Ein Blog für literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Beiträge der MLU Halle

Queering Hoffmann – Ilya Wichert

Queering Hoffmann
Über den homoromantischen Subtext in E.T.A. Hoffmanns »Der Artushof«


[A]us dem Gesichte des holden Jünglings strahlte ihm [Traugott] eine ganze Welt süßer Ahnungen entgegen.1


So beschreibt die Erzählinstanz aus E.T.A. Hoffmanns Der Artushof den Anblick des namenlosen Jünglings. Eine männliche Figur, die in einer anderen männlichen Figur »süße Ahnungen« auslöst, mag aus heutiger Sicht nichts Unnatürliches sein, jedoch wurde Hoffmanns Erzählung bereits im Jahr 1816 veröffentlicht. Zu dieser Zeit waren queere Identitäten wie Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit gesellschaftlich keineswegs integriert und doch wurde ein Text mit aus heutiger Sicht eindeutig queerem Subtext herausgegeben. Im Verlauf des vorliegenden Aufsatzes wird die kurze jedoch tiefe Verbindung zwischen Traugott und dem Jüngling, welcher sich zu späterem Zeitpunkt als Felizitas in jungenhafter Kleidung herausstellt, untersucht. Für meine Analyse ist dabei die Unterscheidung von ›Sexualität‹ und ›Romantik‹, die heutzutage innerhalb der queeren Subkultur gängig ist, zentral. Da diese in anderen Teilen der Gesellschaft noch wenig bekannt ist, gilt es zunächst den Begriff ›Homoromantik‹ zu klären. Daraufhin wird auf den meist im ›komischen‹ Register thematisierten Akt des Crossdressings eingegangen, welcher es im 18. Jahrhundert überhaupt ermöglichte, Texte mit homoerotischem oder homoromantischem Subtext zu verfassen, da das Beschriebene aus Sicht des Lesers so letztlich doch eine heteronormative Romanze blieb, es also keinen Grund für homophobe Kritik am jeweiligen Text gab.

Im Zentrum der Untersuchung der Erzählung von E.T.A. Hoffmann gilt es aufzuzeigen, welche Inhalte der Erzählung einen homoromantischen Subtext aufweisen, wobei der Frage nachgegangen werden soll, inwiefern die Beziehung zwischen Traugott und dem Jüngling als homoromantisch betrachtet werden kann. Den Schluss bildet ein Ausblick auf das queering des Kanon und dessen Relevanz für die LGBTQIA+-Community.

Homoromantik und die Methodik der Queer Studies

Im Folgenden sollen die Fremdwortteile des Titels erklärt werden. Die romantische Orientierung ›homoromantisch‹2 ist ähnlich zu verstehen wie das Wort ›Homosexualität‹, welches sich allerdings auf die sexuelle Orientierung bezieht. Eine homoromantische Person fühlt sich zu Personen des gleichen Geschlechts auf emotionaler Ebene hingezogen, wobei es vorkommen kann, dass die sexuelle Orientierung von der romantischen abweicht, wie es beispielsweise bei der Asexualität der Fall ist, bei der wenig bis gar kein Interesse an sexuellen Beziehungen besteht, was nicht bedeutet, dass asexuelle Personen keine romantischen Gefühle empfinden oder keine Bindungen aufbauen können.

Die Germanistin Barbara Becker-Cantarino beschäftigt sich in ihrem Buch zur Genderforschung3 mit Johann Ludwig Gleims sogenannte Freundschaftstexten, darunter unter anderem mit der im Jahr 1768 erschienenen Publikation Briefe von den Herren Gleim und Jacobi.4 Becker-Cantarino beschreibt darin den Tenor der Texte als »erotisch-emotional«,5 was sich aus heutigem Stand der Queer-Studies durchaus als Paradigma für die homoromantische Orientierung einordnen lässt. In den Texten des Briefromans kommen häufig Grußformeln wie »[i]ch umarme, drücke, küsse Sie, bester Freund, ewig« vor.6 Auch weitere Inhalte dieser Briefe weisen einen liebevollen Umgangston auf, der Vergleiche mit heterosexuellen Beziehungen anstellt, wie etwa:


Gelesen, empfunden, gepriesen […]; und dann geküsset, wie ein Liebhaber in der süssesten Entzückung seiner Liebe sein Mädchen küsset.7


Zwar ergibt sich nun Diskussionsbedarf, ob diese »süß[e] Entzückung« auch als Ausdruck von sexuellem Verlangen angesehen werden kann, jedoch schließen sich die sexuelle und romantische Orientierung nicht aus. Wieso dieser Text sich also explizit mit der Homoromantik auseinandersetzt, ist nicht, um zu behaupten, dass es zwischen den Figuren der hier erwähnten Erzählungen keine erotischen Spannungen gäbe, vielmehr aber die Emotionen dieser in den Fokus gestellt werden.

