Dîn kumber und mîn laster
Die Wechselseitigkeit im Verhältnis der Figuren Parzival und Sigune im »Parzival« von Wolfram von Eschenbach
Literarische Figuren bieten für Leserinnen und Leser Identifikationsmöglichkeiten. Gemäß Gerard Oppermann sind literarische Figuren sogar »unverzichtbare Bausteine, der eigenen Weltsicht«.1 Doch zugleich spricht er auch eine Warnung vor einer übersteigerten Identifikation aus, die bereits von Goethe artikuliert wurde: Es sei ein Irrglaube, »die Poesie in Wirklichkeit verwandeln« zu müssen.2 Einer solchen identifikatorischen Lektüre kann eine analytische Lesehaltung entgegengesetzt werden, die das Augenmerk auf das Handeln der Figuren innerhalb der literarischen Komposition legt.
Die folgende Analyse, die dies versucht, stellt eine Figurenkonstellation aus Parzival von Wolfram von Eschenbach in ihr Zentrum. Die Titelfigur Parzival und seine Cousine Sigune stehen zwar nicht so unzertrennlich nebeneinander, wie es andere Figuren der mittelalterlichen Literatur, wie Siegfried und Kriemhild oder Tristan und Isolde tun; dass Sigune jedoch für Parzival eine besondere Rolle spielt, ist in der Forschung hinreichend angemerkt worden. Die Deutungen zielen dabei stets auf den Einfluss ab, den Sigune auf Parzival und dessen Entwicklungsweg nimmt. Gemäß Bumke »ist die Begegnung mit Sigune ein erster Schritt der Selbsterkenntnis«.3 Diese Position wird auch von Marina Münkler unterstützt, die explizit betont, dass Sigune und Trevrizent als Parzivals Verwandte auf dessen Entwicklung hin zur Gralsherrschaft einwirken.4 Alternativ wird Sigune als trauernde Frau, die sich nach dem Verlust ihres Verlobten Schionatulander in die Einsamkeit zurückgezogen hat, beschrieben.5 Ines Palau stellt zusätzlich heraus, dass die »Sigune-Bilder« stets durch religiöse Bezüge und Reminiszenzen aus der Handlung herausstechen, die »den Rezipienten zu einer Form von Andacht führen« sollen.6 Unerlässlich für die vorliegende Untersuchung ist die Lektüre von Robert Braunagels vergleichenden Betrachtungen zur Sigune Figur im Parzival und im Titurel, da er auf eine textimmanente »Spiegelbildlichkeit« der beiden Figuren hinweist, die eine funktionale Beziehung der Protagonisten andeutet, die von ihm aber nicht weiter ausgeführt wird.7 Die Skizze dieser Forschungspositionen verdeutlicht bereits, dass in den gängigen Deutungen stets auf Sigunes Relevanz für Parzival Bezug genommen wird.
Der vorliegende Aufsatz versucht die bestehenden Deutungsansätze um eine weitere Perspektive zu ergänzen. Dabei steht der Einfluss Parzivals auf Sigune und der Zusammenhang der beiden Figuren im Fokus. Damit wird die These überprüft, dass zwischen den beiden Figuren auch eine gegenseitige Einflussnahme besteht. Grundlegend dafür ist eine strukturalistische Analyse der Figuren. Die Betrachtung der Figuren als Systeme ermöglicht eine gezielte Erarbeitung der Beziehungen der literarischen Charaktere.
Zur Beantwortung der vorgestellten Problematik wird folgendermaßen vorgegangen: Bevor die vier sogenannten Sigune-Szenen, welche die Begegnung von Parzival und seiner Cousine thematisieren, nacheinander untersucht werden, gilt es, einige kurze, theoretische Betrachtungen zum Verhältnis literarischer Figuren sowie den strukturalistischen Ansatz zur Figurenanalyse einzuführen. Ebenso liegt das Augenmerk auf der Interaktion der beiden Figuren, anhand welcher ausgearbeitet werden soll, ob und wie sie einander beeinflussen. Die chronologische und detaillierte Betrachtung des Geschehens in den Sigune-Szenen ermöglicht es, im Laufe der Ausführungen Entwicklungen aufzuzeigen, die sich in der Beziehung zwischen Sigune und Parzival ergeben. In einem abschließenden Fazit gilt es die Frage zu beantworten, inwiefern zwischen Sigune und Parzival eine funktionale Beziehung besteht.
Der strukturalistische Ansatz für literarische Figuren
Eine literarische Figur lässt sich als »fiktive Gestalt in einem dramatischen, narrativen oder auch lyrischen Text (z. B. Rollengedicht, Ballade)« definieren.8 Eder erweitert dieses Begriffsverständnis um die Auffassung, dass Figuren in der Literatur »durch einen fiktionalen Text dargestellte Gestalt[en seien], d[enen] die Fähigkeit zu mentalen Prozessen zugeschrieben« werden.9
Fassbar werden literarische Figuren durch unterschiedliche Theorien und Methoden. Für die hier eingenommene funktionsbezogene Perspektive auf das Verhältnis der Figuren Parzival und Sigune bietet es sich an, auf strukturalistische Begrifflichkeiten zurückzugreifen, um unter anderem fehlendes »narratologisches Beschreibungsinstrumentarium für Figuren in erzählenden Texten« zu überbrücken.10 Mayer erklärt, dass die strukturalistische Literaturtheorie die Funktion einer Figur im literarischen Text untersucht, wodurch Figuren als handelnde Subjekte aufgefasst werden.11 Der strukturalistische Blick auf die Figuren eignet sich somit eher, um zu untersuchen, ob die Figuren Sigune und Parzival wechselseitig aufeinander einwirken, als psychologische Theorien. Grundlegend für das strukturalistische Figurenverständnis ist die Annahme, dass eine Figur als ein System verstanden wird, in dem sich diverse Aspekte und Elemente vereinen, wodurch unterschiedliche Informationen verknüpft werden. Gemäß Mayer ist
[j]ede Figur […] also ein System, dass sich durch Verbindungen von spezifischen Operationen wie Handlungen, Beobachtungen und Beschreibungen anderer Figuren und Äußerungen von anderen Figuren (Systemen) und seiner Umwelt im Text unterscheidet.12
Als handelnde Subjekte sind Figuren zentrale Bestandteile von Erzählungen, die sich zu ihrer (fiktiven) Umwelt verhalten müssen, indem sie sich mit dieser identifizieren oder von ihr abgrenzen. Aus der figuralen Interaktion mit der fiktiven Umwelt ergibt sich die essenzielle Funktion der »Einheits- und Sinnstiftung«.13 Als Aktanten sind Figuren in die erzählte Welt eingeflochten und nehmen Anteil an der narrativen Kohärenz, die Mayer damit anspricht.
