W. Daniel Wilson: Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft.
C. H. Beck Verlag, München, 2024, [online] doi:10.17104/9783406814969-189, 351 S.
https://www.chbeck.de/wilson-goethe-juden/product/36359418
W. Daniel Wilson: Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft.
C. H. Beck Verlag, München, 2024, [online] doi:10.17104/9783406814969-189, 351 S.
Klassiker der Weltliteratur und ihre Autoren werden gerne idealisiert. Dies gilt besonders für einen so stark kanonisierten Autor wie Goethe. Ihm Antisemitismus, Rassismus, Homophobie oder ähnliche Haltungen zuzuschreiben wird als unangemessen angesehen und derartige kritische Auseinandersetzungen stoßen auf Widerstand. Derartige Einstellungen seien im historischen Kontext normal gewesen, so die übliche Argumentation. Historische Persönlichkeiten bezüglich ihrer moralischen Standards zu untersuchen ist dementsprechend umstritten, der Goetheforscher Daniel Wilson riskiert es trotzdem. In Goethe und die Juden versucht er herauszufinden, wie Goethe sich im Verlauf seines Lebens gegenüber jüdischen Menschen verhalten hat und inwiefern sich diese Einstellungen in seinen Werken widerspiegeln. Die Untersuchung stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen, darunter Goethes Autobiografie, Ausschnitte aus Briefwechseln sowie Berichte anderer Zeitgenossen.
Wilsons Auseinandersetzung ist nicht nur wichtig, sondern längst überfällig. Goethe nimmt als zentraler Teil der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte eine prägende Rolle ein, seine Ansichten und Haltungen werden über seine Werke auch an die Leserschaft weitergegeben. Wilson stellt die Frage, inwieweit die Judenfeindschaft in der geistigen Kultur der Deutschen verankert ist. Bisher gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten, die sich diesem Thema widmen. Wilson verweist auf wenige Ausnahmen, darunter Mark Waldmans Buch Goethe and the Jews. A Challenge to Hitlerism (1934), welches in Deutschland jedoch kaum wahrgenommen wurde, sowie Karin Schutjers Goethe und das Judentum. Schutjers untersucht allerdings eher Goethes Verhältnis zur jüdischen Religion selbst, während Wilson die biografischen und literarischen Hintergründe mit einbezieht, um ein umfassenderes Bild von Goethes Haltung zu den Juden als gesellschaftlicher Gruppe zu schaffen.
Wilson ist sich der Tatsache bewusst, dass er ein sensibles Thema anschneidet und erwähnt in der Einleitung seine Sorge, dass er Antisemiten damit neuen Stoff liefern würde. Auch im restlichen Verlauf seines Buches zeigt sich diese Achtsamkeit in sorgfältigen Formulierungen. So präsentiert er in der Einleitung zunächst eine Begriffsklärung von Antisemitismus und verdeutlicht, warum dieser Begriff in Bezug auf Goethe vermieden werden sollte. Des Weiteren betont er, dass das englische Wort judeophobia ebenfalls nicht angemessen sei, da es Angst statt Hass ausdrücke. Wilson benutzt im weiteren Verlauf daher die Worte Judenhass und Judenfeindschaft.
Wilsons Buch ist in mehrere thematischen Kapitel unterteilt. Nach einer Einführung, in der er seinen Untersuchungsgegenstand und die Zielsetzung des Buches umreißt, folgt eine chronologische Analyse der Lebensphasen Goethes und deren Einfluss auf seine Haltung gegenüber Juden. Wilson beginnt mit Goethes Jugend und seinen frühen Erfahrungen mit der Frankfurter Judengasse. Anschließend beschäftigt er sich mit seiner Zeit in Weimar, hier zieht Wilson erstmals Archivmaterial heran. Weiterhin behandelt er die Emanzipationsbestrebungen der Juden selbst, sowie Goethes Auseinandersetzung mit denselben. An dieser Stelle befasst sich die Studie auch mit Goethes Ablehnung von Ehen zwischen Christen und Juden und der Frage, ob Goethe Juden als ›Rasse‹ betrachtete. Wilson behandelt weiterhin Goethes Beziehungen zu gebildeten und konvertierten Juden und analysiert, wie sich seine Haltung diesen gegenüber im Vergleich zu nicht assimilierten Juden unterschied. Im abschließenden Kapitel vergleicht er Goethe mit seinen Zeitgenossen und versucht seine Haltung in den historischen Kontext einzuordnen. Wilson betont, dass Goethes Ansichten nicht unabhängig von den gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen seiner Zeit verstanden werden können.
Wilson verfolgt einen historisch-kritischen Ansatz, der Goethes Einstellungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten soll. Er kombiniert textimmanente Analysen von Goethes Werken mit der Auswertung biografischer und zeitgenössischer Quellen. Dabei stützt er sich auf eine breite Auswahl an Quellen, die zum Teil sehr ausführlich zitiert werden. Das ist grundsätzlich zwar hilfreich, da der Leser so Wilsons Argumentation direkt an den Originaltexten nachvollziehen kann, allerdings wirken manche Passagen doch sehr umfangreich. Außerdem wird die Studie ihrem eigenen Anspruch, den Fokus der Untersuchung auf die jüdische Perspektive und die jüdischen Erfahrungen zu legen (vgl. 16), nicht vollständig gerecht, da die Analyse sich an vielen Stellen nur auf die Betrachtung von Goethes Schriften konzentriert.
