Aufklärung gegen Aufklärung
Strähler contra Wolff im Hallischen Streit (1721-1723)
Die hallische Universität hatte im beginnenden 18. Jahrhundert einen überragenden Einfluss auf das kulturelle und wirtschaftliche Leben der Stadt.1 Sie gilt in der Retrospektive der klassischen Aufklärungsforschung als Reformuniversität und ganz und gar der Idee der Aufklärung verschrieben.2 Zu dieser Zeit arbeiteten namenhafte Personen an der Universität, wie die Schlüsselfigur des hallischen Pietismus August Hermann Francke, der Philosoph und Jurist Christian Thomasius sowie der Aufklärungsphilosoph und Mathematiker Christian Wolff.
1723 wurde Christian Wolff aufgrund eines Befehls des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. unter dem Rat der Pietisten seines Amtes enthoben und aus der Stadt verbannt. Dieser Vorfall wird durchaus als Skandal betrachtet, retrospektiv gar als epochemachend.3 Damit in Verbindung stehend und oft als Grund genannt ist Christian Wolffs Prorektoratsrede Über die praktische Philosophie der Chinesen. Die darin vertretenen Ansichten wurden von den Pietisten der Zeit negativ aufgenommen – ein Jahre andauernder Konflikt entstand, welcher in der populären Rezeption wie auch in der wissenschaftlichen Forschung als Ideenkonflikt zwischen aufgeklärter Philosophie und pietistischer Theologie angesehen wird.4 Als »Endkampf zwischen Pietismus und Rationalismus« bezeichnete der Literaturhistoriker Ferdinand Josef Schneider den Konflikt im Titel seines 1938 erschienenen Essays.5
Der Pietismus ist eine Unterströmung des protestantischen Christentums, bei der es vor allem um den persönlichen Glauben des einzelnen Christen auf Basis des individuellen Bibelstudiums geht. Rituale und Glaubensakte werden dabei als hintergründig betrachtet. Gerade Francke betont einen solchen gefühlsbetonten Glauben und lehnt einen zu starken Bezug auf Verstand und Vernunft ab. Das gilt oft als weltanschauliche Grundlage für den Konflikt mit den Lehren Wolffs und den Aufklärern im Allgemeinen, die eben die Vernunft und den Verstand als Urteilsinstanz vorziehen. Doch ist das akkurat? Kann man den hallischen Streit als Kampf zwischen Pietismus und Aufklärung bezeichnen? Diese Auslegung gerät in der neueren Forschung oft in die Kritik.
Im folgenden Aufsatz wird hieran anknüpfend ein kritischer Blick auf diesen Topos gerichtet. Der Fokus liegt jedoch nicht auf der ›Chinesenrede‹, sondern auf dem Konflikt zwischen Wolff und seinem 1709 immatrikulierten Schüler Daniel Strähler (1690–1750), welcher eine Kritik an Wolffs Metaphysik schrieb. Dieser Konflikt ist als Teil des oben angerissenen Falles um Wolff anzusehen. Die These des Folgenden lautet, dass Daniel Strähler selbst als Aufklärer anzusehen ist und dass man ihn als solchen identifizieren kann. Der Diskurs um Strähler wird in der Forschung eher als Randphänomen wahrgenommen und zeigt sich nur als ein Glied innerhalb der Ereigniskette der Causa Wolffiana. Der Historiker Carl Hinrichs bezeichnet Daniel Strähler dabei lediglich als ein »Werkzeug der Pietisten«, also nicht als eigenständigen Akteur.6
Der vorliegende Beitrag ist wie folgt gegliedert: Im ersten Teil werden Merkmale aufgestellt, durch die sich ein Aufklärer identifizieren lässt. Dafür wird Maximilian Lässigs schriftliche Auseinandersetzung mit Jonathan Israels Definition des Aufklärers betrachtet, gegen welche sich der Autor stellt. Zusätzlich werden Pečars und Tricoires Merkmale für den Aufklärer aufgegriffen und betrachtet.
Im darauffolgenden Abschnitt werden die Umstände und der historische Kontext des Falles um Wolff dargestellt, wobei der Konflikt mit Daniel Strähler entsprechend eingeordnet wird.