Durch die Namensgebung wird das System »abgeschlossen«. Das bedeutet, dass ein Figurenname »als Verbindung der Merkmale« fungiert. Das System erschließt sich mit der fortschreitenden Handlung und der Auseinandersetzung der Figur mit ihrer Umwelt. Dadurch werden Charakterisierungen einer Figur möglich.14 Freilich lässt sich einwenden, dass die moderne strukturalistische Figurentheorie nur bedingt auf einen mittelalterlichen Gegenstand angewandt werden kann. Silvia Reuvekamp betont jedoch, dass
die aktuelle mediävistische Forschung […] ganz deutlich dazu [tendiere], für vormoderne Literatur ein Primat der Handlungsführung gegenüber der Figurendarstellung zu konstatieren und von daher bei ihrer Beschreibung eher an strukturalistische Forschungsparadigmen anzuschließen.15
Damit legitimiert Reuvekamp nicht nur den Gebrauch des strukturalistischen Ansatzes bei der Analyse mittelalterlicher Literatur, sondern stellt zugleich heraus, dass Figuren in mittelalterlichen Texten eher für die Handlung eines Werkes gestaltet sind und weniger durch individuelle Eigenschaften dargestellt werden. So entstehe eine »typenhafte oder gar holzschnittartige« Erscheinungsweise der Figuren.16 Bezogen auf Parzival hat Robert Braunagel ausgearbeitet, dass insbesondere Sigune die Funktion habe, die epische Struktur einzuhalten.17 Er erklärt sie zu einem Knotenpunkt, an dem entscheidende Wendungen für Parzival angestoßen und vollzogen werden.
Armin Schulz konstatiert pointiert, dass mittelalterliche Figuren »in erster Linie als Handlungsträger« erscheinen, um Typen zu repräsentieren.18 Überzeugend argumentiert Reuvekamp, dass die Typenhaftigkeit von Figuren kein ausschließlich mediävistisches Phänomen sei und die Frage nach der Relevanz der Figuren für die Handlung auch in modernen Texten immer neu verhandelt werde, sodass eine klare Abgrenzung mittelalterlicher und moderner Texte diesbezüglich nicht zielführend sei.19 Festzuhalten bleibt, dass die Interaktion der Figuren durch den strukturalistischen Blick systematisch analysiert werden kann.
Um nun herauszuarbeiten, inwiefern Sigune und Parzival einander wechselseitig beeinflussen, ist der strukturalistische Ansatz, nach dem die Figuren als agierende Systeme gesehen werden, durchaus geeignet. Bei den nachfolgenden Untersuchungen gilt es nun stets drei Analysefragen zu beachten, die sich aus den theoretischen Überlegungen ableiten lassen:
1.) Wodurch zeichnen sich die Figuren(systeme) aus?
2.) Wie tragen sie zur Handlungsentwicklung bei?
3.) Wie wirken sie auf die anderen Figuren bzw. Systeme ein?
Formen der Verbundenheit – Die erste Begegnung mit Sigune
Auf der Suche nach dem Artushof hört Parzival das Schluchzen einer Frau. Er folgt dem Geräusch und trifft auf die Person, deren Kummer seine Aufmerksamkeit erregt hat. Dâ brach vrou Sigûne/ ir langen zöpfe brûne/ vor jâmer ûz der swarten (P, 138, 17–19). Er entdeckt eine Frau, die sich in ihrer Trauer die Zöpfe ausreißt und sich über einen Leichnam beugt. Während Parzival diese Szene noch aus der Entfernung beobachtet, erfährt der Leser, dass es sich bei dem Toten um den Fürsten Schionatulander handelt.
Dem Rat seiner Mutter folgend, jeden freundlich zu grüßen, spricht Parzival die Frau an und fragt sie wer gab iu den ritter wunden? (P, 138, 30). Jedoch fragt er nicht nur nach dem Schuldigen, sondern bekundet der Trauernden auch seine Hilfsbereitschaft, indem er bereit ist, den Tod von Schionatulander zu rächen. Parzival will sich, ähnlich wie es Schionatulander tat, in Sigunes Dienst stellen.20 Sigune empfindet Parzivals energische und ungestüme Art als tugent (P, 139, 25). Sie lobt seine Empathie, kündigt ihm proleptisch eine wohlbestellte Zukunft an und erkennt, als er sich mit bon fîz, scher fîz, beâ fîz (P, 140, 6) vorstellt, dass es sich bei ihrem Gegenüber um ihren Cousin Parzival handelt. Ohne zu zögern, offenbart Sigune ihm, dass sein richtiger Name Parzival ist, wie sie miteinander verwandt sind und gibt ihm zugleich einen Einblick in seine und damit zugleich ihre gemeinsame Familiengenealogie. Wie bereits dargestellt, ist der Figurenname aus strukturalistischer Perspektive das verbindende Element aller Merkmale eines Systems. Indem Sigune Parzival seinen Namen nennt, hat sie einen durchaus zentralen Anteil an der ›Schaffung‹ der Figur, zumindest aber an der Identität Parzivals.
Doch die Erzählinstanz betont, dass diese Information nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für die Leserschaft relevant ist (P, 140, 11–14). Sigune ist somit auf zwei Ebenen von Bedeutung. Einerseits übernimmt sie die in der Forschung oft herausgestellte Informationsfunktion für Parzival, wodurch sie zu einer von Schuhmann bezeichneten »Informationsfigur«21 wird. Bisherige Interpretationen haben diese Szene als grundlegendes Moment für die beiden Figuren eingeschätzt, da mit der Offenbarung ihrer Verwandtschaftsverhältnisse die basale Strukturierung des epischen Werkes dargelegt werde.22 Die Relevanz dieser ersten Begegnung wird auch dadurch unterstrichen, dass Wolfram in seinem Roman, im Unterschied zum Conte du Graal von Chrétien de Troyes, Parzival noch vor seiner ersten Ankunft am Artushof auf Sigune treffen lässt.23
Schumann aber betont, dass die Informationsfunktion, die Sigune häufig zugesprochen wird, überschätzt werde, da es nicht ihre Aufgabe sei, »Informationen und Zusammenhänge […] zu explizieren«, sondern diese nur anzudeuten.24 Lediglich dem Moment der Namensnennung und -deutung komme durchaus ein besonderer Stellenwert zu, da Sigune – entgegen ihrem üblichen Muster – vollständige Informationen biete. Damit gehe sie über ihre eigentliche Aufgabe, der Vorbereitung und Andeutung von Informationen, hinaus.
