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Balsam für die Seele

Immer wieder drehe ich das kleine Döschen in meiner Hand. „Zam-Buk – The Real Makoya“, es ist Lippenbalsam.
„Contains CAMPHOR which may be harmful if swallowed“.

Auf der Unterseite steht „The hospital in your pocket“ und auf der Seite „BAYER (PTY)LTD 27 WRENCH ROAD, ISANDO, GAUTENG, SOUTH AFRICA“.

Nun ist dieses Döschen das einzige, was mir aus Südafrika geblieben ist.

Ich drehe es nochmals in meiner Hand, denn es ist alles, was mir nach elf Monaten übrig bleibt. Überall um mich herum sind jetzt nämlich Dinge, dir mir bekannt sein sollten doch tatsächlich fremd sind.

Es ist mein Fernseher, meine Spielekonsole, meine alten Klamotten, meine alten Bücher, meine alten Schränke, mein altes Zimmer.

Gedacht hatte ich, dass ich den Menschen, dem dieses Zimmer gehörte, hinter mir gelassen habe, doch plötzlich sitze ich wieder hier, hämmere auf den Tasten dieses Laptops rum und starre in die Leere.

Es ist überraschend wie schwierig es einem fällt nach einer gewissen Zeit im Ausland wieder zurückzukommen – je länger die Zeit und je weiter weg das Ausland umso schwieriger ist wohl die Eingewöhnung.

Du gehst zurück an den Ort, den du die gesamten letzten Monate allen Menschen als dein „Zuhause“ vorgestellt hast und stellst plötzlich fest, dass dieser Ort kein Zuhause mehr ist. Weil sich der Ort verändert hat. Weil du dich verändert hast.
Obwohl gleichzeitig alles gleich geblieben ist.

Die Fremde im Bekannten ist absurd.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich dissoziiere, wie ich diesen Ort, an dem ich lebe und die Menschen, mit denen ich interagiere, nicht verstehe und nicht erkenne.
Trotz des wir Kontakt gehalten haben über die letzten elf Monate hinweg.

Doch was will ich überhaupt von diesen Menschen?
Will ich, dass sie gleich geblieben sind?

Ich glaube nicht.

Immerhin habe ich mich stark verändert, auf dieselben Gesichter mit denselben Meinungen zu treffen wäre da schlicht kontraproduktiv.

Will ich aber, dass sie sich verändert haben?

Eigentlich ja auch nicht.

Immerhin habe ich diese Menschen ja alle aus einem bestimmten Grund gemocht und sie waren alle Teil meines Lebens, weil sie mir (aufgrund ihrer Persönlichkeiten) irgendwas bedeutet haben.
Wahrscheinlich ist es aber auch genau das, was das wiedersehen so schwer macht – stünde ich den Apoldaern gleichgültig gegenüber, würde mir das Wiederkommen wohl wesentlich einfacher fallen.

Genau das – einfach – ist es aber mit Sicherheit nicht. So waren die letzten 8 Tage wohl die kompliziertesten, die ich seit Langem hatte.

Dass etwas in einem vorgeht merkt man selbst meistens zuletzt.
Zuerstmal rumpelt es nämlich ganz schön im Unterbewusstsein, dann verhält man sich komisch und gerät mit seiner Umwelt in Konflikt und erst im dritten Schritt stellt man Anomalien in seinem Verhalten fest und denkt dann letztlich darüber nach wo die herkommen.

Während meiner Zeit im Township hatte ich mich nämlich gefunden!

Ich mag diese Idee der „Selbstfindung“ zwar nicht (weil sie überholt ist und kitschig und clichehaft und grün), trotzdem ist sie passend. Denn man hat nunmal eine Persönlichkeit und als Mensch muss man erstmal entecken und herausfinden wie diese geartet ist.

