Zukunft – Zukünfte – (Vergangene) Zukünfte
Im Gespräch mit Halle–Neustadt
Zukunft ist ein Wort, das in unserem alltäglichen Sprachgebrauch oft Verwendung findet. Doch was genau meinen wir, wenn wir davon sprechen? In ihrem 2023 veröffentlichten Buch Zukunft. Eine Bedienungsanleitung bezeichnet die Zukunftsforscherin Florence Gaub Zukunft als »etwas, das alle Menschen ständig erzeugen«1 und als das, »was wir uns über sie vorstellen können«.2 Da wir uns im besten Fall mehr als ein Szenario vorstellen können, spricht man in der Forschung auch vom Plural des Wortes, also von Zukünften. Es gibt kleine, alltägliche (z. B. die Abendplanung), mittelgroße (z. B. den nächsten Urlaub) und große Zukünfte (z. B. einen Wohnortwechsel) – alles gemessen daran, wie weit in eine potentielle Version von Zukunft wir blicken. Des Weiteren lässt sich noch eine »größere, kollektive Zukunft« von einer »kleinen, persönlichen« unterscheiden.3 In ihrer Bedienungsanleitung rät Gaub jedoch davon ab, die verschiedenen Versionen des Begriffs zu stark voneinander abzugrenzen: »Alle Zukünfte sind miteinander verbunden, ja stecken ineinander wie Legosteine. Die tägliche Zukunft ist eingebettet in die persönliche Zukunft, die wiederum Teil der Zukunft dieser Epoche ist, die wiederum Teil der Zukunft des Planeten ist«.4
Soweit zum Begriff der Zukünfte – doch warum sprechen wir von vergangenen Zukünften? Liegt hier nicht eine widersprüchliche Begriffsverwendung zugrunde? An dieser Stelle hilft ein Blick auf die historische Perspektive von Zukunft, wie sie von Reinhart Koselleck in seiner Veröffentlichung Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten ausgeführt wird. Zentral sind für Koselleck die Begriffe Erwartung und Erfahrung, die untrennbar miteinander verbunden sind: Eine Erfahrung in der Vergangenheit erlaubt es uns, eine Erwartung an die Zukunft zu stellen – oder um Koselleck zu Wort kommen zu lassen: »Erfahrung und Erwartung sind zwei Kategorien, die […] Vergangenheit und Zukunft verschränken«.5
Wenn wir von vergangenen Zukünften sprechen, meinen wir vergangene Erwartungen und Vorstellungen an und von einer Zukunft, die jetzt Vergangenheit ist: Welche Wünsche und Erwartungen hatten wir an den nächsten Tag, an die nächste Woche, an den nächsten Monat, an die nächsten 15 Jahre? Vergangene Zukünfte, die Erfahrungen geworden sind, bieten uns die Möglichkeit, über zukünftige Zukünfte nachzudenken und diese aktiv mitzugestalten.
Wir – Das Projektseminar (Vergangene) Zukünfte
Im Oktober 2023 treffen wir uns das erste Mal im Seminarraum des Germanistischen Instituts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wir – das sind sieben Student:innen sowie unsere Dozentin. Wie Seminartext und -titel verlauten lassen, wollen wir uns mit (Vergangenen) Zukünften beschäftigen. Dabei soll Halle-Neustadt als spezifischer Ort, der aufgrund seiner Historie einen besonderen Blick auf vergangene Zukünfte ermöglicht, im Zentrum unserer Auseinandersetzung stehen. Unser Projektseminar ist in die größer angelegte Kooperation Transformationslabor Imaginationen der Zukunft eingebettet. Diese Kooperation zwischen der Stadt Halle und der Universität möchte sich dem komplexen Themenfeld Zukünfte in all seinen Ausprägungen annähern, um ausgehend davon Formate zu entwickeln, an denen Bürger:innen partizipativ an der Zukunftsgestaltung Halles teilnehmen können. Wie genau sich das in den kommenden Monaten realisieren wird, wissen wir an diesem Mittwoch im Oktober noch nicht. Wir wissen nur, dass wir etwas über die vergangene Zukunft Halle-Neustadts erfahren wollen; vor allem aber über die vergangenen Zukünfte ihrer Bewohner:innen. Unsere Suche beginnt: Es werden Fotoalben gewälzt, literarische Texte gelesen, Reportagen angeschaut. Besonders wichtig ist es uns von Beginn an aber, nicht nur über, sondern mit Halle-Neustadt und ihren Bewohner:innen zu sprechen: über (ihre) vergangenen Zukünfte, (ihre) Gegenwart und (ihre) zukünftigen Zukünfte. Ausgangspunkt für unsere Gespräche waren literarische Texte über Halle-Neustadt sowie Fotografien von Gerald Große. Vorgestellt haben wir unsere Ergebnisse im Januar 2024 bei der Veranstaltung (Vergangene) Zukünfte – im Gespräch mit Halle-Neustadt. Ein Abend mit Studierenden des Instituts für Germanistik der MLU im Literaturhaus Halle.
