Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil I)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Panorama Chemie- und Industriepark „Infraleuna“ mit 1300 ha Gesamtfläche aller angesiedelten Firmen – ehemals Leuna-Werke – Total Raffinerie mit 320 ha Einzelfläche – Sachsen-Anhalt Germany – Foto Wolfgang Pehlemann – erweiterte Lizenz CC-by-sa V. 3.0

Siehst du die Städte, die wir morgen baun? / Ein Lichtmeer zwischen Wolken in der Schwebe / Scheinen sie aus der Zukunft hinterm Schnee / Im Negativ durch meine Augendeckel. […] Und in Fabriken die du noch im Kopf hast / Und die in meinen Händen noch nicht reif sind / Läuft ihre unbekannte Produktion[1]

WILLKOMMEN IN DER ZUKUNFT. HIER denken wir heute schon an morgen. […] Unsere Zukunftsorte haben keine Grenzen.[2]

Von aktuellen Image-Kampagnen des Landes Sachsen-Anhalt über die Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Leuna oder örtlicher Betriebe bis hin zum verheißungsvollen Zukunftszentrum in Halle (Saale): Die Region schwingt das Schlagwort „Zukunft“. Das steht in einer langen Tradition, die man mit der Industrialisierung der Gegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzen kann. Die Geschichte dieser regionalen Zukunftsprojektionen wird nicht zuletzt durch vier Jahrzehnte mitgeprägt, in denen Politik und Literatur intensiv versuchen, ein dem Anspruch nach sozialistisches Selbstbild zu stiften. Raumzeitliche Bedeutungszuweisungen, Vergangenheitsbezüge ebenso wie Zukunftshoffnungen, spielen bereits hier eine entscheidende Rolle, wie die folgend exemplarisch aufgerufenen Texte der DDR-Literatur veranschaulichen sollen.

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Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil II)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Theorie und Methodik – Voraussetzungen zur Erkundung der terra incognita

Der Historiker Lucian Hölscher nimmt in seinem Standardwerk zum Thema an, dass die „Fähigkeit, sich selbst in eine Zukunft hinein zu entwerfen“ als je „historisch spezifische Denkform“[1] gerade aufgrund ihrer Komplexität für die Rekonstruktion kulturellen Wissens besonders aufschlussreich ist. Aus Perspektive literaturgeschichtlicher Forschung mit kulturgeschichtlichem Erkenntnisinteresse lässt sich diese Überlegung mit Michael M. Bachtins Konzept des Chronotopos fassen.[2] Dieser zielt auf menschliche Vorstellungen von der raumzeitlichen Konstitution der Wirklichkeit, wobei Bachtin in Rekurs u.a. auf Kant die Selbstverortung in Raum und Zeit als anthropologische Konstante hervorhebt.

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Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil III)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Leuna-Texte in DDR-Literatur – Erkundungen mit Blick auf Raum und Zeit

Die von Gibas ausgewerteten Beispiele deuten eine Verschiebung in den den Raumleitbildern zugrundeliegenden Zeitkonzepten im langen historischen Bogen seit dem 19. Jahrhundert an: Steht zunächst die Legitimation der Gegenwart in der (mithin stark selektiv wahrgenommenen) Vergangenheit im Fokus der regionalen Identifikationsangebote, wechselt dieses Verhältnis nach 1945 zusehends zu einer Legitimation des Heute in einer antizipierten Zukunft. Die folgend beispielhaft angeführten Leuna-Texte aus der Zeit nach 1949 vollziehen diese Entwicklung im kleineren Rahmen. Anfangs ist noch eine unumwundene Bezugnahme auf die regionale Vergangenheit zu erkennen, nun unter sozialistischen Vorzeichen mit Fokussierung auf die regionale Arbeiterbewegung in den 1920ern sowie unter Hervorhebung eines scharfen Bruchs mit kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und der NS-Kriegsproduktion am Standort. Dient derart weiterhin die Vergangenheit zur Rechtfertigung der Gegenwart, verschiebt sich die raumzeitliche Perspektivierung zusehends und rücken Zukunftsprojektionen in den Vordergrund, die ein mehr oder weniger problematisches Heute legitimieren. Der Aufbau des Werkes gerät hier wie dort zum Symbol für den gesellschaftlichen Aufbau. Immer stärker geraten allerdings Konflikte und enttäuschte Hoffnungen in der Gegenwart dieses Aufbauprozesses ins Zentrum. Zukunftshoffnungen der frühen Jahre werden zunehmend historisiert – weichen jedoch nicht vollkommen, sondern werden, wie sich zeigen wird, angepasst.