Für Sigune und Parzival ist der Augenblick der ersten Vorstellung ein initialer Moment, in dem weitere interfigurale Entwicklungen verwurzelt sind und angedeutet werden. Andererseits ist aber auch hervorzuheben, dass Sigune nicht nur auf inhaltlicher Ebene damit eine relevante Position für den Protagonisten einnimmt. Wolfram schreibt nu hoert i rechter nennen, daz ir wol müget erkennen (P, 140, 11–12), wodurch Sigune auch für die Leser die Funktion der Informationsvermittlerin übernimmt und herausstellt, wer dirre âventiure hêrre sî (P, 140, 13). Sigune verkörpert im Roman durchweg eine vermittelnde Instanz, die sowohl für Parzival, als auch für die Leserschaft Geschehnisse einordnet und somit ihrer Informationsfunktion nachkommt.
Ihre verwandtschaftliche Beziehung als Cousine und Cousin ermöglicht zudem einen systematischen Blick auf die Figuren im Parzival. Parzivals Mutter Herzeloyde und Sigunes Mutter Schoysiane waren Schwestern. Sie sind Angehörige der Gralsgesesellschaft.25 Sigune wurde von Herzeloyde mit erzogen. Weiterhin erklärt Sigune, wie Parzival durch seine Abstammung ›Anteil‹ an dem Tod von Schionatulander hat. Dirre vürste wart durch dich erslagen/ wand er dîn ie werte/ sine triuwe er nie verschert (P, 141, 2–4). Schionatulander war Ritter im Dienste Parzivals und starb im Zweikampf mit Orilus. Zudem führt Sigune die Vorgeschichte des Liebespaares aus und erklärt ihrem Cousin, dass ein bracken seil (P, 141, 16) ihren Geliebten in den Tod gestoßen habe. Genaueres zu der Vergangenheit der beiden liebenden Figuren lässt sich den Titurel-Fragmenten von Wolfram von Eschenbach entnehmen, die erst nach dem Parzival erschienen.26 So stellt Sigune heraus, dass Schionatulander in ihrer zweier dienste den tôt bejagt hat (P, 141, 17). Parzival und seine Cousine sind nicht nur verwandtschaftlich, sondern auch über das Leben bzw. den Tod von Schionatulander verbunden. Als Figurensysteme gesehen, teilen sie die Verbundenheit mit Schionatulander als gemeinsame Eigenschaft.
Sigune beteuert, dass sie sich nach seiner Liebe verzehrt (vgl. P, 141, 18–19). Der Ausdruck jâmers nôt (P, 141, 18) verdeutlicht die Sehnsucht, mit welcher Sigune um den toten Ritter trauert. Über diese Sehnsucht ist sie in der Gegenwart mit Schionatulander verbunden. Ihre Sehnsucht drückt ein zukunftsgerichtetes Streben aus, welches auf eine Vereinigung der beiden Liebenden ausgerichtet ist. Durch Schionatulanders Tod ist dieses Streben jedoch nicht zu befriedigen, wodurch Sigunes Trauer sie stets im Vergangenen festhält und ihre gegenwärtige Stagnation verursacht. Sie flüchtet sich in eine Liebe im Tod (P, 141, 24). Fuhrmann deutet die Emotionen von Sigune ähnlich: als Klage über die »Unmöglichkeit einer gelebten Minne außerhalb einer transzendenten Sphäre«.27 Überblickt man die weiteren Entwicklungen im Roman deutet sich hier bereits proleptisch das langsame Nachsterben der zurückgezogenen Fürstin an. Nur im Tode kann sie wieder mit Schionatulander vereint sein.
Ergriffen von dem Leid seiner Cousine ruft Parzival: niftel, mir ist leit/ dîn kumber und mîn laster breit. Swenn ich daz mac gerechen/ daz will ich gerne zechen (P, 141, 25–28). In seinem Ausruf zeigt sich nicht nur die Nähe zu Sigune, die er direkt als niftel anspricht, sondern manifestiert sich auch die racheerfüllte Gesinnung, die Parzival bereits zu Beginn der Begegnung offenbarte. Sigune erkennt jedoch Parzivals Kampfeslust und ist bemüht ihn von Gefahren fernzuhalten, indem sî […] in unrehte nâch wies (P, 141, 30). Damit nimmt Sigune bewusst die Rolle einer Beschützerin ein und leistet ihrem Cousin somit ›reale Hilfe‹ während Parzival mit seiner Empathie und seinem Racheangebot, welches er nicht in die Tat umsetzt, Sigune eher emotional beisteht. Diese übernimmt dabei aber auch eine wegweisende Funktion. Sie leitet ihren Cousin nicht auf den Pfad, auf dem er Orilus begegnen könnte, sondern verweist ihn in jene Richtung, die ihn gein den Berteneysen (P, 142, 4) führt. Indem sie dazu beiträgt, dass Parzival an den Artushof gelangt, trägt sie auch erneut zur Lenkung der Handlung bei, wodurch sie im Sinne von Armin Schulz zur Handlungsträgerin wird.28 Sigune ist für Parzival eine zentrale Wegweiserin. Während sie ihm real hilfreiche Hinweise über seine Abstammung, zu seiner Person und für seinen weiteren Weg gibt, steht Parzival seiner Cousine eher auf einer emotionalen Ebene bei. Zugleich deutet sich Sigunes Abwendung vom Weltlichen an, da ihre Sehnsucht nach einer erfüllten Liebe mit Schionatulander sie zum Überirdischen zieht, während Parzival auf seiner Suche nach sich selbst und dem Rittertum weltlichen Idealen nachstrebt. Trotz ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit (Fetahovic spricht vom »geschwätzigen Ritter und der schweigsamen Trauernden«29) bleiben die beiden Figuren über ihre familiäre Beziehung verbunden und sind in der Lage einander zu unterstützen. Die nachfolgenden Untersuchungen werden herausstellen, inwiefern sich dieses Figurenverhältnis in der weiteren Handlung manifestiert und weiterentwickelt.