Literatur über und aus Halle-Neustadt
Literarische Texte bieten im Vergleich zu journalistischen Texten in großem Maße die Möglichkeit, Imaginationen darzustellen. Trotz des Potentials literarischer Texte ist es wichtig, sich die historische Gegenwart, in der die Autor:innen ihre Texte veröffentlicht haben, zu vergegenwärtigen. Die Werke über Halle-Neustadt wurden von in der DDR lebenden und schaffenden Autor:innen verfasst und waren somit immer einer potentiellen literarischen Zensur ausgesetzt. Und dennoch oder gerade deswegen sind sie für uns eine wertvolle Schatztruhe – weil sie uns die Möglichkeit bieten, eine imaginäre Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen, um etwas von den damals zukünftigen Zukünften, die jetzt vergangene Zukünfte geworden sind, zu erfahren.
Öffnet man die Schatztruhe der literarischen Texte zu Halle-Neustadt, stellt man fest, dass diese ganz schön voll ist. Wir haben lange in ihr gewühlt, einiges davon gelesen, viel diskutiert und uns letztlich für vier Texte entschieden: Die Erzählung Werner Bräunings Der schöne Monat August (1969), in der wir den Protagonisten Trumpeter bei seinem Spaziergang durch Halle- Neustadt begleiten. Die sich noch im Bau befindende Neustadt ist für Trumpeter ein Sehnsuchtsort, ein Verweis auf die noch bevorstehende Zukunft, die er als Leiter der Tiefbaubrigade aktiv mitgestaltet.
In Franziska Linkerhand, einem Romanfragment der Autorin Brigitte Reimann aus dem Jahre 1974, begleiten wir die Protagonistin Franziska Linkerhand, die als Architektin am Aufbau einer Neustadt beteiligt ist. Dabei ist nicht explizit von Halle-Neustadt die Rede, vielmehr vereint der Roman Charakteristika verschiedener ›Neustädte‹. Die ambitionierte Architektin stößt mit ihrem Idealismus für eine menschenfreundliche Stadt auf den Pragmatismus ihrer Kollegen, die sich vor allem dem ökonomischen Bauen verschrieben haben. Linkerhand stellt sich vor allem die Frage nach den Belangen der in der Stadt lebenden Menschen: Wie lassen sich individuelle Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft in einer Realität konkretisieren, die im vorgegebenen Plan keinen Platz haben?
Einige Parallelen zu Franziska Linkerhand finden wir in Alfred Wellms Morisco aus dem Jahre 1978. Auch hier steht das Streben nach Individualität und Kreativität im Konflikt mit dem Topos der Großstadt, dem schnellen und zielorientierten Bauen. Der Protagonist Andreas Lenk, ebenfalls Architekt, hat einen hoffnungslosen und negativen Blick auf die entstehende Stadt, in der es keinen Raum für individuelle Verwirklichung gibt. Als Gegenentwurf plant Lenk mit seinem Freund Marinello die Idealstadt Helianthea II, die für ihn der Inbegriff einer glücklichen Zukunft ist.
