Ein Blog für literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Beiträge der MLU Halle

Rezension: Der Minnebund mit Gott (Sliepen) – Christopher Tersch

Volker Sliepen: Der Minnebund mit Gott. Modelle religiöser Liebe im legendarischen Erzählen.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2024, 279 S.
https://www.esv.info/978-3-503-23789-0


Volker Sliepen: Der Minnebund mit Gott. Modelle religiöser Liebe im legendarischen Erzählen

Erich Schmidt Verlag, Berlin 2024, 279 S.

Legenden waren lange ein randständiger Forschungsgegenstand und galten sogar als ›literaturunfähig‹. Nun entdeckt die neuere Forschung, wie vielgestaltig die großen Themen Liebe, Glaube, Identität und Erkenntnis seit der Spätantike bis zur Reformation im legendarischen Erzählen verhandelt wurden. Das Wiedererzählen der Legendenstoffe, Modelle von weiblicher und männlicher Heiligkeit sowie narratologische Besonderheiten beim Erzählen von Transzendentem stehen für einen bisher unterschätzten Variantenreichtum. Volker Sliepens Beitrag zur Legendenforschung liefert Ergebnisse, die nicht nur für die germanistische Mediävistik von Interesse sein dürften, sondern für alle, die sich mit vormodernem Erzählen befassen.

Bei der hier nur angerissenen Vielfältigkeit verwundert es nicht, dass Sliepens Untersuchung darauf abzielt, »zu geistig-kulturellen Kategorien und Fragestellungen durchzudringen, die an der Schnittstelle von Philologie, Anthropologie, Theologie und Philosophie angesiedelt sind« (223). Genau diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre, der Studie wobei durch den Fokus auf das Theologische einerseits und die religiöse Liebe andererseits stets eine klare Perspektivierung erhalten bleibt. Die vielseitigen Anknüpfungsmöglichkeiten an andere Bereiche der genannten Schnittstelle hält Sliepen dabei jedoch durchgehend präsent, was sehr zu begrüßen ist, da diese neue Ansätze für weitere Untersuchungen anbieten.

Der hinleitende Aufbau der Studie ermöglicht es, den Ausführungen auch ohne größeres legendarisches, mediävistisches oder theologisches Vorwissen zu folgen. Sliepen weist jedoch darauf hin, dass »die schier unübersichtliche Forschung zur Legende und zum legendarischen Erzählen Probleme mit sich [bringt]. Eine Forschungsübersicht ist nur noch dadurch möglich, dass die Wiedergabe großer Leitlinien mit dem Hinweis auf Unvollständigkeit ergänzt wird« (16). Entsprechend fasst er in drei thematischen Entwicklungslinien wesentliche Veränderungen der neueren Forschung zum legendarischen Erzählen zusammen.

Erstens wird das legendarische Erzählen neuerdings als eine literarische Praxis gefasst und ist nicht mehr an eine bestimmte Textsorte gebunden, wobei aber Heiligenerzählungen auch weiterhin im Mittelpunkt stehen. Der Autor diagnostiziert hier einen Paradigmenwechsel.

Zweitens wird die Beziehung zwischen Immanenz und Transzendenz in der neueren Forschung nicht mehr als absolute Dichotomie aufgefasst, sondern beide Seiten werden in einem gemeinsamen Spannungsfeld gesehen, was Berührungspunkte zulässt. Legendarisches Erzählen lässt sich als »eine narrative Bearbeitung der zwischen ihnen verlaufenden Grenze« (14) umschreiben. Diese Auffassung ermöglicht eine grundsätzlich andere Perspektive auf das legendarische Erzählen, welche die Wechselwirkungen zwischen Gott und Heiligen viel umfassender betrachten kann.

Drittens kommen die Texte nun verstärkt selbst zu Wort. Die ältere Forschung hatte mit dem methodischen Problem zu kämpfen, dass die überlieferten Legenden eine enorme Textmenge darstellen, die doch kaum je konkret bearbeitet wurde. Man machte sich vielmehr »über ›das‹ Wesen der Texte« (15) Gedanken, wodurch sich dann allzu häufig wertende und aneignende Lesarten ergaben. Mangels differenzierter Betrachtung wurde der Variantenreichtum übersehen und die Legende als ›Schemaliteratur‹ abgetan. Wieder andere Lesarten tendierten dazu, die Legende allzu sehr als Text zur eigenen Andacht zu nehmen.

Sliepens Arbeit baut auf neueren Forschungsansätzen auf, wie sie im Sammelband Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter zusammengetragen wurden und bezieht sich, wenn auch kritisch, auf Edith Feistners Arbeit Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Feistners Ergebnisse werden von Sliepen dabei zum Teil weiterverfolgt und durch seine Untersuchungen auch bestätigt. Wo Feistner dem legendarischen Erzählen aber eine universelle Struktur unterstellt, beschreitet Sliepen allerdings neue Wege. Das betrifft insbesondere Interpretationen, bei denen Feistner mit einer strikteren Unterscheidung von Märtyrer- und Bekennerlegende argumentiert, die inzwischen als überholt gilt.