Insgesamt wirkt die Studie etwas unentschlossen: Wilson arbeitet einerseits heraus, dass Goethes Einstellung gegenüber Juden, sowohl in seinen Briefen als auch in seinen literarischen Werken, stereotype Vorstellungen und Vorurteile aufweist. Im Abschnitt Rückschläge der Emanzipation kommt der Autor dann andererseits zu der Erkenntnis, dass »Goethes Haltung einigermaßen ambivalent« (186) sei. Dieser Satz überzeugt im Rahmen des Buches nicht wirklich, nachdem zuvor ausschließlich Beispiele für Goethes antisemitische Einstellungen aufgeführt wurden. Wilson argumentiert an dieser Stelle etwa, dass Goethe kurzzeitig Felix Mendelssohn, ein jüdisches Kind, beherbergt und gut behandelt habe und erwähnt, dass Goethe Umgang mit konvertierten Juden pflegte. Dass diese Argumente keine wirkliche Aussagekraft haben, hatte er allerdings schon im zweiten Kapitel erwähnt, als er klar gemacht hat, dass Goethe diese Menschen nicht als ›richtige Juden‹ sah (vgl. 30).
So bleibt Wilsons Fazit auch eher zurückhaltend, was der Tiefe der vorhergehenden Analyse nicht vollständig gerecht wird: »Aus der etwas verwirrenden Situation können wir schließen, dass Goethe um 1795 Begegnungen mit Konvertierten bevorzugte, aber allmählich – besonders in den Restaurationsjahren nach etwa 1820 – Juden genauso bereitwillig akzeptierte wie Konvertiten und andere Christen. Doch wurden sie nicht zu Freunden« (233). Diese Schlussfolgerung wirkt wenig überzeugend, da sie eher auf einer subjektiven Interpretation von Goethes Verhalten basiert als auf einer fundierten Grundlage. Die Tatsache, dass Goethe Juden in seinem Umfeld tolerierte und sich ihnen gegenüber nicht offen abfällig äußerte, kann nicht als ausreichender Beleg dienen, um ihn von antisemitischen Haltungen freizusprechen. Auch die von Wilson angeführte, durch Vorurteile geprägte Bewunderung einzelner Eigenschaften jüdischer Menschen, die als Zeichen einer positiven Einstellung gewertet werden, relativiert die zuvor gewonnenen Erkenntnisse. Wilson erkennt zwar an, dass Antisemitismus auch in Goethes Zeit nicht universell war und entkräftet damit die historische Rechtfertigung für Judenfeindlichkeit, dennoch bleibt am Ende des Buches eine gewisse Unentschlossenheit zurück.
Eine eindeutige Stärke des Buches liegt allerdings in Wilsons kritischem Umgang mit stereotypen Ansichten. Er lässt diese nicht unkommentiert stehen, sondern leistet Aufklärungsarbeit, indem er erklärt, warum die jeweiligen Vorurteile gegenüber Juden existierten und in welchen Fällen es sich um falsche Urteile handelt. Wilson scheut sich hier nicht, eine klare Position zu beziehen, wenn es darum geht, sich von judenfeindlichen Aussagen oder Darstellungen zu distanzieren:
Die von Goethe verharmlosend bezeichneten ›Märchen‹ – richtiger: Lügen – von ritueller jüdischer Gewalt an Christen waren aber selbst tödlich: Sie gaben immer wieder Anlass zu Pogromen (35).
Darüber hinaus kritisiert Wilson auch die Rezeption in der Goethe-Forschung und weist darauf hin, dass judenfeindliche Passagen in Goethes Werken oft unkommentiert bleiben oder gar gekürzt wurden, wie z. B. bei der weit verbreiteten Hamburger Ausgabe von Goethes Briefen. Eine wichtige Erkenntnis, die im Verlauf der Analyse häufiger wiederholt wird, ist, dass Goethe vor allem die ›Schacher-/Wucherjuden‹ als Juden bezeichnete. Diese Differenzierung zwischen verschiedenen ›Arten von Juden‹ zeigt, dass Goethes Umgang mit jüdischen Intellektuellen nicht als Beweis für eine judenfreundliche Haltung herangezogen werden kann, da er diese nicht als ›echte Juden‹ anerkannte.
Insgesamt bietet Wilson eine fundierte und gründliche Untersuchung von Goethes Haltung gegenüber Juden inklusive deren Wandlungen im Laufe seines Lebens. Er hat damit eine interessante und wichtige Analyse geliefert, die auch (oder gerade) Goethe-Fans in die Hand nehmen sollten.
Angelina (geb. 2003) studiert im Bachelor Deutsche Sprache und Literatur und Geschichte. Ein besonderes Interesse gilt dabei der Gegenwartsliteratur und modernen Klassikern sowie queer-feministischer Literatur im Laufe der Zeit.
Kontakt: angelina.mietz@student.uni-halle.de; angelina.mietz@gmail.com