Im dritten und letzten Teil wird anhand der zuvor aufgestellten Merkmale untersucht, ob man Daniel Strähler als Aufklärer bezeichnen kann. Dafür liegt seine 1723 bei Hartung in Jena publizierte Prüfung der vernünfftigen Gedancken des Herrn Hofrat Wolff von Gott, der Welt und der Seele des Menschen vor, wobei besonders die Vorrede betrachtet wird, welche durch die darin befindliche Selbstdarstellung ein gutes Werkzeug für die Betrachtung darstellt. Im Fazit wird die Bedeutung einer Verifizierung oder Falsifizierung der These auf die Forschungsfrage hin gedeutet.
Was macht einen Aufklärer aus?
Vor der Beschäftigung mit dem hallischen Streit werden im folgenden Kapitel zunächst die Merkmale eines Aufklärers definiert und bestimmt, wie man einen aufklärerischen Akteur als solchen identifizieren kann. Die populäre Rezeption folgt dazu meist, auch wenn etwas angereichert, dem Topos der ersten Zeilen aus Immanuel Kants Aufklärungsschrift von 1784 als liberalen Freidenker, welcher religions- und autoritätskritisch für Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Menschenrechte kämpft.7 Ein ähnlicher Charakter findet sich bei dem Historiker Jonathan Israel, welcher einer aufgeklärten Person Prinzipien wie Demokratie, ethnische und geschlechtliche Gleichheit, individuelle Freiheit des Lebensstils, komplette Gedanken- und Pressefreiheit und Säkularisierung zuschreibt.8 Wohlgemerkt versucht er damit einen radikalen Aufklärer zu beschreiben. Demgegenüber stehe der moderate Aufklärer. Dennoch müsste eben jene moderate Form des Aufklärers ebenfalls zu einigen der vorangestellten Prinzipien tendieren, oder wenigstens zu allen in geringem Maße. Aus beiden lässt sich dennoch der gleiche Archetyp herauskristallisieren.
Nach dieser Definition würden einige Akteure, die eigentlich der Aufklärung zugeordnet werden, nicht mehr als Aufklärer gelten. Ein Beispiel dafür ist der Philosoph Christian Thomasius. Dieser hatte Sympathien für den Pietismus und sah den menschlichen Willen als verdorben an.9 Der Historiker Carl Hinrichs beschreibt ebenfalls, dass man Thomasius nicht als vollständigen Vertreter der Aufklärung ansehen könne. Gleichzeitig gibt er dem Pietismus Aspekte, wie Fortschrittsoptimismus und Perfektionismus, die er als aufgeklärt identifiziert.10 Weitere aufgeklärte Aspekte nach ihm sind der Kampf gegen Vorurteile, Scholastik, Hexenverfolgung und Intoleranz, welche er sogar Thomasius vollständig zuschreibt; dennoch fehle ihm der Vernunftoptimismus.11 Letzteres scheint also ein Aufklärungsaspekt zu sein, welcher besonders hervorsteht, sodass er die vorhergehenden relativiert.
Solche eher pauschalisierten Zuschreibungen und Merkmale stehen in der neueren Forschung in der Kritik. Gerade der autoritätskritische Aspekt scheint sich zu relativieren, wie Maximilian Lässig es darstellt. Vor allem bei Spinoza scheint diese zugeschriebene Attitüde unangebracht, schrieb er doch seine pro republikanische Schrift in den republikanischen Niederlanden.12 Damit war Spinozas Text keine radikale Monarchiekritik, sondern spiegelte die Staatsdoktrin des Landes wider, in dem er lebte und publizierte. Die Unterscheidung in radikale und moderate Aufklärer relativiert sich ebenfalls damit, sofern Jonathan Israel Spinoza als radikalen, David Hume hingegen als moderaten Aufklärer sieht, obgleich letzterer wesentlich mehr Probleme mit dem Status quo hatte.13