Sliepen stellt seinen Korpus dementsprechend nach anderen Parametern zusammen. Die untersuchten Legenden stammen sowohl aus der frühchristlichen Antike (2. Kapitel, Martyrium des Bischofs Polykarp und Martinsvita) als auch aus dem Mittelalter als wiedererzählte mittelalterliche Legenden (3. Kapitel, Silvesterlegenden aus der Kaiserchronik, dem Passional und dem Silvester Konrads von Würzburg). Komplementär dazu wird weibliche Heiligkeit anhand der Margaretenlegende (4. Kapitel, Wallersteinische Margarete, Wetzels von Bernau Margarete, Hartwigs von dem Hage Margarete und der Margarete eines unbekannten Verfassers) untersucht. Die Legendenstoffe werden zu Beginn der Kapitel jeweils überblicksartig vorgestellt, wobei die Textauswahl überzeugend begründet wird. Sliepen gelingt damit die Erstellung eines Korpus, der einerseits die Vielfältigkeit des legendarischen Erzählens berücksichtigt, andererseits genügend eingegrenzt ist, um tiefgehend close readings vornehmen zu können. Darüber hinaus werden bekanntere sowie weniger populäre Texte und sowohl Einzellegenden als auch solche aus Legendarien berücksichtigt.

Das Neue, das die Studie an diesen Texten herausarbeitet, liegt in der narrativen Funktion des Minnebundes mit Gott. Dieser Minnebund entwickelt sich im legendarischen Erzählen sukzessive in Form eines Erkenntnisprozesses, der als Akt der Selbst- und Gotterkenntnis gestaltet wird. Herzmetaphern sind dabei in allen Legenden von großer Bedeutung, um die Entstehung des Minnebundes zwischen Heiligem und Gott zu erzählen. In verschiedenen sprachlichen Bildern wird das Herz als wesentliches Verbindungselement zwischen Transzendenz und Immanenz gestaltet. So wird in der Silvesterlegende im Passional beispielsweise der Name Christus ins Herz eingraviert. An anderer Stelle derselben Legende wird das Herz wie ein Stamm gepfropft, was die »Vorstellung einer sich vollziehenden spirituellen Befruchtung und Veredelung« (82) symbolisiert. Daraus wird stimmig geschlussfolgert, dass das Heiligenherz einen Ort der Erzählwelt darstellt, in dem sich Immanenz und Transzendenz begegnen können. Die religiöse Liebe und der Minnebund mit Gott haben daher einen eigenen Ort in der Erzählwelt, wodurch die Perspektive auf die gesamte Erzählung verändert und der Blick für legendarische Elemente sensibilisiert wird, die bisher überlesen worden sind.

Begleitet werden die Herzmetaphern von binären Oppositionen, zwischen denen Heilige ihre Identität herausbilden müssen: innen und außen, oben und unten, sündige Vergangenheit und erlösende Zukunft sowie Konflikte zwischen Christen und ›Heiden‹ oder Juden. Einige der Heiligen sind zunächst nicht getauft, wurden aber dennoch, teils sogar als Kind schon, von Gott auserwählt, was zeigt, wie diese binären Oppositionen komplex miteinander verbunden auftreten. Weibliche Identitäten der Heiligen funktionieren anders als die männlichen. Der Minnebund wird zwar hier ebenfalls als Prozess erzählt, doch wird etwa die Heilige Margarete als vergebene Frau inszeniert. Dahinter verbirgt sich die Figur einer paulinischen sponsa als Braut von Jesus Christus. Die Opposition, auf deren Grundlage das legendarische Erzählen das weibliche Heiligkeitsmodell darstellt, ist die zwischen religiöser und weltlicher Minne. Die Keuschheit wird auf das Niveau einer Marter gehoben, was die Heilige als standfest auszeichnet und somit würdig für den Minnebund mit Gott erscheinen lässt.

Das Minnen wird darüber hinaus als Tätigkeit beschrieben, die am ehesten einem liebenden Erinnern und Gedenken an Christus gleichkommt: »Gemeint ist hier eine geistige Haltung, die über das Nachdenken und Nachsinnen hinausgeht und auf die Vergegenwärtigung und Verlebendigung des Geliebten zielt. Damit ist der Minne von vornherein das (aufsteigende) Streben nach einer communio mit Gott inhärent« (207). In diesem Zustand erhält die Heilige die Kraft, sämtliche Prüfungen zu überstehen, einschließlich Kerkerhaft und den Kampf mit dem Teufel in Form eines Drachens in jener Kerkerzelle. Im legendarischen Erzählen, so Sliepens Urteil, wird dadurch ein Frauenbild kreiert, dass der Heiligen Autonomie und irdische Kraft zugesteht. Das Minnen ist darüber hinaus auch eine ganz eigene Erzählweise, welche die Erzählwelt recht stark beeinflussen kann.

