Afterlives
Zwischen fiktiver Aufarbeitung und Realitätsanspruch
They were fighting an enemy who was just as savage in retaliation, Ilyas said, undaunted. ›[…] The Germans are honourable and civilised people and have done much good since they have been here.‹ His listeners were silent in the face of such vehemence. ›My friend, they have eaten you‹.1
Kolonialismus ist besonders für die europäische Kulturgeschichte ein einschneidendes Kapitel. Mit dem Wettlauf um Afrika begann eine Fremdbevormundung und Ausbeutung eines ganzen Kontinents, die im Ersten Weltkrieg gipfelte und tiefe Wunden in der kulturgeschichtlichen Entwicklung Afrikas hinterließ, die bis heute nicht verheilt sind. Deutschlands Kolonialvergangenheit wird – besonders in Deutschland selbst – aufgrund der vergleichsweise geringen Anzahl von Kolonien in Afrika und dem Verlust der Kolonialherrschaft nach dem Ersten Weltkrieg gerne übersehen oder verharmlost. Und doch hat die verhältnismäßig kurze deutsche Kolonialzeit deutliche Spuren der Ausbeutung hinterlassen und zum Leid der afrikanischen Bevölkerung beigetragen. Als rezenter Beitrag zur postkolonialen Aufarbeitung der europäischen Kolonialzeit nimmt Abdulrazak Gurnah seine Leserschaft mit seinem im Jahr 2020 veröffentlichten Roman Afterlives (dt. Nachleben) mit in die Kolonialzeit Afrikas. Die Protagonisten navigieren darin durch ihren kolonialen Alltag zwischen den Weltkriegen und durch die daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen. Einen besonderen Stellenwert nimmt in dieser Erzählung die Beziehung des Kolonialstaats Deutschland zur damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika ein. Der Roman leistet dabei mehr als ein Nacherzählen der ostafrikanischen Kolonialgeschichte. Die Leserschaft verfolgt hier die Lebensgeschichte einer Familie an der Swahiliküste während dieser turbulenten Zeit.
Im Folgenden soll das Zusammenspiel zwischen Deutschland und Kolonie in Gurnahs Roman untersucht werden, wobei der Fokus auf dem beinahe beiläufigen Verschwinden des Protagonisten Ilyas und dem nachträglichen Aufdecken von dessen Schicksal durch seinen gleichnamigen Neffen liegt. Mit Blick auf den Buchtitel Afterlives und den doppelt auftretenden Vornamen scheint es offensichtlich, dass die Auflösung des Schicksals des älteren Ilyas bewusst durch den jüngeren in Deutschland selbst erfolgt. Später in der Geschichte und im Folgenden wird der Onkel ebenso unter dem Namen Elias geführt. Hier stellt sich die Frage: Inwieweit ist der letzte Akt des Romans ein bewusster Bruch mit dem vorherigen Status-Quo des Romans?
Das Bergen einer Familiengeschichte in der Fremde
Um das Feld wortwörtlich von hinten aufzurollen, beginnt die Betrachtung in diesem Essay mit den letzten Zügen der im Roman dargestellten Geschichte. Zugunsten der folgenden Argumentation lohnt es sich, noch einmal die hierfür relevanten Eckpfeiler der Auflösung der Romanhandlung wiederzugeben: Aafiya – die Schwester des älteren Elias – und ihr Ehemann Hamza versuchen, den vermissten Bruder zu finden. Daher schreibt Hamza einen Brief an die Frau Pastorin, die selbst als deutsche Missionarin in Afrika tätig war. Das Antwortschreiben der Frau Pastorin erhielt Hamza im Jahr 1939, welches bestätigt, dass sich Aafiyas Bruder in Deutschland aufhält und dementsprechend noch am Leben ist. Aufgrund des ausbrechenden Krieges bleibt eine weitere Korrespondenz mit der Frau Pastorin aus. In den nachfolgenden Jahren wächst Ilyas zu einem Erwachsenen heran, leistet Wehrdienst und studiert, um Lehrer zu werden. Nebenbei moderiert er eine Radiosendung, über welche er 1963 das ›Stipendium für Radiofunk‹ in Deutschland erhält. Dieses Stipendium ermöglicht ihm, mehr über seinen verlorenen Onkel herauszufinden, und er berichtet schließlich seinen Eltern von seinen Funden. Ilyas’ Zusammenfassung an seine Eltern bildet das Schlusswort der Geschichte des Romans.