In Zwei Schritte vor dem Glück von Hans-Jürgen Steinmann (1978) begleiten wir eine junge Familie, die drei Jahre nach Baubeginn nach Halle-Neustadt zieht. Hier sind es nicht Bauarbeiter:innen oder Architekt:innen, deren Perspektive wir kennenlernen, sondern die Bewohner:innen der Stadt. Es sind ebendiese Personen, die ihre Vorstellungen von Zukunft in Bezug auf ihr individuelles Glück verhandeln.
Alle vier Texte werfen einen jeweils sehr individuellen Blick auf (Halle-)Neustadt. Und weil nicht nur literarische Texte die Möglichkeit haben, von (vergangenen) Zukünften und Imagination zu erzählen, sondern vor allem die einzelnen Menschen, haben wir sieben von ihnen in einen Dialog treten lassen mit der vorgestellten Literatur und den Fotografien von Gerald Große, der seinerseits vor allem die Anfangszeit Halle-Neustadts fotografisch dokumentiert hat:
Unser erstes Gespräch fand beim Nachbarschaftsfrühstück der AWO Halle-Neustadt statt. Dort haben wir mit Herrn Stein, Anna, Stephan und Maria, einer Mitarbeiterin der AWO, gesprochen. Herr Stein ist in Halle geboren und 1975 nach Halle-Neustadt gezogen. Anna ist 1992 in Halle- Neustadt geboren, dort aufgewachsen und hat schon an verschiedenen Orten des Stadtteils gelebt. Stephan ist 36 Jahre alt und bezeichnet sich selbst als »Zuwanderer«“, der erst seit zehn Jahren mit seiner Partnerin und seiner Tochter in Halle-Neustadt lebt. Maria hat keine enge Verbindung zu Halle-Neustadt. Sie arbeitet dort seit November 2023 als Sozialarbeiterin der AWO.
Für unser zweites Gespräch haben wir uns mit Herrn Müller in der Geschichtswerkstatt getroffen. Er ist dort ehrenamtlich tätig. Herr Müller ist 80 Jahre alt und 1973 beruflicher Gründe wegen von Dessau nach Halle-Neustadt gezogen. Als ehemaliger Angestellter des VEB Grünanlagen Halle-Neustadt war er für die Begrünung des Stadtteils zuständig.
Unser drittes Gespräch haben wir mit dem Ehepaar Hoffmann geführt. Die beiden sind 1966 mit ihren zwei Söhnen nach Halle-Neustadt gezogen. 1969 eröffnete Heidi Hoffman dort ein Atelier für Fotografie und arbeitete viele Jahre lang als Stadtfotografin. Sie wirkt auch heute noch an kleineren Projekten der Stadt mit.
Halle-Neustadt – Ein kurzer Blick zurück zu den Anfängen
Halle-Neustadt, in den 1960ern als sozialistisches Vorzeigeprojekt der DDR konzipiert, ist ein Ort, der in besonderem Maße von vergangenen Zukünften geprägt ist. Als Stadt ohne Vergangenheit traf sie auf Bewohner:innen, Stadtplaner:innen und Arbeiter:innen, die jeweils ihre eigene Vorstellung und Vision von Zukunft mitbrachten. Jetzt, fast 60 Jahre später, hat auch Halle-Neustadt eine Vergangenheit, in der individuelle und kollektive Erfahrungen gemacht wurden. Die ursprüngliche Idee war es, eine moderne, funktionsfähige Stadt zu schaffen, die die Visionen der sozialistischen Planwirtschaft verkörpern sollte. So erzählt Anna: »Neustadt sollte ursprünglich eine eigene Stadt werden und eigentlich für die Arbeiter in Buna und Leuna. Aber durch die Größe und Nähe zu Halle wurde das dann ein Teil von Halle«. 1963 wurde der Bau der »Chemiearbeiterstadt« beschlossen; 1964 der Grundstein gelegt; Tag und Nacht wurde gebaut, bis ein Jahr später, 1965, die ersten Mieter:innen in die Wohnhäuser zogen. Herr Müller erzählt uns:
Es musste sehr schnell gehen, dass man da nicht mit kleinen Türmchen, wie in der Altstadt von Halle oder in anderen Städten arbeiten konnte, mit Schnärzelchen, wo wir heute sagen, Mensch, diese Gründerzeithäuser, ist das nicht herrlich, wie schön, die Fassaden und so weiter. Das durfte keine Rolle spielen. Schnellstens Wohnraum für die Leute, warum? Buna und Leuna.