Das erste Wiedersehen – Parzivals zweite Begegnung mit Sigune
Nach seinem ersten Besuch der auf der Burg Munsalvaesche gelangt Parzival erneut zu Sigune. Alrêrst nu âventiurt es sich (P, 249, 4) – dieser Erzählerkommentar betont die Relevanz von Sigune, da der Protagonist vor der zweiten Begegnung mit ihr steht. Die nachfolgende Begegnung stellt also den Ausgangspunkt eines neuen Handlungsabschnittes dar, wodurch weiterhin an ihre handlungstragende Funktion angeschlossen wird. Da für den Leser noch nicht erkenntlich ist, welche Entwicklung das Geschehen nimmt, wirkt der Erzählerkommentar spannungssteigernd.
Auf seinem Ritt erhôrte der degen ellens rîch/ einer vrouwen stimme jaemerlîch (P, 249, 11–12). Unwissend, dass es sich bei der Person erneut um seine Cousine Sigune handelt, nähert sich Parzival der Stimme und findet dort eine Frau, die auf einer Linde trauernd einen einbalsamierten Leichnam in den Armen hält. Parzivals Dynamik als Reiter wird kontrastiert zu Sigunes Unbeweglichkeit auf dem Baum.30 Wolfram betont, dass Parzival sie trotz der Verwandtschaft nicht erkannte.
Bemerkenswert ist außerdem, dass Wolfram triuwe als Sigunes Alleinstellungsmerkmal hervorhebt. Erneut handelt es sich dabei eher um eine ideelle, beständige Größe während Parzival, der stets durch seine Schönheit (z. B. P, 123, 13–17; P, 146, 5–8) erkannt wird, sich erneut dem Irdischen und Vergänglichen zuordnen lässt. Beide Figuren unterscheiden sich in zwei unterschiedliche Dimensionen, wodurch sie sich von der jeweils anderen abheben. Während Sigune in ihrem Denken und Handeln der transzendenten und emotionalen Dimension zuordbar ist, gehört Parzival einer Irdischen und dem Weltlichen zugeneigten Dimension an. Der Kontrast der beiden Figuren gründet in der Gegensätzlichkeit ihrer figuralen Systeme. Von ihrem Kummer ergriffen, bietet Parzival an, sich in ihren Dienst zu stellen. Bemerkenswert ist dabei Parzivals zunehmende Empathie. Noch immer verkörpert er einen kampfeslustigen Ritter, der bereit ist den Tod Schionatulanders zu rächen. Allerdings nimmt er bei der zweiten Begegnung eher die empathischere Rolle des Trösters ein und bietet Sigune in erster Linie die helfende Hand, als das rächende Schwert, wie er es noch zuvor tat. Auch Sigune erkennt ihren Cousin nicht sofort und fragt verwundert, wie er den Weg in die Einöde zu ihr fand.
Besorgt um das Wohl des jungen Ritters, rät sie ihm den Wald zu verlassen, um sein Leben nicht zu gefährden.31 Unwissentlich wer ihr gegenübersteht, ist Sigune erneut um Parzivals Schutz bemüht, wodurch auch weiterhin ihre Funktion als Beschützerin aufrecht erhalten wird. Als Parzival ihr erklärt, dass er einige Meilen entfernt von dieser Stelle in einer Burg untergekommen ist, glaubt Sigune ihm dies nicht. Zwar weiß sie von einer Burg, die im näheren Umkreis existieren soll, jedoch hält sie es für unwahrscheinlich, dass der Weg des ihr Unbekannten diese Burg kreuzte. Die Burg, die sie kennt, diu ist erden wunsches rîche/ swer die suochet vlîzeclîche/ leider der envint ihr niht/ vil liute manz doch werben siht/ ez muoz unwizzende geschehen/ swer immer sol die burc gesehen (P, 250, 25–30). Bei der Burg auf der Parzival war, handelt es sich um die Gralsburg. In ihrem Monolog drückt Sigune deutlich ihren Unglauben aus, dass er die Burg kennt. Sie berichtet weiterhin von der Geschichte der Burg und ihres Burgherren (Vgl. P, 250, 26 – 251, 24). Damit erfüllt Sigune erneut ihre Informationsfunktion. Sowohl der Leser als auch Parzival erhalten durch sie genauere Einblicke. Darüber hinaus ordnet sie – insbesondere für Parzival – seine Erlebnisse auf der Gralsburg ein, sodass sich ihm erklärt, wo er sich aufhielt.
Dass sie und somit auch Parzival ebenfalls zur Gralsgesellschaft angehören, verschweigt sie ihm, was im Widerspruch zu ihrer Informationsfunktion steht. Fast beiläufig erklärt sie Parzival, was er hätte leisten können, wenn er wirklich auf der Burg gewesen wäre. Si sprach ›hêr, waert ir komen dar/ zuo der jaemerlîchen schar/ sô waere dem wirte worden rât/ vil kumbers den er lange hât (P, 251, 21–24). Da Anfortas und damit die Gralsgesellschaft jedoch nicht von ihrem Leiden erlöst wurden, kann Sigune nicht glauben, dass Parzival wirklich dort gewesen ist, da sie scheinbar davon ausgeht, dass er gewusst habe, wie er sich zu verhalten gehabt hätte. Parzival aber berichtet ihr von den Eindrücken, die er dort gesammelt hat. In diesem Moment erkennt sie ihren Cousin an seiner Stimme und scheint dabei wahrlich aus ihrer Lethargie auszubrechen. Du bist Parzivâl/ nu sage et, saehe du den grâl/ und den wirt vröuden laere?/ lâ hoeren liebiu maere (P, 251, 29 – 252, 2). Freudig über die potenzielle Erlösung der Gralsgesellschaft fasst sie neue Lebenskraft. Sigune strebt auch nach der Erlösung der Gralsgesellschaft und hält Parzival für den neuen Gralskönig und verheißt ihm eine ruhmreiche und glanzvolle Zukunft. Auf Parzivals Nachfragen hin stellt sie sich ihm selbst vor, als diu magt/ diu die ê kumber hât geclagt/ und diu dir sagte dînen namen (P, 252, 11–13).