Mit diesen letzten zwölf Seiten öffnet Gurnah eine komplett neue Ebene der Geschichte, die von der Dichte des behandelten Stoffes her einen eigenen Roman füllen könnte. Die knapp heruntergebrochene, wenig ausgeschmückte Wiedergabe ist an dieser Stelle ein bewusst gewähltes Stilmittel. Aber warum diese Verknappung, was hat es damit auf sich? Die Leserschaft scheint angehalten, selbst über die Ausmaße beiläufig erwähnter Tatsachen nachzudenken. Dies soll in diesem Essay geschehen.
In 1963, two years after Independence […] Ilyas was awarded a scholarship by the Federal Republic of Germany to spend a year in Bonn learning advanced broadcasting techniques. He was thirty-eight years old. The Federal Republic of Germany was what was popularly known as West Germany, a federation of the regions occupied by the US, the British and the French after the war. The part of Germany occupied by the Soviet Union became the German Democratic Republic. The GDR was highly active in colonial politics, and along with other Soviet East European allies provided sanctuary, training and arms to insurrectionist liberation movements in many parts of Africa. It had positioned itself as the champion of decolonising nations, and the Federal Republic scholarships were gifts intended to match those of the German Democratic Republic and to win support from poor nations […].2
Die Tatsache, dass Ilyas mittels eines Stipendiums die Möglichkeit erhält in Deutschland – nicht nur einem Industriestaat, sondern dem Staat, der vor wenigen Jahren noch die koloniale Herrschaft über seine Heimat ausübte – zu studieren, wirkt beinahe wie eine Belohnung harter Arbeit. Schnell wird jedoch bewusst, dass die vermeintliche Güte der BRD politisch motiviert ist. Es geht bei dem Stipendium nicht darum, mögliche Entschädigungen für postkoloniale Missstände zu leisten, oder Bildung in weniger industriell entwickelte Nationen zu bringen. Vielmehr soll dem kapitalistischen Staatssystem die Loyalität solcher Nationen während des Kalten Krieges gesichert werden. Humanitäre Maßnahmen erfolgen also aus Machtkalkül. Dass Ilyas als Begünstigter selbst aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika stammt, scheint mehr Zufall als Reparation. Selbstverständlich freut sich Ilyas trotzdem über die Möglichkeit und tritt die Reise nach Bonn an. Hier vollzieht sich auch die Antithese des bisherigen Handlungsraumes der Geschichte: Statt wie bisher den Einfluss der deutschen Kolonialpolitik und der Deutschen in der ehemaligen Kolonie Ostafrika zu verfolgen, reist jetzt ein Bewohner der ehemaligen Kolonie nach Deutschland. Es findet also eine Umkehrung der bisherigen Handlung – das Leben in Afrika unter deutscher Kolonialpolitik – statt. Zugespitzt wird diese Situation durch die Differenz zwischen dem rohen kolonialen Familientrauma, das Ilyas aufzuarbeiten sucht, und dem Fokus auf eine gute Story für einen Radiobericht seitens Ilyas’ Betreuer Dr. Köhler.
His assigned supervisor, Dr. Köhler, frowned as llyas began to describe his project. ›A war in Africa fifty years ago, he said. Germany gets no rest from her wars.‹ Dr Köhler was in his early forties, tall and fair-haired, a striding smiling presence in the department, and llyas was disappointed by his disapproval. He waited for a moment before continuing and then ex- plained that the Schutztruppe he was trying to trace was his uncle who had come to Germany after the war in Ostafrika. Dr Köhler lifted his chin and then gave a small nod for him to continue.3
Ilyas muss sich als Reporter und die Daseinsberechtigung der Geschichte seiner eigenen Familie rechtfertigen. Auffällig ist, dass Dr. Köhlers erste Ablehnung des Themas mit einer gewissen Kriegsmüdigkeit begründet wird. Aufgrund des Alters des Betreuers ist es sehr wahrscheinlich, dass er selbst aktiv im Krieg involviert war, zumindest in den letzten Zügen. Zudem scheint eine gewisse Apathie gegenüber der Beteiligung Deutschlands in den vorherigen Kriegen in seinen Aussagen mitzuschwingen. Die vorschnelle Ablehnung, welche von einem vom Thema der Weltkriege gelangweilten Deutschen gegenüber einem Schwarzafrikaner ausgesprochen wird, stößt ebenso auf. Das Thema wird von Dr. Köhler schließlich dennoch durchgewunken, allerdings aufgrund seines potentiellen Unterhaltungswertes seitens der Dramatik. Ilyas und seine Geschichte als Sinnbild deutscher Kriegs- und Kolonialverbrechen werden hier von dem Deutschen also nicht als historisch relevant wahrgenommen. Vielmehr hat diese Familiengeschichte den Malus, potentiell unangenehm und weniger unterhaltsam für die deutsche Hörerschaft zu sein.