Die ersten Jahre in Halle-Neustadt werden von ihren Bewohner:innen auch liebevoll »Gummistiefel-Jahre« genannt – die noch entstehende Stadt besteht aus Schlammbergen, Pfützen, improvisierten Stegen und Brücken, um in die Wohnhäuser zu gelangen. Diese Motive finden sich in den Fotografien Gerald Großes sowie in verschiedenen literarischen Werken wieder. So heißt es in Hans-Jürgen Steinmanns Roman Zwei Schritte vor dem Glück (1978) beim Einzug des jungen Ehepaares Renate und Günther mit ihrem Sohn: »Dann standen sie vor einer Wasserlache, einem kleinen See, der trennte sie vom Hauseingang. Dronka und Günther begannen, aus umherliegenden Brettern und Steinen einen Steg zu bauen«.6 Auch Anna hat uns hierzu eine kleine Geschichte mitgebracht, die diese Zeit anekdotisch beschreibt:
Meine Mutter ist in Eisleben geboren, aber lebte auch schon seit ihrer Kindheit in Halle- Neustadt. Sie hat auch hier irgendwo in der Ecke, da ist ein Kindergarten, und da hat sie, als das noch alles sehr schlammig war, einen Schuh verloren. Und der ist da irgendwo immer noch in dem Boden drin.
Wenn man heute durch Halle-Neustadt läuft, findet man, wie in den meisten anderen Städten auch, Straßennamen vor. Doch das war nicht immer so – bis nach der Wende 1989 waren die Wohnblöcke im Uhrzeigersinn durchnummeriert. Diese Nummerierung sorgte nicht nur bei der Protagonistin von Hans-Jürgen Steinmanns Roman Zwei Schritte vor dem Glück für Orientierungslosigkeit, sondern auch bei den damaligen Bewohner:innen. Herr Hoffmann berichtet, dass es vor allem Freund:innen und Verwandten gegenüber immer ein bisschen beschämend gewesen sei, sich mit einer Blocknummer identifizieren zu müssen: »Das klang immer so nach Gefängnis. Wir waren dann ganz stolz, als Straßennamen kamen«.
Die Neustadt Halles unterschied sich nicht nur durch die fehlenden Straßennamen von der Altstadt. Herr Müller erzählt uns hierzu:
Es gab mehr Licht und mehr Luft und vor allen Dingen auch saubere Luft, weil es damals schon Fernheizung gab. Das war anders als in der Altstadt von Halle. Wenn man also nach Halle fuhr, da fuhr man teilweise noch an den Kriegsschäden vorbei zu dieser Zeit.
Auch Familie Hoffmann macht ähnliche Erfahrungen. Heidi Hoffmann berichtet:
Wir hatten in der Kohlschütterstraße7 ein Zimmer mit großer Küche und fensterlosem Raum. Also für drei Personen war es ganz schlimm. Und da haben wir eine Zwei-Raum- Wohnung in Halle-Neustadt gekriegt. Wissen Sie, wie glücklich wir da waren – wir hatten ein Bad, hatten fließend warmes Wasser, das war ein Segen.