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Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil IV)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Leuna-Texte in DDR-Literatur – Erkundungen mit Blick auf Raum und Zeit (Fortsetzung)

Wenige Jahre später erscheint der Roman, der zu den auflagenstärksten Romanen der DDR-Literatur zählt, wenngleich er heute weit weniger bekannt ist als die nach wenigen Aufführungen verbotene Verfilmung durch Frank Beyer (1966). In Erik Neutschs Spur der Steine (1964) wird der Handlungsort zum exemplarischen ‚Schkona‘ umbenannt. An der dortigen Werksbaustelle treffen Figuren aufeinander, die nicht weniger exemplarische Konflikte einer Gesellschaft im Umbruch verhandeln. Neben konfligierenden individuellen Vorprägungen sind das Generationenkonflikte, Konflikte um Geschlechterrollen, gesellschaftliche Tabus, Macht und Karriere, widerstreitende Vorgeschichten, um Sozialismus-Konzepte, Sinn oder Unsinn der Planwirtschaft oder die richtigen Ansätze zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die Werksbaustelle wird zum gesellschaftlichen Mikrokosmos, an dem Aufbau- und Ankunftssujet wiederum durch Verbindung des Ringens um das Bauobjekt mit der subjektiven Figurenentwicklung verquicken. Deutlich wird: Beides ist essenziell für den gesellschaftlichen Fortschritt, individuell-subjektive wie ökonomisch-objektive Weiterentwicklung. Deutlich wird allerdings auch, dass diese Entwicklung keineswegs mehr teleologisch vorangeht. Vielmehr ist die Handlung in Neutschs Roman durch unplanbare Widersprüche im Handeln seiner Figuren geprägt. Ihre Entwicklung erfolgt jedoch durch diese Widersprüche hindurch, mit ihr kommt der gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozess voran. Derart kennzeichnet Spur der Steine ein kritischer, tentativer Optimismus, dem eine bessere Zukunft zwar in einer quasi-mechanistischen Sicherheit nicht mehr denkbar scheint, die aber dennoch möglich ist und in ihrer Entstehung befördert werden kann. Essenziell, so lässt sich der Roman lesen, ist dafür das Verständnis für die interne Vielfalt der jungen, durch zahlreiche individuelle Geschichten geprägten sozialistischen Gesellschaft.

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Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil V)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Fazit – Ansätze zu einer Kartografie kulturellen Wissens zwischen Gestern, Heute und Morgen

Über mehrere Jahrzehnte hinweg wird der Ort Leuna in Texten der DDR-Literatur als raumzeitliche Schnittstelle konstruiert, an der Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhandelt werden. Die Art und Weise, wie diese verhandelt werden, vermittelt in den Texten wiederum Haltungen zum jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand in der DDR. Dabei ist ein sukzessiver Wandel festzustellen: Zunächst die Abgrenzung von der Vergangenheit vor 1945 oder die selektive Fortsetzung ihrer sozialistischen Traditionen herausstellend, erfolgt eine Legitimation des je aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsstandes als Legitimation des Heute im Gestern. Relevant gesetzt sind dabei neben den globalen Zäsuren 1917/18, 1933 und 1945 insbesondere die regional bedeutsamen Zäsuren der 1920er, die die narrativen Raumleitbilder in der frühen DDR ergänzen. Bereits in den ersten hier ausgewerteten Texten lässt sich ebenso die Legitimation des Heute in der projizierten Zukunft feststellen, die an Bedeutung gewinnt und Vergangenheitsbezüge auf die Zeit vor 1945 zusehends verdrängt.

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