Neben Dr. Köhler lernen wir nur einen weiteren Deutschen kennen, der einen direkten Sprechpart in dem betrachteten Ausschnitt ausübt: den Archivar. Ilyas reist von Bonn nach Würzburg, um mehr über das Schicksal der Frau Pastorin – und somit über seinen Onkel – zu erfahren. Hier stößt er auf die nationalsozialistische Propagandazeitschrift Kolonie und Heimat. Da Ilyas als Afrikaner nicht mit nationalsozialistischer Kolonialpolitik vertraut ist, bittet er den Archivar um Hilfe:
He said, ›Most likely Kolonie und Heimat, the old one before it was taken over by the Reich- skolonialbund.‹ ›What is that?‹ Ilyas asked. The archivist looked stern, almost contemptuous of his ignorance. ›It was the bund, the Gleichschaltung for the recolonising movement. There was a campaign to get back the colonies taken away by Versailles.‹ ›What is that word? Gleichschaltung?‹ Ilyas asked. ›Please, I would be very grateful for your help.‹ […] ›It refers to the way the Nazi government brought organisations together under one adminis- tration. It means … coordination, control. The Reichskolonialbund brought together all the re- colonising associations and put them under the control of the party.‹ ›I knew nothing about a recolonising movement,‹Ilyas said. The archivist shrugged. Dummkopf. […].4
Der Dialog zwischen Ilyas und dem Archivar wirkt auf mehrere Arten angespannt. Zum einen haben wir Ilyas’ nahezu naives Nachfragen nach nationalsozialistischem Gedankengut. Stellenweise muss er beinahe betteln, um mehr vom Archivar erklärt zu bekommen. Der Archivar selbst wirkt genervt vom vermeintlichen Unwissen, als würde Ilyas mit seinen Nachfragen seine Zeit verschwenden. Schließlich haben wir außerdem die verstörende Bildebene, in der ein Deutscher einem Schwarzafrikaner beiläufig rassistische Ideologien erklären muss – auf explizite und drängende Nachfrage. Wieder stockt der Lesefluss in der eng getakteten Wiedergabe des Narrativs. Seine Gedanken dazu werden nicht weiter erklärt. Wir lesen einen beinahe trockenen Bericht zum Ablauf seiner Recherchen. Ein weiterer Punkt, der unauffällig an der Leserschaft vorbeigetragen wird, ist die Tatsache, dass der Archivar selbst in der ehemaligen Kolonie Ostafrika war: »As he was taking his leave, it suddenly occurred to Ilyas to ask, Were you in Ostafrika? They were standing at the outside door when he asked and the archivist said yes and turned away before Ilyas could ask any more«.5
Wieder werden die Ausmaße des beiläufig erwähnten Überraschungsmomentes nicht erörtert und bleiben der Interpretation offen. Der Archivar kennt sich genug mit der Rekolonisierungsbewegung aus, um zu erkennen, aus welcher Publikation der gezeigte Zeitungsausschnitt stammt. Jedoch besucht Ilyas ein lutheranisches Archiv und kein Archiv für koloniale oder nationalsozialistische Dokumente. Auch weicht der Archivar den weiteren Fragen zu seinem Aufenthalt in der ehemaligen Kolonie Ostafrika aus – War er Missionar? Teil des Militärs? Oder nur Tourist? Im Kontext dieser Information scheint die Abneigung gegenüber llyas’ Nachfragen zum Kolonialbund noch suspekter: Beruht der schroffe Umgang mit Ilyas auf Schuldgefühlen und Unwohlsein bezüglich der Situation? Oder liegt tatsächlich eine rassistisch motivierte Antipathie gegenüber dem Afrikaner vor? Gurnah verrät es der Leserschaft nicht.
Ein Familienschicksal wird offenbart
Während der Leser Ilyas’ Recherche in Deutschland verfolgt, werden ihm die genauen Ergebnisse bis zum Ende vorenthalten. Die Leserschaft steht auf derselben Ebene wie Ilyas’ Eltern, denen er persönlich von seinen Ergebnissen erzählen will. Jedoch erhalten wir mehrfach Andeutungen, dass sein Onkel im Rahmen des Reichskolonialbundes auf Seiten der Nationalsozialisten gestanden haben soll. Die letzten anderthalb Seiten des Buches bilden schließlich einen fast durchgehenden Monolog in meist indirekter Sprache, welcher das Leben seines Onkels ab 1917 zusammenfasst.