Besonders nämlich nach mehr als einem Jahrzehnt in der Schule, in der man immer in einen sinnlosen Leistungswettbewerb mit seinen Mitschülern gepresst wird in dem sich der Wert eines Menschen danach richtet ob er weiß wie man eine Kurvendiskussion führt beziehungsweise ob er das gut auswendig lernen kann, braucht man erstmal ein wenig Zeit für sich selbst.

Man benötigt Zeit weg von Tests und Kontrollen und Auswendiglernen, weg von Bewertungen um sich bewusst zu werden, dass es keine Skala für die Qualität eines Lebens gibt abgesehen der eigenen Zufriedenheit mit demselbigen.

Genauso benötigt man bestenfalls (und dafür ist natürlich Zeit im Ausland hervorragend geeignet) Zeit außerhalb der Gesellschaft. Was die Gesellschaft nämlich super kann ist es uns beizubringen unsere Persönlichkeiten zu filtern.

Was ist gesellschaftlich erlaubt?

Für welche Vehaltensweise werde ich missbilligt, geächtet, ausgestoßen?

Wofür belohnt, gerühmt, empor gehoben?

Die Gesellschaft schafft das ohne Gesetze oder Regularien, sie macht es einfach von alleine. Wichtig ist daher, auch mal für eine längere Zeit ins Ausland zu gehen und dort, außerhalb der Komfortzone, zu sehen: wie machen es die Leute vor Ort? Wie sieht es in anderen Kulturen aus? Was hat Südafrika für unausgesprochene Regeln?

Und schließlich noch viel wichtiger: welche Teile meiner eigenen Gesellschaft und welche Teile der südafrikanischen Gesellschaft finde ich überhaupt gut? Und welche Teile gefallen mir nicht?

Im Allgemeinen dann ferner: Was finde ich wirklich richtig? Was finde ich wirklich falsch?
Unabhängig von dem was meine Eltern Freunde Bekannte Nachbarn Lehrer Chefs Kollegen aus derselben Kultur und derselben Gesellschaft mir sagen, unabhängig davon was meine Gasteltern Gastfreunde Gastbekannte Gastnachbarn Gastlehrer Gastchefs Gastkollegen mir sagen, sondern einzig abhängig davon, was Ich denke?

Dieser „Prozess der Selbstwerdung des Menschen, in dessen Verlauf sich das Bewusstsein der eigenen Individualität zunehmend verestigt“ (Definition von Google) kann laut dem Psychiater C. G. Jung auch als Individuation bezeichnet werden – ein schönerer, weil weniger romantisierter Begriff, als „Selbstfindung“.

Leider ist diese Definition ziemlich steif: sie suggeriert (ironischerweise fast schon in Anlehnung an Marx‘ historischen Materialismus) eine lineare Entwicklung der Persönlichkeit, die irgendwann abgeschlossen ist.

Doch so funktioniert die Sache nicht. Die Persönlichkeit eines Menschen – so wie übrigens auch die Geschichte – geht weniger immer nach vorn als auch mal drei Schritte zurück, manchmal fängt sie vielleicht auch ganz neu an zu laufen, rennt und geht und kriecht und hoppst, wie es eben gerade passiert.

Im Rückblick ist dann natürlich immer ein „Weg“ erkennbar, doch vorgezeichnet war dieser nicht.

In Folge der Rückkehr in die Heimat, etwa, weiß meine Persönlichkeit gerade überhaupt nicht wohin sie gehen soll.
Obwohl, es ist sogar noch schöner: sie weiß, wohin sie gehen will, aber irgendwie kann sie sich nicht dazu überwinden auch die nötigen Schritte zu tun.

Ich fühle mich, als wäre ich nicht ich selbst.

Ich ertappe mich, dass ich mir in Konversationen nur Sekundenbruchteile nach einem Satz denke „Was hast du da gerade eigentlich gesagt?“ und somit in Schritt drei:

Was ist da gerade in meinem Unterstübchen los?!

Der Wille dazuzugehören und reinzupassen ist aus dem Nichts wieder da; die Bereitschaft gegen den Strom zu schwimmen verschwunden.