Städte ohne Vergangenheit
Mit ca. 45.000 Einwohner:innen ist Halle-Neustadt heute, trotz des anhaltenden Rückbaus, der größte Stadtteil von Halle. Sechs von seinen Einwohner:innen haben uns einen persönlichen Einblick in ihre Erfahrungen gewährt. Natürlich liegt es auf der Hand, dass wir nur einen Bruchteil von Erfahrungsberichten sammeln konnten und sich ein wohl viel bunteres Erfahrungs-Mosaik ergeben hätte, wenn wir mit mehr Menschen ins Gespräch gekommen wären. Doch auch schon die Gespräche, die wir geführt haben, lassen erkennen, wie individuell bestimmte Situationen wahrgenommen wurden. In Bräunings Erzählung Der schöne Monat August heißt es: »Aber die Straßen waren leer. In fast allen Häusern fast immer die gleichen Fenster erleuchtet vom gleichen schwächlichen Fernsehlicht, die Straßenbeleuchtung verlor sich, die Stadt wirkte unbewohnt und kulissenhaft«.8 Das Zitat vor sich hinmurmelnd schüttelt Herr Müller mit dem Kopf und sagt:
Ne, dem stimme ich nicht zu. Die Straßen waren nicht leer. Da könnte ich Ihnen Fotos zeigen, wie sehr meine Kinder sich gefreut haben über die Spielplätze, die hier überall waren. Ja, also, nein die Straßen waren nicht leer. Auf vielen Fotos ist erkennbar, was für ein fröhliches Leben dort auch geherrscht hat.
Herr Hoffmann hingegen teilt die Beschreibung Bräunings. Zwei junge Familien mit kleinen Kindern, die mit nur wenigen Jahren Abstand nach Halle-Neustadt gezogen sind: Familie Hoffmann 1966 – Familie Müller 1973. In sieben Jahren kann viel passieren, doch fallen sieben Jahre in einer hundertjährigen Stadtgeschichte wohl nicht so sehr ins Gewicht wie in einer neunjährigen Stadtgeschichte. 1969 schriebt Bräuning in oben erwähnter Erzählung: »Städte ohne Vergangenheit sind wie Menschen ohne Geschichte«.9 Stephan vom Nachbarschaftsfrühstück liest das Zitat vor und sagt: »Das Zitat hier ist auch sehr schön«. Wir fragen ihn, was ihm in den Sinn kommt, wenn er es liest. Stephan erzählt uns:
Ja, also wie gesagt, dass jede Stadt irgendwo ihren Anfang hat, ihre Geschichte und etwas, was daraus geworden ist. Das wissen wir ja alle. Aber selbst Neustadt hat ja irgendwo seine Geschichten, wie es anfing – vom Sumpf, durch die erste Trockenlegung, von der ersten Steinlegung, bis zum heutigen Verkehrsanschluss mit Bussen, später dann den Straßenbahnen und der S-Bahn.
Halle-Neustadt hat dieses Jahr, 2024, 60-jähriges Jubiläum und damit auch eine 60-jährige Vergangenheit. Dies wird besonders eindrücklich, wenn man heute durch Neustadt läuft und sieht, wie grün die Stadt ist. Doch das war natürlich nicht immer so. Hoffmanns berichten:
Hier, die Altstadt, da war da und dort ein Baum und ein Busch und eine Wiese, in Neustadt war gar nichts. Und das war natürlich ein bisschen traurig, aber wenn Sie jetzt durch Neustadt gehen, insbesondere in der wärmeren Jahreszeit, dann stellen Sie erst mal fest, wie weiträumig eigentlich gebaut worden ist, wie viele Höfe da zwischenliegen, zwischen Häusern und wie viel schöne Begrünung vorhanden ist. So, das genießen wir natürlich.
Eine gemeinsame Brücke in die Zukunft
Unsere Gesprächspartner:innen haben uns so viele persönliche Geschichten anvertraut, dass nicht einmal ein Bruchteil hier Platz finden kann. Heidi Hoffmann erzählt uns von einer zu Bruch gegangenen Freundschaft, weil ihre Freundin sich mit den Worten »Ich mag Neustadt nicht. Ich bin da noch nie gewesen und ich komme auch nicht zu euch. Ich mag Neustadt nicht« weigerte, die Familie zu besuchen. Herr Müller berichtet uns, wie sich nach dem Bau des Schulgebäudes in Halle-Neustadt die Eltern zusammengetan haben, um die Fenster der Schule zu putzen. Anna kann sich an eine Erzählung ihrer Mutter erinnern. Diese, damals hochschwanger, wohnte in der 18. Etage eines Hochhauses, als plötzlich aufgrund eines Stromausfalles der Aufzug für längere Zeit nicht benutzt werden konnte. Herr Stein berichtet, dass es bei ihm im Haus immer so gut riechen würde, wenn er morgens durchs Treppenhaus läuft. Stephan hat daraufhin folgende Idee: »Du könntest jeden Tag woanders essen gehen. Das wäre ein internationales Essen im Treppenhaus, voll cool. Heute russisch, morgen italienisch«. In unseren Gesprächen mischen sich Anekdoten über die Vergangenheit mit solchen aus der Gegenwart sowie mit Wünschen und Vorstellungen von der Zukunft.