Die beiden Historiker Andreas Pečar und Damien Tricoire entwickeln als Lösung für dieses Problem den »reduktionistischen Ansatz«.14 Das erste Axiom dieses Ansatzes lautet, dass jeder ein Aufklärer ist, sobald er sich selbst so bezeichnet. Das erscheint durchaus vernünftig, da man so dem zeitgemäßen Aufklärungsanspruch des 18. Jahrhunderts begegnen kann und gleichzeitig vermeidet, heutige Ansprüche an diesen Begriff zu stellen. Dennoch erweist es sich für den in diesem Beitrag behandelten Zeitraum des Beginns des 18. Jahrhunderts als problematisch, den Begriff des ›Aufklärers‹ als so konstitutiv zu betrachten, da der Begriff erst in dieser Zeit begann, sich allmählich durchzusetzen.15
Bereits um das Jahr 1700 lassen sich jedoch die Verwendung der Lichtmetapher und die damit verbundenen Bildmotive feststellen, zumeist aus der Theologie stammend.16 Die Begriffe der Aufklärung oder des Aufklärens sind selbst ein Kind dieser Lichtmetaphorik, wie Daniel Fulda beschreibt.17 Aus der Meteorologie stammend beschreibt das Aufklären das Auflösen einer Wolkendecke und das damit verbundene Durchdringen des Sonnenlichts. Besonders im Französischen wurde die Lichtmetapher mit der Vernunft in Verbindung gebracht. Im Zuge dessen galt es, sich als Autor des 18. Jahrhunderts selbst als besonders erleuchtet, also vernünftig und den Kontrahenten als finster, somit unvernünftig darzustellen.18
Ausgehend von dem Axiom der Selbstbezeichnung und den damit verbundenen Topoi stellen Pečar und Tricoire eine Art 5-Punkte-Plan zur Identifizierung eines Aufklärers auf, welcher im Folgenden kurz zusammengefasst wird.19 Den ersten Punkt bestimmen sie als die Inanspruchnahme der Vernunft und das Darstellen der eigenen Position als die vernünftige. Der zweite Punkt, der laut Pečar und Tricoire einen Aufklärer ausmacht, zeigt sich in der Selbstermächtigung, in politische und gesellschaftliche Belange und Debatten einzugreifen. Daniel Fulda ergänzt dies mit der Auffassung, dass der Aufklärer in dieser Position einen »Appell an die Öffentlichkeit« hält.20 Der dritte Punkt ist in der moralischen Deklassierung von Kontrahenten zu finden. Wie bereits erwähnt, geschieht dies durch die Herabsetzung als unvernünftig und finster. Demnach findet hier primär eine intellektuelle Deklassierung statt, aus der dann eine moralische folgt. Der vierte Punkt, der es laut Pečar und Tricoire ermöglicht, einen Aufklärer zu identifizieren, zeigt sich in dessen Vorstellung der Geschichte als die eines fortschreitenden Prozesses und das Anstreben seiner eigenen Teilnahme und der Verwirklichung dieses Prozesses. Den fünften Punkt des Identitifikationsplanes macht aus, dass ein Aufklärer seine Zeit auch als ein Zeitalter der Aufklärung betrachtet und zugleich die vorhergehenden Epochen deklassiert.
Diese fünf Punkte ließen sich noch um den Punkt der Anhängerschaft ergänzen: Für den Fall, dass ein Autor sich nicht eindeutig als Aufklärer bezeichnet, er sich jedoch als Schüler eines Aufklärers und als Anhänger der Schule eines Aufklärers sieht, so kann man dies auch als eine Selbstidentifikation als Aufklärer betrachten. Thomasius’ und Wolff kann man, diesen Punkten folgend, deutlich als Aufklärer bezeichnen, da sie beide z. B. die Lichtmetaphorik in hohem Maße verwenden.21 Würde sich ein Autor als ›Wolffianer‹ oder ›Thomasianer‹ bezeichnen, so kann er ebenfalls der Aufklärung zugeordnet werden. Dadurch wird die Identifikation eines Aufklärers auch zu einer Frage der Gruppenzugehörigkeit. Man könnte im modernen Sinne von einer Community sprechen, die sich durch einen gemeinsamen Duktus, gemeinsame Selbstidentifikation und gemeinsame Strukturen auszeichnet. Zusammengefasst sollen die oben genannten Punkte, wie auch der ergänzte Punkt, in den folgenden Ausführungen als ein Identifikationswerkzeug eines Aufklärers angewendet werden.