Ein gutes Beispiel für die Differenz zwischen Sexualität und Romantik wird vom Literaturwissenschaftler Edward T. Potter in Marriage, Gender, and Desire aufgegriffen.8 Im Kapitel Sickness Masks Desire in Quinstorps Komödie Der Hypchondrist greift Potter die Geschichte von Ernst Gotthard auf, welcher zunächst aufgrund seiner Homosexualität keine Frau heiraten möchte. Jedoch verliebt Ernst sich zum Ende des Stückes in die Jungfer Fröhlichin und will sie sogar zur Frau nehmen. Der Protagonist lernt während seiner Zeit an der Universität, welche zur damaligen Zeit ein homosoziales Umfeld war, sein Verlangen zum gleichen Geschlecht kennen und verspürt nun das Verlangen, ausschließlich mit einem Mann an seiner Seite zu leben. Doch wird ihm später klar, dass er neben der homoerotischen Neigung auch dazu fähig ist, eine Frau romantisch zu lieben.9

Bei der dekonstruktivistischen Methode in Queering the Canon vom Philosophen Christoph Lorey und dem Linguisten John Plews werden Texte auf Spuren von queeren Subtexten untersucht und analysiert.10 Es handelt sich also um eine Re-Lektüre, welche sich besonders auf gewisse Unstimmigkeiten oder bisher konservative Zuordnungen oder Bezüge ›zwischen den Zeilen‹ konzentriert.

Ein Beispiel dafür ist der folgende Ausschnitt aus E.T.A. Hoffmanns Der Artushof:


[U]nd die Laster, gar wunderschöne Frauen […], traten recht verführerisch hervor und wollten dich verlocken mit süßem Gelispel. Du wandtest den Blick lieber auf den schmalen Streif […] auf dem sehr anmutig lange Züge buntgekleideter Miliz […] abgebildet sind. (A, 43)


Von einem männlichen Adressaten ausgehend weicht die Textstelle von heteronormativen Verlangen ab, da die angesprochene Person sich lieber die aus anderen Männern bestehende Miliz anstatt der Frauen – oder der »Laster« – ansieht.

Aus Sicht der Queer-Studies konstituiert Der Artushof das queering der Figuren durch Crossdressing und bringt es in einen homoromantischen Kontext. Anhand von G. E. Lessings Komödie Der Misogyne erörtert Potter die Funktion des Crossdressing in der Literatur des 18. Jahrhunderts.11 Allgemein hatte das Verkleidungsspiel für Frauen mehrere nützliche Aspekte, wie die Möglichkeit zu verreisen, ohne belästigt zu werden, Arbeit in männerdominierten Branchen zu finden oder um im Verborgenen sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen zu pflegen.12 Potter zeigt auf, dass damals wie heute das Geschlecht nicht mehr als ein gesellschaftliches Konstrukt ist mit der Begründung, dass die Hauptfigur der Komödie die durch ihre männliche Verkleidung gewonnene ›Macht‹ in der Gesellschaft verliert, nachdem das Verkleidungsspiel ein Ende nimmt.13 Ganz ähnlich verhält es sich in Der Artushof: Traugott, welcher den Jüngling als Freund, wenn nicht potenziellen Liebhaber betrachtet, denkt ab dem Moment, in welchem er Felizitas zum ersten Mal leibhaftig sieht, nicht mehr an ihn (A, 65).

Im Text folgt ab dem Zeitpunkt nur noch Traugotts fast wahnhafte Jagd nach der Frau. Dass Felizitas den Helden »halb wahnsinnig vor Lust« (A, 65) macht, hängt unter anderem mit dem Narrativ der Frau als Wesen mit »übermächtig destruktivem Potenzial«14 zur Zeit der Romantik zusammen und kommt so auch in mehreren von Hoffmanns Erzählungen vor.

