassandramythos eine Ekstase und durch Sehen Lust erlebende Kassandra neben einer Form der Kassandra existieren kann, welche ihren Seh- und Hörsinn verloren hat, ist der Beschaffenheit des Mythos zu verdanken, welcher in der Varianz existiert, wobei sich diese Varianz erst in der Wiederholung desselben entfalten kann. Gerade durch weibliches Andersschreiben oder auch die Referenz beispielsweise auf einen Mythos durch weibliche Künstlerinnen wird die Aufmerksamkeit der angesprochenen kulturellen Gruppe in einer authentischen und emanzipierenden Weise auf gesamtgesellschaftlich relevante Probleme gelenkt.


Annalena Harter

Annalena (geb. 2003) studiert im Bachelor Deutsche Sprache und Literatur und Philosophie. Dabei beschäftigt sie sich vor allem mit Gender, Weiblichkeitsdarstellungen und weiblichen Stimmen in der Literatur und visuellen Kultur, hat aber auch ein Faible für ›leidenschaftliche‹ Literatur wie die des Sturm und Drang oder der Romantik. Nebenbei unterstützt Annalena die Altgermanistik und die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft als Tutorin.

 

Kontakt: annalena.harter@student.uni-halle.de; anna.2507lena@gmail.com


Anmerkungen

1Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 2001, 11.
2Vgl. Aischylos, Orestie. Griechisch und Deutsch, hg. von Oskar Werner, Bamberg 1948, 85, 87. Im weiteren Text durch die Sigle O gekennzeichnet.
3Jürgen Kühnle, Nikolas Immer, Tragödie, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2007, 777–779, hier 777.
4Vgl. Svenja Schmidt, Kassandra – ein Mythos im Wandel der Zeit. Antiker Mythos und moderne Literatur am Beispiel der »Kassandra« von Christa Wolf, Marburg 2004, 17.
5Zum Sympathieempfinden siehe Aischylos, Orestie, 95.
6Christa Wolf, Kassandra, Frankfurt/Main 2021, 7. Im weiteren Text durch die Sigle K gekennzeichnet.
7Vgl. Heike Bartel, Mythos in der Literatur, Münster 2004, 87.
8Vgl. Christa Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra, Frankfurt/Main 2008, 14.
9Vgl. ebd. 15.
10Siehe beispielsweise ebd. 18f.
11Ebd. 162.
12Ebd. 152.
13Ebd. 57.
14Ebd. 156f.
15Vgl. Bartel, Literatur, 76.
16Wolf, Voraussetzungen, 162.
17Vgl. Bartel, Literatur, 78f.
18Vgl. Wolf, Voraussetzungen, 89.
19Vgl. Bartel, Literatur, 77.
20Vgl. ebd. 22.
21Ebd. 77.
22Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotenzial des Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), 11–66, hier 18.
23Vgl. Bartel, Literatur, 33f.
24Florence + the Machine, Cassandra, in: Florence + the Machine, Dance Fever, Polydor Records 2022, Vers 4. Im weiteren Text durch die Sigle C und Versangabe gekennzeichnet.
25Vgl. Bartel, Literatur, 36.
26Vgl. John Kennedy, Florence Welch, Florence + The Machine. Dance Fever, in: John Kennedy’s Track By Track Podcast, 31.10.2022; https:/www.globalplayer.com/podcasts/episodes/7DreavL/ [letzter Zugriff 19.08.2023].
27Vgl. ebd.
28Vgl. ebd.
29Blumenberg, Arbeit, 11.
30Vgl. ebd.
31Ebd. 30.
32Ebd. 166.
33Ebd. 88.
34Torsten Gross, Florence Welch, »Mit der Pandemie hat mich der prophetische Geist meiner Songs verlassen«, in: Annabelle, 23.06.2022; https://www.annabelle.ch/kultur/florence-welch-mit-der-
pandemie-hat-mich-der-prophetische-geist-meiner-songs-verlassen/ [letzter Zugriff 19.08.2023]. Da das Interview nur in übersetzter Form veröffentlicht wurde, werden deutschsprachige Zitate verwendet.
35Kennedy, Florence.
36Birgit Johanna Wertenson, Mythos & Neue Musik: die Faszination am Mythos als Ort kulturellen Wissens, Würzburg 2018, 24.
37Vgl. ebd.
38Ebd. 24.
39Bartel, Literatur, 34.