Kontext des Falles von Wolff und Strähler
Auseinandersetzungen zwischen eher aufgeklärten Akteuren und Pietisten gab es seit dem Bau der Franckeschen Stiftungen in den 1690ern.22 Besonders der Philosoph Christian Thomasius (1655-1728) und der Theologe August Hermann Francke (1663-1727) trugen solche Konflikte aus, so zum Beispiel über Franckes Pädagogik oder über Thomasius’ Bürgerbegriff.23 Dennoch hatten diese Angelegenheiten nicht die öffentliche Rezeption, die der Fall um Christian Wolff hatte und der als regelrechter Skandal galt.24
Wann genau die Streitigkeiten um den Aufklärungsphilosophen begannen, ist in der Forschung nicht ganz geklärt. Albrecht Beutel gibt als möglichen Beginn die Publikation von Wolffs Deutscher Logik im Jahre 1712 an.25 In seinen eigenen Lebensbeschreibungen datiert Christian Wolff den Beginn des Konflikts zurück auf das Jahr 1709, da zu dieser Zeit Wolffs Schüler in Theologievorlesungen die Dozenten aufforderten, Erklärungen und Beweise vorzubringen.26 In diesem Jahr begann Wolff auch seine Vorlesungen zu Logik, Moral- und Naturphilosophie an der Philosophischen Fakultät und trat damit in Konkurrenz zu Christian Thomasius.27 Zur selben Zeit kam der Theologe Joachim Lange (1670-1744) nach Halle, welcher im hallischen Streit den Hauptgegner Wolffs darstellen sollte.28
Als Höhepunkt oder zumindest als wichtiger Ankerpunkt des Konfliktes wird Wolffs Rede zur praktischen Philosophie der Chinesen von 1721 in der Forschung anerkannt. Es handelt sich dabei um eine Festrede zur Übergabe des Prorektoratspostens an Joachim Lange.29 Inhalt der Rede war die These, dass die Chinesen auch ohne Offenbarungsreligion zu einem moralischen und tugendhaften Gemeinwesen gekommen sind und somit die Vernunft und nicht der Glaube für die Tugend verantwortlich ist.30 Diese These ist jedoch nicht neu, denn sie tauchte bereits in Christian Wolffs Deutscher Ethik aus demselben Jahr auf.31 Wolff verwendete dabei die Chinesen lediglich als Beispiel zur Untermauerung seiner These, was jedoch ebenso wenig eine Neuerung darstellte. Durch die Reiseberichte der Jesuiten gab es in der Frühaufklärung eine regelrechte Chinabegeisterung,32 wobei das Land oft als Beispiel für einen Idealstaat herangezogen wurde. Darauf stützt sich Wolff, um seine Ethik mit der chinesischen Ethik zu rechtfertigen.33
Die Rede kam bei den angehörigen Studenten gut an, so sehr, dass sie den eigentlichen Anlass wohl vergaßen. Angeblich sollen sie den Philosophen Wolff nach der Rede unter Jubel aus der Aula in sein Haus gebracht haben, um mit ihm noch am selben Abend zu feiern, während Lange sie schon zum selben Anlass erwartete.34 Ob diese Schilderung aus Wolffs Lebensbeschreibungen real ist, sei dahingestellt. Die Sympathie der Studenten scheint realistisch und die Empörung der theologischen Fakultät über die ›Chinesenrede‹ könnte in gewisser Weise auch daher rühren.35
Ab diesem Punkt bricht der Streit nun gänzlich aus, was sich im Aussenden von Denunzianten in Vorlesungen von Christian Wolff durch die Theologische Fakultät realisierte.36 Eine schriftliche Antwort auf die Rede gab es nicht, da Wolff sich mit Verweis auf die Universitätsstatuten weigerte, sein Manuskript herauszugeben.37 Francke wandte sich daraufhin an den Prorektor, also Joachim Lange, was Wolff ebenfalls als einen Verstoß gegen die Universitätsstatuten ansah,38 jedoch als falsch zu deuten ist, da die Statuten das Einmischen des Prorektors vorsahen.39 Im Anschluss wandte sich Francke dann an den Minister von Printzen, welcher jedoch nur zur Verständigung mahnte und Wolff daraufhin auch vom Druck seiner Rede absah.40 Dadurch kehrte eine Ruhephase des Streites ein.