Kunst als Allegorie für die Homoromantik

In den nächsten Abschnitten wird auf die Erzählung selbst eingegangen und der queere Subtext darin näher beleuchtet. Dabei soll sich mit Traugotts Innerem, nicht nur in Bezug auf den Jüngling, sondern auch auf die Kunst, beschäftigt werden. In einer Re-Lektüre kommen Phrasen und Aspekte über Traugotts auferstandene Leidenschaft zur Kunst auf, welche als die Suche nach sexueller Orientierung queerer Personen gelesen werden können. Mit Kunst ist hierbei nicht nur Malerei, Dichtung oder Handwerk gemeint, sondern auch eine Form der Selbstdarstellung. In der Interpretation dieses Aufsatzes jedoch ist Kunst als Traugotts homoromantische Neigung zu lesen, wie er zu ihr steht und wie er mit ihr umgeht. Doch vorerst wird die Erscheinung des Jünglings sowie das Treffen beider Figuren beleuchtet.

Obwohl nicht gänzlich klar ist, wie der alte Maler Berklinger die mehrere hundert Jahre alten Figuren im Artushof gemalt haben soll, ist es unzweifelhaft, dass zwei der Figuren im Gemälde das Ebenbild von ihm und dem Jüngling darstellen, da Traugott die beiden erkannt hat (A, 45) und dazu später die Bestätigung des Malers selbst erhält (A, 58). Die Erzählinstanz spricht folgendermaßen von den gemalten Doppelgängern:


[K]onntest du nicht umhin […] mit Tinte und Feder jenen prächtigen Bürgermeister mit seinem wunderschönen Pagen abzukonterfeien. (A, 44)


Und auch Traugott, der schon mehrfach vor dem Gemälde stand, beschreibt den Jüngling als eine Schönheit, indem er Vergleiche zum anderen Geschlecht zieht:


[D]essen Zügel ein wundersamer Jüngling führte, der in seiner Lockenfülle und zierlicher bunter Tracht beinahe weiblich anzusehen war. (A, 45)


Interessant daran ist, dass es für die Erzählinstanz nicht nötig ist, den Vergleich zum Weiblichen zu ziehen, um den Jüngling als subjektiv »wunderschön« zu beschreiben. Für Traugott allerdings scheint es wichtig zu sein, den Jüngling mit dem »heiratbaren« Geschlecht zu vergleichen, möglicherweise um seine Gefühle für einen Mann zu verarbeiten. Die Erzählung fährt fort mit:


[A]us dem Gesichte des holden Jünglings strahlte ihm eine ganze Welt süßer Ahnungen entgegen. (A, 45, 8–9)


Und auch hier kann man behaupten, dass »eine ganze Welt« eine vergleichbare Größe zur Ewigkeit bzw. zur Bindung bis zum Tod ist.