Zentral ist dabei vor allem Sigunes Klage, dass ihre Trauer ein von Gott auferlegtes Leid ist. Denn durch diese Einschätzung ihres Kummers als göttliche Strafe, lässt sie sich mit Anfortas parallelisieren, dessen Leid sie ebenfalls als Folge des göttlichen Zorns einschätzt. Ihre Freude, als sie glaubt, Anfortas und die Gralsgesellschaft seien erlöst worden, lässt sich damit als Hoffnung verstehen, dass auch sie von ihrem Leid erlöst werden kann. Anfortas stellt somit für Sigune eine Identifikationsfigur dar. Sie ist in der Lage seinen Schmerz nachzuempfinden, da beide Figuren durch missglückte Minneerfahrungen in einen Kummer gestürzt wurden, den sie als von Gott gesandt empfindet (Vgl. P, 251, 20 u. P, 252, 21).
Nun erkennt Parzival seine Base, die er zuvor durch ihre blassen Lippen und den nun den kahlen Kopf nicht erkannte (Vgl. P, 252, 27–30). Er empfiehlt die Bestattung von Schionatulander. Doch Sigune geht nicht weiter darauf ein, sondern beteuert weiterhin, dass sie sich nur Anfortas Heilung wünsche. Dies sei das Einzige, was ihr Freude bereiten könne (Vgl. P, 253, 19–21).
Der Fokus liegt jedoch nicht lange auf der trauernden Fürstin. Sigune verweist Parzival auf sein Schwert und erklärt ihm, dass ihn dieses Schwert in jedem Kampf stets eine starke Waffe sein wird. Die Relevanz dieses scheinbar nebensächlichen und willkürlichen Exkurses wird sich erst im weiteren Handlungsverlauf offenbaren. Sigunes Monolog strotzt vor plötzlicher Lebenskraft, die sie bei der Vorstellung, dass Parzival Gralskönig wird und die saelden crône (P, 254, 24) trägt, neu fasst. Sigune offenbart ihrem Cousin erneut all seine Möglichkeiten, die er durch die ›erlösende Frage‹ genießen könne.
Doch Parzival gesteht, ich hân gevrâget niht (P, 255, 1). Diese nüchterne Antwort lässt Sigunes neu gewonnene Lebenskraft sofort ersterben. Wolfram beschreibt sie als jâmerbaeriu magt (P, 255, 3) und sie selbst verstößt ihn als gunêrter lîp, vervluochet man (P, 255, 13). Sie wirft ihm vor, dass seit seiner Kindheit seine innere Treue von der Falschheit überwuchert werde. Dieser Vorwurf ist insofern interessant, als dass Sigune selbst in Wolframs Werk stets als die vollkommene triuwe bezeichnet wird und dies auch durch ihre ungeminderte Hinwendung zu Schionatulander nach seinem Tod beweist. Indem sie selbst Parzival die Fähigkeit zur Treue abspricht, grenzt sie sich von ihrem Cousin ab, was die Entfremdung der beiden Figuren voneinander zum Ausdruck bringt.
Mit dieser Begegnung erfüllt Sigune nicht nur eine Informationsfunktion für Parzival und die Leserschaft, sondern übernimmt zugleich auch eine kritisierende Rolle. Ohne ihre Kritik wäre Parzival nicht über seine Verfehlung aufgeklärt worden. Parzival will zwar Buße für seinen Fehler leisten und zeigt sich einsichtig, seine erboste Cousine betont jedoch, dass er all sein Ansehen und Ruhm auf Munsalvaesche verloren hat. Sie wendet sich von ihm ab, sodass das Gespräch beendet wird.
Die zweite Begegnung von Sigune und Parzival zeigt einige Parallelen, aber auch Asymmetrien zwischen den beiden Figuren auf. Diese beziehen sich auf ihr Leben, Denken und Handeln. Die eingenommenen Funktionen der Figuren schließen an die erste Begegnung an. Sigune ist für Parzival immer noch eine Informationsfigur und Leitinstanz, während Parzival ihr zunächst ›nur‹ emotional beisteht und Sigune seinen Trost anbietet. Beide Figuren gehen im Streit auseinander, der insbesondere für die Entwicklung Parzivals in der nachfolgenden Handlung relevant ist.
Die Versöhnung – Die dritte Begegnung mit Sigune
Gemäß Braunagel tritt Parzival durch den Streit »nicht nur aus der Gesellschaft aus, sondern auch aus dem Zeitgefüge der erzählten Zeit«.32 Ist der Ausschluss aus der Familie ein zu drastischer Befund, so treffend hebt Braunagel mit dieser Feststellung, die nach der zweiten Begegnung einsetzende Gawan-Handlung ab, die Wolframs Werk neben der Parzival-Handlung komplettiert. Die Erzählinstanz gibt zur Orientierung einen Überblick, was Parzival bisher erlebte. Betont wird dabei insbesondere sein Erfolg bei Turnieren und Kämpfen. Jeden Kampf habe er mit seinem Schwert bestritten, welches ihm stets verlässlich diente. Manchmal jedoch sei das Schwert zersprungen. Doch dank Sigunes Hinweis von ihrer zweiten Begegnung, weiß Parzival, wie er die Klinge stets reparieren kann (Vgl. P, 253, 24–254, 15). Im Rückblick stiftet Sigunes Ratschlag somit nicht nur narrative Kohärenz, sondern lässt sich sogar als lebenswichtiger Hinweis verstehen, durch den Parzival seinen Ruhm in einzelnen Kämpfen mehren konnte. Zudem symbolisiert das Schwert neben Macht und Herrschaft, auch Parzivals Aufnahme und Ausschluss aus der Gralsgesellschaft.33
Weiter wird berichtet, dass Parzival durch einen Wald reitet und dabei auf eine Einsiedlerklause trifft. Sigune befindet sich bei ihrer dritten Begegnung in einer Behausung, wodurch sich die bisherige Raumgestaltung erneut verändert. Den Erzählerkommentaren zufolge fließt ein Bach durch die Klause. Sie ist der Ort, an dem Sigune noch immer mit ihrem toten Geliebten Schionatulander lebt. Die Isolation ist »die letzte Existenzstufe vor dem Tod Sigunes, die sie ausschließlich dem Jenseits widmet, in der sie am Grab ihres Geliebten wacht und betet«.34
Der Bach, der durch die Klause fließt, plätschert gemäß der Übersetzung von Wolfgang Spiewok nur. Deutet man das Wasser als Symbol des Lebens, verdeutlicht die schwache Strömung Sigunes Hinwendung zum Tod und ihre Abkehr von allem Weltlichen. Parzival trifft nun in seiner abenteuerlustigen und energischen Stimmung auf Sigunes Zurückgezogenheit. Sîn wolte got dô ruochen (P, 435, 12): Das dritte Treffen zwischen Parzival und Sigune wird durch diesen Erzählerkommentar als gottgewollt privilegiert. Greift man den weiteren Verlauf der Begegnung vorweg, erscheint das erneute Treffen der beiden wirklich als essenziell, da es zur Versöhnung der beiden Figuren beiträgt. Parzival sieht die Klause, ohne zu ahnen, dass es Sigune ist, die seine Aufmerksamkeit durch ihren Kummer erweckt. Gemäß Wolfram habe Sigune auf alle Freuden der Welt verzichtet (Vgl. P, 435, 28). Darin manifestiert sich Sigunes Entwicklung hin zum Überirdischen, welche aus der Sehnsucht nach der Vereinigung mit ihrem Geliebten Schionatulander resultiert. Ihr frommes und bescheidenes Leben in der Klause verdeutlicht ihr Streben nach dem Nicht-Irdischen. Parzival reitet zum Fenster der Klause, um sich den Weg weisen zu lassen, wobei er Sigune erneut nicht erkennt. Als Sigune erwidert und Parzival realisiert, dass in der Klause eine Frau ist, entfernt er sich aus Anstand vom Fenster, was seine gute höfische Erziehungerkennen lässt,35 wodurch er sich von seinem Früherem Ich unterscheidet.