Inmitten dieser Ruhephase meldete sich der Schüler Wolffs Daniel Strähler zu Wort, der 1723 seine Kritik von Wolffs Metaphysik veröffentlichte. Strähler hatte sich zusammen mit Joachim Langes Sohn auf den Posten zum außerordentlichen Professor beworben, welcher jedoch von Wolff mit Ludwig Thümmig besetzt wurde.41 Über die Gegenschrift Strählers war Wolff empört, weswegen er sich an die Universitätsleitung wandte und Beschwerde einlegte.42 Daraufhin brach ein erneuter Konflikt aus, der jedoch etwas abgesondert von dem eigentlichen Fall Wolffs zu sein schien. Es handelte sich nämlich ausschließlich um einen Konflikt innerhalb der Philosophischen Fakultät, weswegen sich Francke und Lange überwiegend heraushielten. Dennoch rieten sie Strähler ausdrücklich zum Druck seiner kritischen Gegenschrift.43
Der Streit wurde zugunsten Wolffs entschieden. Strähler wurde vom König selbst untersagt, weiter gegen Wolff zu schreiben.44 Den Druck konnte er jedoch nicht untersagen, da Strähler seine Schrift in Jena, also außerhalb von Brandenburg-Preußen drucken ließ,45 was er auf Rat der Pietisten tat.46
Daniel Strählers Selbsteinordnung in seiner Einleitung
Nicht nur der ›Fall Strähler‹ ist gesondert zu betrachten, auch die Person selbst scheint sich von den üblichen Streitparteien abzuheben. Bisher ließen sich die beiden Konfliktparteien der Theologischen Fakultät, federführend Lange und Francke, und der Philosophischen Fakultät, federführend Wolff, herauskristallisieren. Strähler ist jedoch Magister an der Philosophischen Fakultät und sogar ein Schüler Wolffs.47
Carl Hinrichs sieht Daniel Strähler als Werkzeug der Pietisten, »um den Kampf gegen Wolff von nichttheologischem Boden her zu entfesseln«.48 Nachdem Wolff den Professorenposten nicht an Strähler vergab, soll dieser nach einigen Studentenberichten in seinen Vorlesung angefangen haben, Wolffs Metaphysik zu kritisieren. Dabei soll er die gleichen Argumente benutzt haben, wie Lange sie benutzte, was auch Albrecht Beutel berichtet.49 Demnach wäre Strähler in die pietistische Gegnerschaft zu Wolff integriert. Damit die im ersten Kapitel benannten Kriterien angewandt werden können, stellt sich zunächst die Frage, wie Strähler sich selbst positioniert hat. Dabei hilft die Vorrede seines Buches. Ein erster Hinweis ist jedoch bereits im vollen Titel der Schrift zu finden, welcher da lautet:
Prüfung der vernünfftigen Gedancken des Herrn Hofrat Wolff von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, worinnen des Herrn Autoris Schlüsse examiniert, die Unrichtigkeit derselben gezeigt, dessen Irthümer an den Tag gelegt, und die metaphysische, ingleichen die damit verknüpften moralischen Wahrheiten in grösseres
Licht gesetzt werden.50
Damit zeigt der Autor eine gewisse Nähe zu Wolff. Bevor der Vorfall mit der Professur stattfand, behauptete Strähler über Wolffs Metaphysik, dass er dort keine Fehler finden könne.52 Seine Prüfung von Wolffs Thesen folgt auch nach dessen hauseigener, logischer Syllogistik.53 In der Vorrede der Prüfung benennt er diese Übernahme von Wolffs Methodik genau. Er beschreibt, dass dieses Werk »unparteisch, nach den Regeln der Logic« verfasst wurde, die er »zum Theil aus des hochgelehrten Herrn Autoris eingner Logic erlernet«.54 Ausdrücke wie ›hochgelehrt‹ oder ›hochberühmt‹ schreibt Strähler seinem Lehrer öfter in der Vorrede zu. Dabei könnte es sich einerseits um simple Höflichkeitsformeln handeln, jedoch stilisiert er sich andererseits auch an mehreren Stellen als sein Schüler.55
Strähler versichert auch, dass er diese Prüfung »nicht zum Nachtheil des so sehr berühmten Mannes« anstelle, sondern »aus Liebe zur Wahrheit«.56 Neben dem Schmeicheln seines Lehrers findet sich hierbei ein Wahrheitsanspruch, den er an seine eigene Position stellt. Das tut er erneut, als er behauptet, er habe durch »fleißiges Überlegen« und der »richtigen Application der Logic« auf Wolffs Werk »die Wahrheit entdeckt«.57 Dies ließe sich mit dem ersten Punkt der Identifikationsmerkmale eines Aufklärers verknüpfen. Zwar nutzt Strähler nicht explizit den Vernunftbegriff, jedoch taucht des Öfteren der Begriff ›Verstand‹ auf.