Nachdem Traugott den Pagen und den Bürgermeister zeichnet, kommen sein Arbeitgeber und bis dato zukünftiger Schwiegervater Elias Roos sowie Professor physices und dessen Neffe zu ihm. Als die Männer infolge einer geteilten Mahlzeit planen, spazieren zu gehen, möchte Traugott sich der Gesellschaft entziehen. Er spürt, wie sich in seinem Inneren »viel Verwunderliches [regt]« (A, 50), doch entgehen kann er der Gesellschaft am Ende nicht. Durch die Wortwahl von »verwunderlich« entsteht der Eindruck, es handle es sich um ein überraschendes Ereignis. Dabei ist es jedoch schwer vorstellbar, dass das Interesse am Zeichnen überraschend ist, wenn man bedenkt, dass Traugott an diesem Tag nicht zum ersten Mal gezeichnet hat. Nur wenig später in der Erzählung »[holt er] alles hervor, was er je gezeichnet [hat]« (A, 54), worunter sich auch eine ältere Zeichnung von selbigem Pagen und Bürgermeister befindet. Die beiden Figuren sind keine Neuerung in Traugotts Leben, genauso wenig wie das Zeichnen. Was allerdings dieses Mal anders ist und diese »verwunderlichen Regungen« ausgelöst haben könnte, ist, dass Traugott an diesem Tag den Jüngling leibhaftig vor sich sehen konnte, »denn mit Blitzes Gewalt hatte ihn die seltsame Erscheinung der Fremden durchzuckt, und es war ihm, als wisse er nun alles deutlich« (A, 50). Die frühe Auseinandersetzung Traugotts mit seiner Regung für den Jüngling und die Klarheit, die ihm diese verschafft, können Grund dafür sein, dass er für den restlichen Verlauf der Erzählung nicht ein einziges Mal anzweifelt, ob seine Liebe zum Jüngling echt ist. Damit ist gemeint, dass Traugott seine Gefühle als nichts ›Falsches‹ empfindet, wie es im homophoben Diskurs der Zeit erwartbar wäre. Des Weiteren ist diese ›Klarheit‹ in Bezug auf die Liebe zum Mann ein offensichtlicher Gegensatz zu dem ›wahnsinnig machenden Frauenbild‹ in Hoffmanns Erzählungen. Auf besagtem Spaziergang unterhält Traugott sich mit dem Neffen, welcher seinen Neid zu Traugotts künstlerischem Talent zum Ausdruck bringt (A, 51). Auch er würde gern zeichnen, doch es wird deutlich, dass er sich mit seiner Rolle in der Gesellschaft und seinen Verpflichtungen zum Geschäft abgefunden hat. Es ist auch zu heutiger Zeit nicht unüblich für Menschen, sich ihrer Neigung zum eigenen Geschlecht zu entziehen und heteronormativen gesellschaftlichen Erwartungen unterzuordnen. Der Ausdruck »Neigung« kommt auch im Zusammenhang mit der Kunst in Der Artushof vor:


[S]obald man wahres Genie, wahre Neigung zur Kunst verspüre, solle man kein anderes Geschäft kennen. (A, 51)


Im Zusammenhang mit dem Homoromantischen ließe sich dies als Appell verstehen, man solle sich auf seine Neigung einlassen und mit dieser leben. Das weist der Neffe allerdings zurück. So behauptet er, die Kunst als Hauptprofession sei »entgegen der Natur der Sache« (A, 52) und beschreibt, was seiner Meinung nach im Leben erstrebenswert sei, folgendermaßen:


[K]eine Schulden, sondern viel Geld haben, gut Essen und Trinken, eine schöne Frau und auch wohlartige Kinder. (A, 53)


Das Thema Familie wird auch in heutigen Tagen zur Unterdrückung Angehöriger der queeren Community genutzt, da die meisten gleichgeschlechtlichen Paare keine Kinder auf natürlichem Weg bekommen können. Und auch Traugott findet keinen Gefallen an dieser Beschreibung des ›guten Lebens‹, denn ihm »schnürte das die Brust zu« (A, 53). Traugott fühlt sich in seiner jetzigen Situation gefangen. So fragt er sich, was ihn davon abhalte, sich von seiner verhassten Lebenssituation loszusagen (A, 54). Es entstehen die Fronten von Arbeit und Kunst, aber auch die zwischen einer heteronormativen Ehe mit Elias Roos’ Tochter Christine und eine »ganze Welt süßer Ahnungen« (A, 45) mit dem Jüngling, zwischen denen Traugott sich entscheiden muss.

Zunächst verbringt Traugott weiterhin einen Großteil seiner Zeit mit der Arbeit, besucht Berklinger und den Jüngling allerdings jeden Tag und setzt sich mit der Kunst auseinander. Schlussendlich ist Traugott so unglücklich bei Elias Roos, dass er seiner Arbeit kaum noch nachgeht (A, 63).

Auch Elias Roos bemerkt schließlich, dass Traugott sich weder für die Arbeit noch für seine Tochter interessiert, und als er den Grund dafür auch nicht herausfinden kann, sagt er:


Das ist ein absonderlicher Homo der Traugott, aber man muss ihn gehen lassen nach seiner Weise. (A, 53)