Er nähert sich nun erneut der Klause und erkennt, dass nur Leid darin war. Auch dabei lassen sich Parallelen zwischen Parzival und Sigune ziehen, die die beiden Figuren symmetrisch erscheinen lassen, da sowohl Sigune als auch Parzival ihr eigenes Leben als peinvoll und freudlos beschreiben (Vgl. P, 440, 1 u. P, 441, 4f). Parzival spricht Sigune an und bittet sie zum Fenster, woraufhin sie sich erhebt, zum Fenster geht und Parzival begrüßt. Sie können zwar kommunizieren, sind aber räumlich voneinander abgeschieden. Folgt man dem Gedanken, dass Parzival dem Irdischen und Sigune dem Tod zugewandt ist, lässt sich die räumliche Trennung auch auf das »reale Leben« der beiden Figuren und ihre unterschiedlichen Systeme abstrahieren, wodurch ihre Differenz markiert wird.
Sigune wird durch Kundrie, eine Zauberin aus der Gralsgesellschaft, versorgt. »Dies geschieht jeden Freitagabend, also am Tag der Kreuzigung und des Todes Christi (»alle samztage naht«, [P], 439,3)«.36 Parzival glaubt Sigune nicht, dass sie wirklich das Leben einer Einsiedlerin führt, da sie auffälligen Schmuck trägt. Warf Sigune Parzival bei ihrer zweiten Begegnung Täuschung vor, so richtet Parzival nun diesen Vorwurf an seine Cousine. Sigune betont, dass der Ring sie begleiten soll, als Zeichen der Ehe mit Schionatulander vor Gott. Da erkennt Parzival Sigune und entfernt seine Kettenhaube, wodurch auch sie ihn erkennt. Bisher war es Sigune, die Parzival zuerst erkannte, nun kehrt sich auch dies um. Ebenso ist es nun Sigune, die Parzival nach seinem Erfolg bei der Gralssuche fragt. Parzival wird jetzt für sie zu einer Informationsfigur, indem er ihr offenbart, welche Qualen der Gral ihm zufügt. Dies kann als eine Bestätigung der Zugehörigkeit zu Gralsgesellschaft gelesen werden.37 Er verkündet damit auch, dass sein Streben auf den Gral gerichtet ist.
Parzival bittet seine Cousine um Verständnis, woraufhin sie ihm die Versöhnung anbietet. Eindringlich betont Parzival nun die Blutsverwandtschaft der beiden und bittet Sigune um Rat. Er bringt sie in die Position einer Beraterfigur, wobei sie Parzivals Vertrauen auf Gott richtet und somit die Verantwortung aus der eigenen Hand legt. Gott soll Parzival zur Gralsburg führen, wo er sein Glück zu finden glaubt. Rückblickend zeigt sich, dass Sigunes Wegweisung ihn auf sein Schicksal aufmerksam machte und ihn auf die Fährte zum Gral führte. Sigunes Relevanz für und Beteiligung an Parzivals Leben zeichnet sich erst jetzt deutlich ab. Schuhmanns Feststellung, dass Sigunes Aufgabe in der proleptischen Andeutung von Informationen, die erst im Verlauf der Handlung vervollkommnet werden, bestehe, bestätigt sich.38
Sigune will Parzival erneut den Weg leiten, damit er Kundrie finden kann, um zur Gralsburg zu gelangen. Aber auch hier kehrt sich nun das Verhältnis der Figuren um. Sigune ist nun die Person, die eine andere Figur – in dem Fall Kundrie – keine entscheidende Frage stellte. Sie kann Parzival nicht den genauen Weg nennen, da sie Kundrie nicht nach ihrem Weg fragte, sowie Parzival Anfortas nicht helfen konnte, da er nicht nach dessen Wohlbefinden fragte. Sigune geht wieder in die Beraterfunktion über, indem sie Parzival rät Kundrie zu folgen. Grundlegend für ihr weiteres Verhältnis ist die Versöhnung der beiden. Zudem fällt aber auf, dass die bisherigen Konstellationen in ihren Begegnungen nun umgekehrt werden und die beiden Figuren ihre Funktionen tauschen und damit ihre eigenen Entwicklungen hin zu ihrem individuellen Ziel markieren. »Parallel zur religiösen Wandlung Sigunes kann man an den Dialogen dieser Szene einen Reifeprozess Parzivals beobachten«.39
Von Liebe, Tod und Gralsherrschaft
Parzival lässt sich zum Ende des Romans von seinem Gefolge zu Sigune führen. Die vierte Begegnung der beiden Figuren ist also kein zufälliges Ereignis, wie die drei anderen Begegnungen zuvor. Es ist das erste Mal, dass Parzival bewusst den Weg zu ihr sucht. Doch bei der Ankunft an der Klause, finden sie Sigune tot in einer Gebetshaltung vor. Diese Haltung verdeutlicht, dass Sigune ihrem Geliebten Schionatulander durch das Geistliche bis in ihren Tod verbunden blieb und ihre unendliche Treue bewies. Membrives geht davon aus, dass Sigune sich zu Tode gehungert habe, um mit Schionatulander im Tode verbunden sein zu können. Der Text schildert jedoch, dass die in Aufregung versetzte Zauberin Kundrie die Versorgung Sigunes schlicht vergaß.40
Um zu Sigune zu gelangen, durchbrechen die Gralsritter die Mauer der Klause. Dieses Eindringen in die Klause steht entgegen der räumlichen Trennung der beiden Figuren bei ihrer dritten Begegnung. Parzival lässt Schionatulanders Sarkophag öffnen, um seine Cousine an der Seite ihres Geliebten zu bestatten. »[K]eine der anwesenden Personen wird mit direkter Rede ausgestattet. Das Schweigen begleitet die Gestalt Sigunes seit der ersten Episode«.41 Parzival vereint in diesem Augenblick eine Fülle an Rollen und Funktionen in sich. Einerseits ist er Sigunes Bestatter; derjenige, der die Liebenden vereint und er bleibt auch weiterhin ihr Cousin. Darüber hinaus lässt sich aber auch die Perspektive einnehmen, dass Parzival Sigunes Erlöser ist. Derjenige, der ihrem sehnlichsten Wunsch, wieder bei Schionatulander zu sein, durch die gemeinsame Bestattung, nachkommt, nachdem er Anfortas durch die ›Mitleidsfrage‹ erlöst hat.