Zu Beginn unseres Seminars haben wir uns die Frage gestellt, wie ein erneutes Sprechen über Zukunft in der heutigen Zeit möglich ist. Wir haben darauf keine abschließende Antwort gefunden. Aber wir sind mit Menschen ins Gespräch gekommen, die nicht nur über Zukunft sprechen, sondern diese vor allem aktiv mitgestalten: Wir haben Herrn Müller von der Geschichtswerkstatt kennengelernt, der sich ehrenamtlich engagiert, damit die Vergangenheit von Halle-Neustadt nicht vergessen wird; Heidi Hoffmann, die auch heute noch als Fotografin wirkt, um die Gegenwart von Halle-Neustadt festzuhalten; die Beteiligten vom Nachbarschaftsfrühstück, die gemeinsam Aktionen für ihre Nachbarschaft, wie eine jährliche Weihnachtsfeier, gestalten, um somit das Gemeinschaftsgefühl vor Ort zu stärken. Dabei stehen diese Menschen nur repräsentativ für das, was in Halle-Neustadt passiert – es gibt Jugendtreffs, Seniorentreffs, Stadtteilführungen, eine eigene Zeitschrift und vieles mehr. Es sind vor allem Menschen, die mit ihren Visionen von Zukunft ihre Gegenwart gestalten.
Die Gespräche, die wir geführt, und die Veranstaltung im Literaturhaus, die wir geplant haben, sind daher nur ein sehr kleiner Beitrag. Aber vielleicht konnten wir unseren Teil beitragen, um eine Brücke zu bauen; eine Brücke zwischen Halle-Neustadt, der Altstadt und einer gemeinsamen Zukunft. Und weil wir nicht über sondern mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen wollten, überlassen wir die Schlussworte Heidi Hoffmann:
Die Menschen sind es mit, ja. Wir sind alle mit Schuld, wenn die Städte so runtergehen. Und da müssen wir Ursachen finden, wie das kommt und dann müssen wir dagegen angehen. Und wenn da jeder einen kleinen Beitrag leistet, dann ist es schon …
Nach einem mit dem Staatsexamen abgeschlossenen Lehramtsstudium für die Mittelschule mit den Fächern Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Sozialkunde und Kunst an der FAU Erlangen-Nürnberg, verschlug es Verena (geb. 1997) nun an die MLU für das Masterstudium Deutsche Sprache und Literatur. Ihr Interesse gilt vor allem den Digital Humanities, der feministischen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der historischen Sprachwissenschaft. Nebenbei ist Verena als Tutorin für das Masterforum der Germanistik tätig und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft bei einem Projekt zur Recherche der Sprachkenntnisse bei deutsch-baltischen Autor:innen des 19. Jahrhunderts.
Kontakt: verena.schmitt@student.uni-halle.de; verena.j.schmitt@t-online.de
Anmerkungen
1Florence Gaub, Zukunft. Eine Bedienungsanleitung, München 2023, 7.
2Ebd. 8.
3Ebd. 9.
4Ebd. 9.
5Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, 153.
6Hans-Jürgen Steinmann, Zwei Schritte vor dem Glück, Halle–Leipzig 1979, 22.
7Straße in der Nähe des Landesmuseums für Vorgeschichte.
8Werner Bräunig, Der schöne Monat August, in: ders., Gewöhnliche Leute, hg. von Angela Drescher, Berlin 2008, 76.
9Ebd.