Im ersten Eindruck fällt besonders das verwirrende Spiel zwischen dem Ilyas, der recherchiert und erzählt, und dem Ilyas, über den berichtet wird, auf. Subjekt und Objekt wechseln von Satz zu Satz, die gleichen Vornamen sorgen dafür, dass die entgegengestellten Akteure und ihre Perspektiven miteinander verwischen. Mit Blick auf den Titel des Buches – Afterlives oder Nachleben – wird bewusst, was hier geschieht: Das Schicksal eines einzelnen Opfers der Verbrechen der Nationalsozialisten wird Jahre nach dessen Tod aus der Vergessenheit geholt. Nicht nur in Folge intensiver privater Recherche, sondern durch die Hand seiner eigenen Familie, vielmehr noch seines eigenen Neffen, der denselben Namen trägt. Weiterhin irritierend bleibt aber die Tatsache, dass diese Recherche primär im Rahmen einer Radiosendung zur Unterhaltung einer deutschen Hörerschaft geschieht: »Dr Köhler was delighted with the effort and thought that the poor-quality sound the Compact Cassette produced somehow enhanced the emotional power of the proceedings«.6 Auch am Ende der Geschichte und 20 Jahre nach dem Weltkrieg bleibt die koloniale Machtdynamik zwischen Deutschland und der ehemaligen Kolonie erhalten, was durch die technische Differenz verdeutlicht wird.
Dennoch lohnt es sich, genauer in den Bericht über Ilyas’ – oder Elias’ – Schicksal zu blicken. Dieses Schicksal ist (übrigens) nicht komplett fiktiv, da Gurnah auf reale Elemente aus dem Leben Askari Bayume Mohamed Husens zurückgreift.7 Die tiefgreifende Bedeutung dieses letzten Abschnittes – das Anspielen auf reale historische Schicksale – ist dementsprechend offensichtlich. Infolge seines Kriegseinsatzes in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika gelangte Ilyas 1929 mittels Arbeit auf einem deutschen Schiff in das Deutschland der Weimarer Republik. Hier vollzieht sich auch seine Namensänderung von ›Ilyas Hassan‹ zu ›Elias Essen‹. Die Anpassung des Namens zeigt auf der Metaebene das bewusste Ablegen der afrikanischen Identität zugunsten einer deutschen. Jedoch ist fraglich, wie weit diese von seinem neuen Umfeld akzeptiert wird. Schon im Brief der Frau Pastorin finden wir einen Kommentar zu Elias’ Namen: »Such a striking name, I think there could only have been one Ilyas Hassan in the whole of the schutztruppe«.8 Auffällig ist hier, dass die Frau Pastorin zehn Jahre nach der Namensänderung nicht den aktuellen Namen nutzt. Vielmehr betont sie, wie außergewöhnlich und schön sie den (abgelegten) afrikanischen Namen findet. Seine Herkunft scheint Elias also zu verfolgen. Zusätzlich erfahren wir, dass er zu diesem Zeitpunkt auch als Sänger in Hamburg arbeitet und dort bekannt für seine Auftritte in Askariuniform ist. Wieder kann sich Elias also nicht von dem lösen, was auf ihn projiziert und von ihm erwartet wird. Im Jahre 1933 heiratet er eine deutsche Frau, der Ehe entspringen drei Kinder. Wir erfahren am Ende lediglich den Namen seines Sohnes Paul, benannt nach Elias’ General aus der ehemaligen Kolonie Ostafrika. Im direkten Vergleich zu seiner Schwester Aafiya, die ihren Sohn nach ihm benannte, positioniert sich Elias hier wieder explizit gegen seine afrikanische Herkunft und Familie. Diese Suche nach deutscher Anerkennung gipfelt schließlich in der Tatsache, dass Elias für den Reichskolonialbund agiert. Der Schwarzafrikaner aus einer ehemaligen deutschen Kolonie wird hier zu einem Werbegesicht für eine Organisation der Nationalsozialistischen Partei.