Denkfiguren wie Margaretes Minnen als Vergegenwärtigung Christi sind nicht nur rhetorischer Schmuck, sondern lassen sich als ernstzunehmende philosophische und theologische Überlegungen verstehen. Wenn die Heilige Margarete Christus gedenkt und sich ihn vergegenwärtigen möchte, dann dürfen hier endzeitliche Vorstellungen mitgedacht werden. Die Zeit funktioniert demnach so, dass eine abgeschlossene Vergangenheit auf eine noch offene Zukunft trifft. Legendarisches Erzählen sollte man daher nicht nur in einer strengen Chronologie verstehen oder lediglich vom erlösenden, messianischen Ende her denken: »An der Ausnahmegestalt Margarete wird auf diese Weise exemplarisch veranschaulicht, wie der liebende Mensch […] Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich überblickt und so das göttliche Sein durch Taten sinnlich erfahrbar machen kann« (195).

Es ist ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung, dass Zeitlichkeit im legendarischen Erzählen grundlegend anders funktioniert als bei anderen Formen des Erzählens, was in den Wundern am deutlichsten wird. Diesen widmet der Autor einen Exkurs und darüber hinaus im 5. Kapitel in Verbindung mit dem Erzählen von Opfern ein Unterkapitel. Anknüpfend an die linguistische Zeichentheorie von Amelie Bendheim und an die Auslegungen des Römerbriefs von Giorgio Agamben kann gezeigt werden, dass Wunder einen eigenen Erzählrahmen schaffen, in dem Transzendenz in die Erzählwelt hereinbricht und sich die chronologische Zeit auf einen Punkt (kairos) konzentriert. Die erzählte Zeit wird hier der irdischen Handlung enthoben: »Das Wunder erinnert also die Vergangenheit und nimmt die (eschatologische) Rettung in der Erzählwelt vorweg« (74).

Die Studie beschäftigt sich aber auch noch auf anderen Ebenen mit Fragen der Zeitlichkeit. So eröffnet Sliepen epochenübergreifende Perspektiven, mit denen man Elemente des legendarischen Erzählens in unterschiedlichen Texten aufspüren kann, eingegangen wird hier beispielsweise auf Thomas Manns Der Erwählte (1951). Darüber hinaus wird in einer längeren Fußnote (242) auf ein Zitat aus der Bibelszene in Goethes Faust I verwiesen, in welchem ähnliche Denkmuster über das Verhältnis vom Wort (logos) zum Leben zu entdecken sind. Sliepen gibt dabei zu bedenken, dass nicht jede Liebesäußerung oder jegliche Verehrung eines Idols aufs Legendarische bezogen werden sollte, da »diesen Vergleichen immer ein ahistorischer und letztlich aneignender Blick zugrunde [liegt]« (58). Sein Plädoyer, mit dem Legendarischen nicht allzu unbestimmt umzugehen, ist durchaus berechtigt, da die Gefahr besteht, Methoden zur Bearbeitung des legendarischen Erzählens anderen erzählerischen Verfahren überzustülpen. Wie das legendarische Erzählen diachron, nicht ahistorisch, erforscht werden kann, ist ein methodisches Wagnis, das letztlich an konkreten Forschungsgegenständen überprüft werden muss. Dennoch liefert die Studie anregende Impulse, um über die Reichweite des legendarischen Erzählens und biblisch-christliche Denkmuster, die darüber transportiert werden, nachzudenken.

Die Diskussion grundlegender Denkmuster und thematischer Schwerpunkte im 5. Kapitel zeigt das interdisziplinäre Potential der Erforschung des legendarischen Erzählens. Neben Literaturwissenschaftlern, Historikern und Philosophen kommen auch Theologen zu Wort. Dass jedoch die Auslegungen zeitgenössischer Theologen und auch Beiträge von Papst Franziskus neben spätantiken und mittelalterlichen Texten stehen, wirft methodische Fragen auf. Nicht jeder wird sich auf dieses Nebeneinander einlassen können, impliziert es doch, dass heutige Bibelauslegungen ohne Weiteres zur Untersuchung wesentlich älterer Texte herangezogen werden könnten.

Die Diskussion grundlegender Denkmuster und thematischer Schwerpunkte im 5. Kapitel zeigt das interdisziplinäre Potential der Erforschung des legendarischen Erzählens. Neben Literaturwissenschaftlern, Historikern und Philosophen kommen auch Theologen zu Wort. Dass jedoch die Auslegungen zeitgenössischer Theologen und auch Beiträge von Papst Franziskus neben spätantiken und mittelalterlichen Texten stehen, wirft methodische Fragen auf. Nicht jeder wird sich auf dieses Nebeneinander einlassen können, impliziert es doch, dass heutige Bibelauslegungen ohne Weiteres zur Untersuchung wesentlich älterer Texte herangezogen werden könnten.


Christopher Tersch

Nach einem Bachelorstudium in Deutsche Sprache und Literatur sowie Europäische Kunstgeschichte studiert Christopher (geb. 1993) Deutsche Sprache und Literatur im Master. Er interessiert sich besonders für die germanistische Mediävistik und unterstützt diesen Bereich an der MLU als Tutor und wissenschaftliche Hilfskraft.

Kontakt: christopher.tersch@student.uni-halle.de