Das Präfix »Homo« hat natürlich mehrere Bedeutungen, die im Kontext der Zeit differenziert gelesen werden müssen. Anzumerken ist jedoch, dass Elias damit fortfährt, dass er Traugott längst entlassen hätte, hätte dieser sein Geld nicht bei Roos investiert. Normalerweise erwartet man von der Figur des Schwiegervaters, dass dieser aufgrund seiner Tochter Gnade über den missratenen Schwiegersohn walten lässt, nicht wegen der Geschäfte. Eventuell ist dem Geschäftsmann tatsächlich Traugotts Desinteresse an seiner Tochter aufgefallen und interpretiert dieses nun als Zeichen der gleichgeschlechtlichen Gesinnung des jungen Kaufherrn. Nach diesem Ansatz wäre es sinnvoll, wenn Roos »Homo« tatsächlich als queeren Marker meint. Letzten Endes scheint es, als würde keine der an der Hochzeit beteiligten Parteien großes Interesse an der Vermählung haben. Auch Christine verabschiedet sich von ihrem ehemaligen Verlobten mit den Worten:


Sie gefallen mir so nicht sonderlich seit einiger Zeit, und gewisse Leute werden es ganz anders zu schätzen wissen, wenn sie mich […] heimführen können als Braut! – Adieu!« (A, 63)


Traugott selbst beschreibt die Heirat als »de[n] traurige[n] Abschied von allen schönen Hoffnungen und Träumen« (A, 56), was für einen Mann, welcher romantische Gefühle für einen anderen Mann hegt, durchaus plausibel wäre.

Betrachtet man also den Begriff der Kunst als Decknamen für eine homoromantische Orientierung, ändert sich zwar die Bedeutung einzelner Passagen, aber der Verlauf der Geschichte verliert dennoch nicht seinen Sinn. Sei es die Malerei oder die Selbsterkenntnis seiner romantischen Neigung, die ihn dazu veranlasst, den Artushof, also die Börse, zu verlassen, um sein Glück zu finden, ist der Grund relativ. Traugott wählt die Erkundung seiner unerforschten »Regungen« und kehrt der (traditionellen) Heirat sowie der verhassten Arbeit den Rücken.

Traugotts Partnerwahl

Die Erscheinung des Jünglings wurde bereits erläutert, doch Traugotts Gefühle für ihn gehen noch über die subjektive Schönheit dessen hinaus. Es kann behauptet werden, dass es für Traugott Liebe auf den ersten Blick war, denn in dem Moment im Hof, in welchem die Figuren des Bürgermeisters und seines Pagen hinter ihm auftauchen, heißt es:


[U]nd neben [dem düsteren Mann] stand der zarte, wunderschöne Jüngling und lächelte ihn an wie mit unbeschreiblicher Liebe. (A, 45)


Als Traugott dann zum ersten Mal im Hause Berklinger erscheint und nach seinem Streit mit dem Maler vom Jüngling in ein Nebenzimmer geführt wird, sieht er zum ersten Mal das Gemälde von Felizitas. Bei erster Betrachtung fällt ihm auf, dass die Dame im Gesicht ganz genauso aussieht wie der Jüngling (A, 61). In dieser Formulierung wird Felizitas aktiv mit dem Jüngling verglichen, wobei sich im späteren Verlauf die Dynamik ändert, da dann der Jüngling mit Felizitas verglichen wird:


Traugott empfand [die durch Berklinger geschaffene Distanz zum Jüngling] umso schmerzlicher, als er den Jüngling seiner auffallenden Ähnlichkeit mit Felizitas halber aus voller Seele liebte. (A, 64)


Es erscheint nicht nachvollziehbar, dass ein Mensch einen anderen nur aufgrund des Gesichtes »aus voller Seele« lieben kann. Allerdings könnte die neue »Regung« Traugotts leichter zu rechtfertigen sein, indem er einen Vergleich zu einer Frau herstellt und somit heteronormative Muster bedient. Eventuell hat auch das Gespräch mit dem Neffen dazu geführt, dass Traugott sich seiner nicht bewusst werden will oder sich sogar für diese Gefühle schämt. Schließlich wurde ihm sein Vorhaben, sein Leben der Neigung zur Kunst zu widmen, direkt abgesprochen. So oder so sieht Traugott Felizitas sofort als »die Geliebte [seiner] Seele« (A, 62) an. Und mit ihrem Auftritt tritt auch die Wichtigkeit der Differenzierung zwischen romantischer und sexueller Orientierung hervor: Trotz der Liebe zum Jüngling wird die Lust nur im Kontext mit der Frau erwähnt. Man kann auch behaupten, dass Traugotts sonst zurückhaltendes Wesen sich in Felizitas’ Umgebung in Wahn verändert wie in jenem Moment, in welchem er ihr Gemälde sieht: »Da rief Traugott wie von wahnsinniger Lust ergriffen« (A, 62).