Zu Beginn seines Werkes beschreibt er, dass er früher seinen Verstand für zu schwach hielt, um »dasjenige, was von so hohem Verstande ausgedacht wäre«, zu verstehen.58 Er konnte nach eigenen Aussagen diese Prüfung nicht bestreiten, da sein Verstand zu schwach wäre, das geprüfte Werk zu erfassen. Nun hat er diesen Verstand aber doch und nimmt ihn für seine Prüfung in Anspruch. Verknüpft damit ist zu beachten, dass er Wolff ebenfalls einen ›hohen Verstand‹ zuschreibt, was wieder als ein Annäherungsversuch gelten kann. Die Inanspruchnahme des Verstandes wird fortgesetzt. Strähler meint, er habe seine Prüfung Studenten gezeigt, welche seine Vorlesungen und die Vorlesungen Wolffs besucht hatten. Diesen schreibt er das Attribut zu, »Leute von gutem Verstande« zu sein.59 Jene »Leute von gutem Verstande« schienen nach seinen eigenen Aussagen sichtlich zufrieden mit seinen Thesen zu sein. Seine Position sei also die Position von Leuten von gutem Verstande, was definitiv eine Inanspruchnahme darstellt.
Später wird diese Inanspruchnahme deutlicher, wenn er von Leuten redet, welche ihn ›verunglimpften‹. Diese Personen seien »niedrig gesinnte« und »von Praejudicis eingenommene«.60 Hier zeigt sich ganz explizit Strählers intellektuelle Herabsetzung seiner Kritiker. Der Vorwurf, dass es sich um Verunglimpfung handelt, ist implizit auch eine moralische Herabsetzung. Es nimmt der Kritik die Validität und gibt ihr einen primitiven Anstrich. Strähler erwähnt nicht, wie genau diese Verunglimpfung aussah, sondern lediglich, dass man ihm vorgeschlagen hatte, diese Prüfung doch zu drucken.61
Diese Herabsetzung findet sich ebenfalls in abgeschwächter Form später im Werk. Dort redet er zum ersten Mal schlechter über Wolffs Schrift, welche nach eigener Aussage einige »Irrthümer und Praejudicis« enthalte,62 welchen er lediglich entgegenarbeiten wolle.63 Strähler bezeichnet sich zwar nicht selbst als Aufklärer, dennoch erfüllt er einige der zuvor erläuterten Merkmale. Er verwendet die Lichtmetapher, welche für Vernunft und Verstand steht, und stellt damit einen Wahrheitsanspruch auf. Seine Position gibt er als die Vernünftigere an; seine Gegnerschaft setzt er intellektuell und moralisch herab. Zudem stilisiert er sich als ein Schüler Wolffs, indem er Gebrauch von seiner Methodik macht und diesen Gebrauch explizit anpreist. Drei Identifikationsmerkmale fehlen jedoch noch: Der Punkt zwei, das Eingreifen in eine öffentliche Debatte oder Angelegenheit, scheint zuerst nicht gegeben. Schließlich nahm er ja selbst keinen Anteil an dem Konflikt zwischen Lange und Wolff. Jedoch lässt sich entgegnen, dass er seine Kritik veröffentlichte, als Wolffs Thesen schon zur Kritik standen. Damit hat er sich also doch in eine bereits bestehende Debatte eingehakt.
Den fünften und sechsten Punkt, also die Idee des historischen Fortschritts und der eigenen Teilhabe daran, wie auch die Ansicht des eigenen Zeitalters als das überlegenere ›Zeitalter der Aufklärung‹, lässt sich bei Strähler jedoch nicht ausmachen. Er äußert sich nicht zu seiner eigenen Zeit als überlegen oder aufgeklärt. Er erwähnt auch keine Theorie des historischen Fortschritts. Ab und zu beschreibt er, dass er seine ›Prüfung‹ als einen Schritt im Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Wahrheitsfindung sieht, was dem ähnlich wäre. Jedoch wendete er diese Idee nicht direkt auf den historischen Prozess an.64 Obwohl die letzten Punkte anhand der vorliegenden Quelle nicht ganz zugeordnet werden können, treffen die meisten der Identifikationsmerkmale auf Daniel Strähler zu. Aus diesem Grund ist er durchaus als ein Aufklärer zu bezeichnen, welcher dennoch in Gegnerschaft zu Wolff tritt.