Wolfram betont, sich nicht mit Nebenhandlungen aufhalten zu wollen, als er von Sigunes und Parzivals vierter Begegnung spricht (Vgl. P, 805, 11–16). Da er sich ihren Treffen sehr ausführlich zuwendet, wertet er die Parzival-Sigune-Handlung auf. Dies wird bei drei der vier Sigune-Szenen durch Erzählerkommentare getan. Textimmanent wird also betont, dass die vier Sigune-Szenen nicht am Rande der Handlung stehen, sondern von entscheidender Bedeutung sind. Mit der Bestattung erweist Parzival Sigune die letzte Ehre und kann sich damit für ihre diversen Hilfestellungen erkenntlich zeigen. Mit dem Beginn von Parzivals Gralsherrschaft endet Sigunes Leben.
Parzival ist Gralskönig geworden, Sigune ist ihrem Geliebten nachgestorben. Beide haben vor Gott Gnade gefunden. Für beide spielt auf ihrem Weg zu Gott die vorbildliche Ehe eine entscheidende Rolle; beide werden zur selben Zeit nach langer Trennung mit dem Ehegatten vereint: Parzival im Leben, Sigune im Tod.42
Indem Parzival Anfortas und die Gralsgesellschaft durch die Mitleidsfrage von ihrem Leid befreit, erlöst er auch indirekt Sigune. So ließe sich die Frage stellen, ob Sigune sterben kann, weil Parzival Gralskönig geworden ist. Dass Kundrie Sigunes Essensversorgung vergaß, ist in Anbetracht der restlichen literarischen Komplexität des Werkes eine überraschend simple Todesursache. Jedoch gibt es keine eindeutigen Textbelege, dass mit dem Antritt Parzivals an die Gralsherrschaft, Sigunes Leben beendet wird, auch wenn diese Deutung mit dem religiösen Ideal des Gralskönigs, als Erlöser, durchaus vereinbar wäre. Es ist jedoch auffällig, dass beide Ereignisse zusammenfallen. Es ließe sich argumentieren, dass Kundrie in Aufregung geriet, weil Parzival Gralskönig geworden ist.
Fazit
Inwiefern besteht nun eine funktionale Beziehung zwischen den beiden Figuren Sigune und Parzival? Sigune hat im Parzival eine eindeutigere Rolle für Parzivals Entwicklung als er für die ihre. Parzival ist stets bemüht ihr beizustehen, kann ihr jedoch erst in der letzten Begegnung wirklich helfen. Die Figurensysteme sind teilweise symmetrisch angelegt, was durch Ähnlichkeiten in ihrem Denken, Handeln und Fühlen zum Ausdruck gebracht wird.
Sie bedingen nicht das Schicksal des jeweils anderen, wirken jedoch entscheidend daran mit, wodurch sie als Handlungsträger agieren. Die hier eingenommene Perspektive stellt Sigunes Funktionen für Parzival differenzierter dar, als dies in diversen bisherigen Interpretationen geleistet wurde. Sie ist nicht nur eine Informationsfigur oder eine Leitinstanz, seine Wegweiserin, sondern erfüllt darüber hinaus auch die Funktion einer Beschützerin und Beraterin.
Parzivals Einfluss auf Sigune ist weitaus aktiver gezeichnet, indem er nicht nur als emotionaler Beistand gesehen werden kann, sondern ähnlich wie Sigune für ihn, zu einer Informationsinstanz wird und damit zu ihrem Erlöser. Abschließend lässt sich konstatieren, dass das Verhältnis der beiden Figuren durch eine gegenseitige Einflussnahme gekennzeichnet ist, gleichwohl diese hingegen nicht exakt ausbalanciert ist.
Carola (geb. 2000) studiert Gymnasiallehramt für die Fächer Deutsch und Geschichte. Ihre wissenschaftlichen Interessen sind dabei die Gegenwartsliteratur, die Literatur des Mittelalters sowie das Zusammenspiel von Religion und Literatur. Nebenbei arbeitet Carola als wissenschaftliche Hilfskraft am germanistischen Institut und übernimmt Tutorien in der germanistischen Literaturwissenschaft und Altgermanistik.
Kontakt: carola.wellmann@student.uni-halle.de
Anmerkungen
1Hans-Herbert Wintgens, Gerard Oppermann (Hg.), Literarische Figuren: Spiegelungen des Lebens, Hildesheim 2007, 5f.
2Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 13. Buch, zit. nach Wintgens/Oppermann: Literarische Figuren, 7.
3Wolfram Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/ Weimar 2004, 58.
4Vgl. Marina Münkler, Buße und Bußhilfe Modelle von Askese in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: Deutsche Viertelsjahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 84 (2010), 131.