So entstehen also die Oppositionen zwischen dem Jüngling und Felizitas, (Homo-) Romantik und Lust sowie Klarheit und Wahnsinn. Am Ende entscheidet Traugott sich für die wahnsinnige Lust und sobald Traugott die Frau vor sich stehen sieht, denkt er nicht mehr an den Jüngling. Er erfährt erst im späteren Verlauf, dass der Jüngling und Felizitas dieselbe Person sind, weshalb die fehlenden Gedanken an den Jüngling nicht mit diesem Wissen erklärt werden können (A, 68).

Es erscheint sogar, als würde er selbst nicht die Oberhand über seine getroffene Wahl haben. So heißt es:


Traugott hätte nun in der Kunst ein wahres Sonnenleben geführt, wenn die glühende Liebe zur schönen Felizitas, die er oft in wunderbaren Träumen sah, ihm nicht die Brust zerrissen hätte. (A, 64)


Von dem Standpunkt ausgehend, der bis jetzt erörtert wurde, kann also behauptet werden, dass auch der Erzähler die Position einnimmt, Traugotts Leidenschaft der Frau gegenüber sei sein Untergang. Wie wir wissen, verschwindet Felizitas mit ihrem Vater, nachdem Traugott sie sah, auf das Landgut Sorrent. Traugott, der dabei an die Ortschaft in Italien denkt, verlässt das Land, um sie zu finden. Dieses Missverständnis führt dazu, dass der Held in dieser Erzählung nicht die Frau seiner Wahl bekommt, denn in der Zeit seiner einjährigen Reise trifft Felizitas einen anderen Mann, den sie heiratet. Doch auch Traugott findet am Ende eine Ehefrau, nämlich Dorina, deren Relevanz für die Analyse im Folgenden kurz dargelegt werden soll.

In der Zeit seiner Italienreise schafft es Dorina, Traugotts Suche nach Felizitas zu beeinflussen, wobei besonders nennenswert ist, dass sie »die Züge der Felizitas« (A, 71) hat, was demnach auch mit der Ähnlichkeit zum Jüngling gleichzusetzen ist. Das ist auch der Grund, wieso ein Freund von Traugott ihn zu ihr führte. Doch nicht allein das Aussehen der jungen Frau verbindet sie mit Felizitas; auch Dorina ist die Tochter eines alten und verarmten Malers. Durch ein Missverständnis kommt Traugott in die Obhut von Dorinas Familie, wodurch sich mehrere Parallelen zum vorherigen Verlauf der Geschichte ergeben. So will Traugott von Dorinas Vater das Malen erlernen, wie er von Felizitas’ Vater Berklinger unterrichtet wurde, und entwickelt nebenbei eine tiefere Beziehung zu Dorina so wie damals zum Jüngling. Demnach ähnelt Dorina nicht nur äußerlich dem Jüngling oder Felizitas, sondern nimmt auch ihre Stelle in der Figurenkonstellation ein, was den Eindruck erweckt, sie diene als Ersatz. Ob Dorina Traugott nun an Felizitas oder den Jüngling erinnert, wird aus dem Text nicht ersichtlich, doch so oder so wird sie am Ende seine »geliebte Braut« (A, 79), nachdem er in Danzig erfährt, dass er völlig umsonst nach Sorrent ging und seine Angebetete bereits eine andere Familie gegründet hat.