Zusammenfassung und Fazit
Die These, welche in der Einleitung aufgestellt wurde, dass Daniel Strähler als Aufklärer bezeichnet werden kann, konnte anhand der ausgewählten Quelle und der Forschungsliteratur verifiziert werden.
Nach den im ersten Teil des Aufsatzes aufgestellten Punkten, bei welchen es sich um die mit einer Ergänzung versehenen Merkmale von Damien Tricoire und Andreas Pečar handelte, konnte Strähler als ein Aufklärer zugeordnet werden.
Diese Merkmale lauteten wie folgt:
(1) Die explizite Selbstzuordnung als Aufklärer oder die implizite Zuordnung durch die
Verwendung der Lichtmetapher.
(2) Die Inanspruchnahme der Vernunft für seine Position.
(3) Die Selbstberechtigung zur Anteilnahme an einer öffentlichen Angelegenheit.
(4) Die intellektuelle und moralische Deklassierung von Gegenpositionen.
(5) Die Idee der Geschichte als fortschreitender Prozess und die Ansicht, man selbst sei
ein Teil dessen.
(6) Die Ansicht der eigenen Zeit als Aufklärungszeitalter, welches den vorangehenden
Epochen überlegen ist.
(7) Die Selbstzuordnung zu einer Schule oder der Schülerschaft eines bereits erkannten
Aufklärers und der damit verbundenen Inanspruchnahme, ›Teil der Community‹ zu sein.
Bei Daniel Strähler trafen die Punkte (1), (2), (4) und (7) definitiv zu. Die Punkte (3), (5) und (6) lassen sich mit der ausgewählten Quelle nicht oder nur sehr implizit erkennen. Dennoch trifft die Mehrheit der erläuterten aufklärerischen Merkmale zu. Was bedeutet die Identifikation Daniel Strählers als Aufklärer für die übergeordnete Fragestellung, ob es sich bei der Causa Wolffiana um einen Konflikt zwischen Aufklärern und Pietisten handelt? Dieser Topos wird relativiert. Daniel Strähler würde theoretisch Teil der ›Partei der Aufklärung‹ sein, gleichzeitig jedoch für die ›Partei des Pietismus‹ agieren. Das Relativieren dieser beiden Parteien kann diesen logischen Fehler lösen.
Ein Gegenargument dagegen könnte sein, dass der Fall um Strähler so gesondert war, dass man ihn gar nicht als einen Teil des Falles um Wolff sehen kann. Diese Sonderrolle und das Zurückhalten der Pietisten wurden im zweiten Teil dieses Aufsatzes dargestellt. Somit wäre der Fall Wolffs ohne Strähler immer noch ein Konflikt zwischen Aufklärern und Pietisten. Dagegenhalten ließe sich die Förderung Strählers durch die Pietisten, denn sie sahen den Konflikt innerhalb der Philosophischen Fakultät als ihnen zugutekommend an, weswegen sie den Druck von Strählers Prüfung befürworteten. Sie kooperierten also mit einem Aufklärer.
Das und die Tatsache, dass einige persönliche Gründe für den Konflikt mitverantwortlich waren, zeigen, dass es sich eher um einen persönlichen Konflikt zwischen Wolff auf der einen und Lange und Francke auf der anderen Seite handelte, welcher jedoch öffentlich ausgetragen wurde.
Jonas (geb. 2001) studiert nach einem Bachelor in Geschichte und Philosophie nun Kulturen der Aufklärung im Master. Interessengebiete umfassen dabei die Sozial- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, politische Struktur- und Ideengeschichte sowie Queer History. Besonders sein erstes Interesse kann Jonas durch die Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) ausleben.