The Nazis wanted the colonies back, and Uncle Ilyas wanted the Germans back, so he appeared on their marches carrying the schutztruppe flag and on platforms singing Nazi songs. So while you were grieving for him here, Ilyas said, Uncle Ilyas was dancing and singing in German cities and waving the Schutztruppe flag in marches demanding the return of the colonies. Lebensraum did not only mean the Ukraine and Poland to them. The Nazi dream also included the hills and valleys and plains at the foot of that snow-capped mountain in Africa.9
Dieser Abschnitt fällt aus der bisherigen Berichterstattung heraus. Ilyas’ Kommentar zu den Auftritten seines Onkels auf den Märschen wirkt unerwartet zynisch, zudem ist er ein klarer Bruch mit dem vorherigen trockenen Schreibstil. Hier erfolgt außerdem erstmals eine klare Stellungnahme durch Ilyas zu deutschen Kriegsverbrechen. Dies ist besonders markant in Bezug auf sein bisheriges, eher unterwürfiges Verhalten. Wir sehen somit einen ersten Riss in der postkolonialen Fassade, ein erstes zurückhaltendes Aufbegehren gegen den anhaltenden kolonialen Status-Quo.
Schließlich erreicht die Dramatik der irritierenden trockenen Wiedergabe der Schlussszene ihren Höhepunkt: Elias’ persönlicher Untergang wird unvermittelt mit den Rassegesetzen und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten zusammengebracht. Grund für Elias’ Verhaftung ist eine Affäre mit einer deutschen Frau im Jahre 1938. Auffällig ist die Betonung, dass es sich hier um Ehebruch gehandelt haben muss.
Not for marrying his German wife! That marriage took place in 1933 and the race laws were not passed until 1935 so could not be applied to them. It was for an affair he had with another German woman in 1938. That is what the rule of law means. He broke the law fair and square in 1938 but he did not in 1933 because the race law was not yet passed.10
Ilyas bricht aus der bisherig chronologischen Erzählweise heraus, um den ›Strafbestand‹ eindeutig darzulegen. Wieder sticht eine nahezu abwertende Haltung heraus, besonders der Einwurf, das Gesetz wäre »fair and square«11 gebrochen worden. Gurnah lässt uns nicht in Ilyas’ Meinung zu den nationalsozialistischen Rassegesetzen blicken, vielmehr verschiebt sich die moralische Wertung auf den Ehebruch selbst. Es erfolgt demnach ein klarer Widerspruch zwischen der erwarteten Reaktion und der tatsächlichen. Auch für die Charakterisierung von Elias erscheint dieser Einschub relevant: Er erscheint als rastlos und wendet sich auf der Suche nach Validierung seitens der ›Deutschen‹ erneut gegen seine Familie. Dass seine eigentliche Ehefrau bereits deutsch war, steht sinnbildlich für den Verlust des Hier und Jetzt in diesem Streben. An dieser Stelle haben wir aber auch die auffälligste Parallele zu der realen Person Bayume Mohamed Husen, denn dieser wurde 1940 aus demselben Grund im selben Konzentrationslager wie Elias im Buch – das KZ Sachsenhausen – interniert. Dennoch scheint in diesem Fall mehr als eine Anspielung auf das Schicksal eines tatsächlichen Opfers des Nationalsozialismus vorzuliegen. Um zurück auf die Wertungsverschiebung von Rassengesetzen zu Ehebruch zu kommen: Erneut wird somit in der Handlung betont, was nicht ausgesprochen wird. Der Lesefluss bleibt beständig, aber das Gelesene fühlt sich nicht komplett richtig an. Das Opfer von institutionalisierten Staatsverbrechen wird zum Täter auf privater Ebene. Hierbei werden auch die Umstände der Verhaftung oder des ›Verbrechens‹ nicht hinterfragt, es gibt keine Instanz, die sich für Elias’ Ehrenrettung aussprechen kann.
Schließlich kommt das Unausweichliche: Elias wird in Sachsenhausen interniert und findet dort letztlich sein Ende. Besonders ist hier, dass sein einziger zu diesem Zeitpunkt noch lebender Sohn Paul seinen Vater begleitet.