E.T.A. Hoffmann und ein Ausblick auf das queering von Literatur

Betrachtet man E.T.A. Hoffmanns Der Artushof nach der Definition der Homoromantik ist leicht aufzuzeigen, dass die Erzählung Spuren solcher Orientierungen aufweist, angefangen mit der Figur Felizitas, die durch die Methode des Crossdressings den Jüngling erschafft. Die Schwierigkeit in meiner These liegt also nicht darin, zu erörtern, ob der queere Subtext in der Erzählung existiert, sondern diesen Subtext einer Begrifflichkeit bzw. einer Orientierung zuzuordnen. Als Teil der LGBTQIA+-Community strebe ich nicht an, über die Neigungen, Vorlieben oder das Gender von Personen zu urteilen, seien sie fiktiv oder nicht. Letztlich habe ich mich für ›homoromantisch‹ entschieden, um die Beziehung der – vermeintlichen – Männer in den Vordergrund zu rücken. Tatsächlich ist es so, dass z. B. ›biromantisch‹ (also die romantische Orientierung zu mehreren Gendern) ebenfalls passen könnte, denn allgemein betrachtet sind Genderidentitäten und sexuelle bzw. romantische Orientierungen Spektren, auf denen sich jeder Mensch befindet, und keine schwarz-weiß Betrachtung.

Inwiefern kann nun die Beziehung der beiden Figuren als homoromantisch betrachtet werden? Da Traugott nichts vom Verkleidungsspiel weiß und sich doch derart zu dem Jüngling hingezogen fühlt, ist anzunehmen, dass der Held dem männlichen Geschlecht nicht von Grund auf abgeneigt ist. Des Weiteren ist ihm der Gedanke der ewigen Verbindung mit einer Frau zu Beginn der Erzählung zuwider, nicht aber bei jenen Damen, die Ähnlichkeit zum Jüngling aufweisen. Die Gefühle, die in der Erzählung aufgeschlüsselt werden, gehen damit klar über den normalerweise eher unscheinbaren Subtext beim queering von Werken hinaus.

Die Motivation, diesen Aufsatz zu verfassen, war eine persönliche: Als Mitglied der queeren Community ist die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität oder den eigenen romantischen Neigungen zentral. Für Menschen heutzutage wird es immer natürlicher, sich mit ihrer Sexualität, ihrem Gender oder der romantischen Orientierung auseinanderzusetzen. Das wird uns u. a. durch die steigende Akzeptanz gegenüber der LGBTQIA+-Community ermöglicht – war zu Lebzeiten vieler bekannter Autoren allerdings noch nicht verbreitet. Sollte es also so sein, dass gewisse Themen der queeren Szene im Subtext älterer Erzählungen stecken, werden diese innerhalb der Queer Forschung aufgeschlüsselt. Auch falls die queeren Zeichen im Text nie von den Autoren intendiert waren, sehe ich im queering dieser ein großes Potenzial. Literatur mit queeren Inhalten bedient sich einer immer größeren Beliebtheit, und Interpretationsansätze wie dieser machen ältere Literatur womöglich zugänglicher für jüngeres Publikum und schaffen Interesse am Lesen bzw. Re-Lesen von jahrhundertealten Werken. Dies könnte auch einen Wandel im literarischen Kanon zur Folge haben, der auch heutzutage immer noch stark von hetero-cis Männern dominiert wird.


Ilya Wichert

Ilya (geb. 2000) studiert im Bachelor Deutsche Sprache und Literatur kombiniert mit Philosophie. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf Methoden und Themen der Queer- und Gender-Studies sowie auf Literatur, Autor:innen, Stoffen und Themen der Romantik.

Kontakt: ilya.wichert@student.uni-halle.de; wichertilya@gmail.com


Anmerkungen

1E.T.A. Hoffmann, Die Bergwerke zu Falun. Der Artushof [1816], Stuttgart 2021, 45. Im Folgenden durch die Sigle A gekennzeichnet.
2Vgl. Queer Lexikon (o. J.), Homoromantisch; www.queer-lexikon.net/2017/06/15/homoromantik/ [letzter Zugriff 17.03.2024].
3Vgl. Barbara Becker-Cantarino, Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, Berlin 2010, 158.
4Ebd.
5Ebd.
6Ebd.
7Ebd. 78.
8Vgl. Edward T. Potter, Marriage, Gender, and Desire in Early Enlightenment German Comedy, Rochester, NY 2012.
9Vgl. ebd. 143.
10Vgl. Christoph Lorey, John L. Plews (Hg.), Queering the Canon. Defying Sights in German Literature and Culture, Columbia 1998.
11Potter, Marriage, Gender, and Desire in Early Enlightenment German Comedy, 114.
12Ebd. 138.
13Ebd.
14Johannes G Pankau, Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle, Würzburg 2005, 59.