Kontakt: jonas.liebing2@student.uni-halle.de
Anmerkungen
1Vgl. Hans-Joachim Kertscher, »Halle wäre ein nahrloser Ort, wenn die Universität nicht hier wäre«. Aufklärung und Universität in Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt im 18. Jahrhundert, in: Gerrit Deutschländer, Andrea Thiele, Holger Zaunstöck (Hg.), Halles Ruf. Das Image der Stadt in historischer Perspektive, Halle/Saale 2021, 153f.
2Vgl. ebd. 155.
3Vgl. Hans-Joachim Kertscher, »Er brachte Licht und Ordnung in die Welt«. Christian Wolff – Eine Biografie, Halle/Saale 2018, 144f.
4Vgl. Katharina Hänßler, Susanne Stiller, Aufklärung gegen Theologie? Bemerkung zur Auseinandersetzung um Christian Wolff an der Universität Halle, in: Thomas Müller-Bahlke u. a. (Hg.), Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe, Halle/Saale 2015, 31.
5Ferdinand Joseph Schneider, Das geistige Leben in Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für Anhalt, Bd. 14, 1938, 137–166.
6Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, 406.
7Vgl. Maximilian Lässig, Radikale Aufklärung in Deutschland. Karl von Knoblauch, Andreas Riem und Johann Christian Schmohl, Berlin 2020, 1f.
8Vgl. ebd. 6f.
9Vgl. Martin Brecht, August Hermann Francke und der hallische Pietismus, in: Martin Brecht u. a. (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, 503.
10Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 352.
11Vgl. ebd. 352ff.
12Vgl. Lässig, Radikale Aufklärung, 9.
13Vgl. ebd.
14Andreas Pečar, Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt/Main 2015, 27.
15Vgl. Daniel Fulda, Innovation durch Innovationsansprüche. Prä-, proto- und anti- aufklärerische Selbstpositionierungen in der Frühzeit der Fridericiana, in: Daniel Fulda und Andreas Pečar (Hg.), Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und historiographische Kategorien, Berlin 2020, 24.
16Vgl. Pečar, Tricoire, Falsche Freunde, 28.
17Vgl. Fulda, Innovationsansprüche, 24f.
18Vgl. Pečar, Tricoire, Falsche Freunde, 28f.
19Vgl. ebd. 30.
20Fulda, Innovationsansprüche, 24.
21Vgl. ebd. 26ff.
22Vgl. Hans-Joachim Kertscher, Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zum geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt, Hamburg 2007, 36f.
23Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 352f.
24Vgl. Kertscher, Aufklärung und Universität, 158.
25Vgl. Albrecht Beutel, Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen Halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie, in: Albrecht Beutel (Hg.), Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 130.
26Vgl. Hänßler, Stiller, Aufklärung gegen Theologie, 33. Vgl. auch: Beutel, Causa Wolffiana, 130.
27Vgl. Kertscher, Licht und Ordnung, 104.
28Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 397.
29Vgl. Kertscher, Licht und Ordnung, 134.
30Vgl. Christian Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, Hamburg 1985, 65–69.
31Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 135.
32Vgl. Thomas Fuchs, Christian Wolff und das China-Bild der Aufklärung, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jürgen Stolzenberg (Hg.), Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Bd. 5, Hildesheim 2010, 401f.
33Vgl. ebd. 400.
34Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 135.
35Vgl. ebd. 135f.
36Vgl. ebd. 136.
37Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 402.
38Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 137.
39Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 403.
40Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 137f.
41Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 403.
42Vgl. Lukas Hofmann, Maik Rudolph, Ein akademischer Vatermord? Daniel Strähler gegen Christian Wolff, in: Thomas Müller Bahke u. a. (Hg.), Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe, Halle/Saale 2015, 50.
43Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 139f.
44Vgl. Hofmann, Rudolph, Vatermord, 56.
45Vgl. ebd. 52.
46Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 140.
47Vgl. Hofmann, Rudolph, Vatermord, 50f.
48Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 406.
49Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 139.
50Daniel Strähler, Prüfung der vernünftigen Gedancken des Herrn Hoff-Rath Wolffes von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Hildesheim 1999.
51Ebd. 25.
52Vgl. Beutel, Causa Wolffiana, 139.
53Vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus, 407.
54Strähler, Prüfung, 12.
55Vgl. ebd. 10.
56Ebd. 17.
57Ebd. 11.
58Ebd.
59Ebd. 10.
60Ebd. 14.
61Vgl. ebd. 17.
62Ebd.
63Vgl. ebd.
64Vgl. ebd