5Vgl. Eva Parra Membrives, Alternative Frauenfiguren in Wolframs »Parzival«: Zur Bestimmung des Höfischen anhand differenzierter Verhaltensmuster, in: German Studies Review, 25 (2002)1, 49.
6Ines Palau, Bild-Macht-Gender. Blicke, Bilder und Geschlechterrollen in der höfischen Epik, Berlin 2022, 520.
7Vgl. Robert Braunagel, Wolframs Sigune. Eine vergleichende Betrachtung der Sigune-Figur und ihrer Ausarbeitung im »Parzival« und »Titurel« des Wolfram von Eschenbach, Göppingen 1999, 25.
8Elke Platz-Waury, [Art.] Figur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 1 (2007), 587.
9Vgl. Jens Eder, [Art.] Figur, in: Metzler Lexikon Literatur, 2007, 238.
10Michael Mayer, Das System literarische Figur, in: Brigitte Kaute u. a. (Hg.), Begegnungen. Das VIII. Nordisch-Baltische Germanistentreffen in Sigtuna vom 11. bis zum 13.6.2009, Acta Universitatis Stockholmiensis – Stockholmer Germanistische Forschungen 74, Stockholm 2011, 451.
11Vgl. ebd.
12Ebd. 455.
13Ebd. 456.
14Ebd. 461.
15Silvia Reuvekamp, Hölzerne Bilder – mentale Modelle? Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie, in: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research, 3 (2014)2, 114.
16Reuvekamp, Hölzerne Bilder – mentale Modelle?, 114.
17Braunagel, Wolframs Sigune, 24.
18Schulz zit. nach Reuvekamp, Hölzerne Bilder – mentale Modelle?, 114f.
19Vgl. Reuvekamp, Hölzerne Bilder – mentale Modelle?, 115. Die gesamte Diskussion über mittelalterliche und moderne Figurenkonzepte soll und kann hier nicht abgebildet werden. Zentralist es, die Anwendbarkeit der strukturalistischen Figurenkonzepte zu bestätigen.
20Vgl. Uta Drecoll, Tod in der Liebe – Liebe im Tod. Untersuchungen zu Wolframs Titurel und Gottfrieds Tristan in Wort und Bild, Frankfurt a. M. u. a. 2000, 283.
21Martin Schuhmann, Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel, Heidelberg 2008, 129.
22Vgl. Braunagel, Wolframs Sigune, 24.
23Vgl. Daniela Fuhrmann, Ein eigennütziger houptman der wâren zuht? Die Ambivalenz der Ratgeber-Figuren in Wolframs ›Parzival‹, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 140 (2018)4, 480.
24Schuhmann, Reden und Erzählen, 133.
25In Wolframs Parzival ist die Gralsgesellschaft das Gegenstück zur höfischen Artusgesellschaft. Diese beiden Pole sind für die Einordnung der Figuren im Parzival systematisch geeignet. Parzival strebt danach ein Mitglied des Artushofes zu werden. Letztlich wird er aber Gralskönig, was darauf verweist, dass seine Eltern – Gahmuret und Herzeloyde – beide Gesellschaften in ihm vereinen. Ein weiterer Vergleich der beiden Gesellschaften kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zur grundlegenden Strukturierung des Figurenpersonals im Parzival vgl.: Elke Brüggen, Irisierendes Erzählen. Zur Figurendarstellung in Wolframs ›Parzival‹, in: Klaus Ridder, Susanne Köbele u. Eckart C. Lutz (Hg.), Wolfram Studien XXII. Berlin 2014, 333–358.; Vgl. auch: Schuhmann, Reden und Erzählen.
26Da sich in dem vorliegenden Aufsatz auf das Verhältnis der Sigune und Parzivals im Parzival konzentriert werden soll, bleiben weitere Analysen der Titurel-Fragmente aus. Lohnenswert für die Beschäftigung und vergleichende Auseinandersetzung sind die Ausführungen bei Schuhmann, Reden und Erzählen.
27Fuhrmann, Ein eigennütziger houptman der wâren zuht?, 472, FN. 35.
28Vgl. Fuhrmann, Ein eigennütziger houptman der wâren zuht?, 481. Nicht unerwähnt soll hier die Position John Matthews bleiben, der herausstellt, dass die Ritter in anderen Artusromanen von Camelot aus auf aventiure ziehen. Dieser Logik folgend lässt sich Parzival durch seine ›falsche Wegweisung‹ in eine literarische Tradition einreihen.; Vgl. John Matthews, Der Gral. Die Suche nach dem Ewigen, Frankfurt a. M. 1981, 88.
29Denisa Fetahovic, Die Metamorphosen der Sigune. Eine Untersuchung am Beispiel des Titurel und des Parzival Wolframs von Eschenbach, Diss. o. O. o. J. URL: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjmnJGsh9eBAxXUn
f0HHcoJC70QFnoECBAQAQ&url=https%3A%2F%2Fsigarra.up.pt%2Ffep%2Fen%2Fb_geral.show_file%3Fpi_doc_d%3D32426&usg=AOvVaw2-trJCQv6fPCKuvx0c_T6n&opi=89978449 [30.09.2023], 54.
30Vgl. Drecoll, Tod in der Liebe, 282, 285. Drecoll weist auch darauf hin, dass in den Titurel-Fragmenten eine Herrschaft über ein nicht-materielles Reich angestrebt werde, dessen Herrscher Schionatulander sei. Sigunes Abkehr vom Weltlichen erhält damit eine höhere Deutungsdimension.
31Auffällig sind auch die Ähnlichkeiten im Verlauf der einzelnen Sigune-Szenen. Verschiedene >schematische Darstellungen dazu finden sich bei Braunagel, Wolframs Sigune.
32Braunagel, Wolframs Sigune, 23.
33Vgl. Drecoll, Tod in der Liebe, 133.
34Fetahovic, Die Metamorphosen der Sigune, 47.
35Diese erfuhr er durch Gurnemanz und Trevrizent.
36Fetahovic, Die Metamorphosen der Sigune, 47.
37Vgl. Schuhmann, Reden und Erzählen, 131.
38Vgl. Schuhmann, Reden und Erzählen; S. 8 des vorliegenden Aufsatzes.
39Fetahovic, Die Metamorphosen der Sigune, 51.
40Vgl. Membrives, Alternative Frauenfiguren, 49.
41Fetahovic, Die Metamorphosen der Sigune, 54.
42Bumke, Wolfram von Eschenbach, 125.