Mehrmals habe ich in den letzten acht Tagen nicht gesagt, was ich wirklich dachte, habe mich zurückgehalten – um die andere Person nicht zu verletzen? Oder etwa um in ihrer Gunst nicht zu fallen?

Mehrmals habe ich in den letzten acht Tagen plötzlich geschrien, bin cholerisch und laut geworden, weil ich mich so in die Ecke gedrängt gefühlt habe und die Emotionen übergekocht sind.

Aber ich bin nunmal auch einfach schlichtweg überfordert!

Zunächst natürlich von Deutschland selbst.

Niemand grüßt mich auf der Straße, Rassismus steht (beinahe) an der Tagesordnung, alle planen, alle organisieren, alle stressen sich und lassen sich von der Zeit beherrschen als hätte der Mensch die Uhr nicht selbst erfunden.

Von Deutschen Rücksicht zu erwarten ist (bei den meisten) illisorisch.

Zu denken, dass es dieser Kultur möglich wäre, einmal weiter zu denken als bis zur Innenwand der eigenen Stirn, ist vergebens.

Zu hoffen, es bestünde ein Interesse an dir oder deinen Erfahrungen, ist naiv.

Dass es nicht so sein muss, hat mir Südafrika ja vor kurzem gezeigt. Dass es in anderen Kulturen durchaus möglich ist aufeinander zu achten und einzugehen, ein bisschen füreinander mitzudenken und sich zu helfen, ganz simpel für einander da zu sein und Empathie an den Tag zu legen, haben mir „die Neger“ gezeigt, wie ein Bekannter von mir die schwarze Bevölkerung Südafrikas vor Kurzem ganz selbstverständlich nannte.

Und so verfällt man auch langsam selbst wieder in seine deutschen Gewohnheiten – genau das, was ich ja eigentlich nicht tun wollte!

Plötzlich passe ich mich wieder an, aus Sorge um die Reputation – dabei habe ich doch gelernt, dass mir diese weitestgehend egal sein kann.

Plötzlich halte ich mich wieder zurück, aus Sorge, die andere Person werde verschreckt sein von dem, was ich sage, oder es nicht angmessen finden.

Wer auch immer sich an dieser Stelle angesprochen fühlt:

Z., du musst nicht alles fünf Tage vorher besprechen, leb doch einfach mal dein Leben und lass dich nicht von Terminen beherrschen!

N., denk einfach auch mal über die Bedeutung deiner Worte und Taten nach, anstatt immer nur die der anderen auf die Goldwage zu legen!

L., sag mir nicht monatelang du freust dich auf mich um mich dann zu behandeln als wäre ich nie weg gewesen!

S., bitte komm damit klar, dass ich manchmal auch anders denke als du!

Und J., es ist wirklich nur eine Kleinigkeit: ich kann gut verstehen, dass du keinen Zigarettenrauch magst, aber ich denke es ist auch definitiv nicht der Weltuntergang ;P.

Im Großen und Ganzen würde ich aber gerne an dieser Stelle allen Deutschen raten, einmal richtig tief durchzuatmen, gerne auch zwei mal. Kommt, ich mache mit:

Ein…

Aus…

Ein…

Aus…

Atmen hilft eigentlich immer, um die Welt weniger verbissen zu sehen – auch das habe ich in den letzten Tagen ein wenig verlernt gehabt.

Wie es jetzt weitergeht weiß ich nun noch immer nicht.

Atmen wird wichtig sein, langsam aber sicher sich selbst wieder finden; leben, reflektieren und von vorne beginnen; immer schön ehrlich sein – im wahrsten Sinne des Wortes „ohne Rücksicht auf Verluste“.
Apolda wieder zu einer Heimat machen.

Der Zam-Buk Lippenbalsam ist nicht das einzige, was mir von Südafrika geblieben ist, es ist lediglich ein Ding.

Was mir wirklich bleibt (und was den Balsam nämlich überhaupt erst so besonders macht) sind elf Monate Erfahrung und Reife, die es jetzt langsam mal anzuwenden gilt.