»So what we can know for sure, Ilyas told his parents, is that someone loved Uncle Ilyas enough to follow him to certain death in a concentration camp in order to keep him company«.12
Sowohl der Vater als auch der einzig verbleibende Sohn finden in Sachsenhausen ihr Ende. Elias’ Frau wird nach dem Ehebruch nicht mehr erwähnt, weitere Berichte zu Vater und Sohn fehlen ebenso. Beide Existenzen werden demnach mit ihrem Tod komplett aufgelöst. Die einzige Erinnerung erfolgt aus den Memoiren eines Überlebenden Sachsenhausens, welcher knapp von Pauls Tod berichten kann. In diesem Bericht scheint Elias’ Hautfarbe die einzige Charakteristik zu sein, die ihn überhaupt erkenntlich macht, denn er wird als »black singer«13 bezeichnet. Auch posthum ist es Elias nicht möglich, mit seiner afrikanischen Herkunft zu brechen. Während die Deutschen Elias mit dem Ende seines ›Nutzens‹ auslöschen und aus der Erinnerung tilgen, ist es somit schließlich auch sein Neffe, seine afrikanische Familie, der ihn aus der Vergessenheit holt.
Zusammenfassung
Gurnahs Roman Afterlives verfolgt das Ziel, eine koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, die in ehemaligen Kolonialstaaten nur in ihren Grundzügen bekannt ist. Indem die Leserschaft das Leben einer ganzen Familie über Generationen hinweg verfolgt, gelingt es, sensible Einblicke in ein sehr komplexes Thema zu gewinnen. Die Protagonisten sind hier ein literarisches Werkzeug, um den Lesenden Kolonialgeschichte sowohl auf emotionale Weise zu vermitteln, als auch das eigene Nachdenken anzuregen. Mit den letzten Seiten der Handlung kippt das vermittelte Bild aber in mehreren Hinblicken: Die Handlung vollzieht einen Ortswechsel, das Rätsel bezüglich Ilyas’ Verschwinden wird gelöst, und der deutsche Kolonialismus geht fließend in den Nationalsozialismus über. Die Geschichte überspringt dabei jedoch den eigentlichen Verlauf des Zweiten Weltkrieges, vielmehr rekonstruiert die Leserschaft mit Ilyas’ Nachforschungen, was bisher an der Handlung des Romans vorbeiging. Gurnah eröffnet eine Ebene, die weit über den eigentlichen Kolonialismus hinausgeht.
Ilyas und Elias nehmen hier unterschiedliche Aspekte ein. Während Ilyas die Zukunft verkörpert und die Chance erhält, mithilfe von Bildung ein besseres Leben anzustreben, verliert sich Elias in dem Versuch, der Vergangenheit zu entkommen. Dass der gleichnamige Neffe derjenige ist, der die Geschichte seines Onkels schließlich aus der Vergessenheit birgt, wirkt mit Blick auf den Titel Afterlives poetisch. Die Auswirkungen von Elias’ tragischem Schicksal bleiben der Leserschaft bis zum Finale des Buches vorenthalten. Durch diese Entscheidung wird der Schlag in die metaphorische Magengrube mit dem Ende der Geschichte verstärkt.
Die Tatsache, dass Gurnah mit seiner Geschichte gleichzeitig reale Aspekte aus dem Leben von Bayume Mohamed Husen spiegelt, gibt dem Finale des Romans einen zusätzlichen Anspruch: Hier wird nicht mehr das fiktive Leben einer erfundenen Familie in einer Kolonie als Sinnbild für die Kolonialgeschichte vorgetragen. Mit Blick auf den plötzlich trockenen Stil des Berichtes ebbt der Roman in eine historische Berichterstattung, auch wenn sie noch in den Roman verwoben ist. Nunmehr ist die Geschichte nicht mehr komplette Fiktion, sondern erhält einen ernsten Anspruch auf Realität.
Christina (geb. 1995) studiert im Master Komparatistik und Geschichte, vorangegangen ist dem ein Bachelorstudium in Japanologie und Geschichte. Neben einem generellen Interesse daran, sich mit diversen literaturwissenschaftlichen Methoden auseinanderzusetzen und neue Themen kennenzulernen, befasst sie sich besonders mit der feministischen Literaturwissenschaft, den Gender sowie Postcolonial Studies und der Digitalen Literaturwissenschaft.
Kontakt: christina.kasperzyk@student.uni-halle.de
Anmerkungen
1Abdulrazak Gurnah, Afterlives, London 2021, 42.
2Ebd. 267–268.
3Ebd. 269.
4Ebd. 271.
5Ebd. 271f.
6Ebd. 274.
7Vgl. https://www.nzz.ch/feuilleton/nachleben-ein-roman-des-nobelpreistraegers-abdulrazak-gurnah-ld.1707256 [letzter Zugriff: 13.06.2024].
8Gurnah, Afterlives, 263.
9Ebd. 274ff.
10Ebd. 275.
11Ebd.
12Ebd.
13Ebd.