Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur
Autor: Tim Preuß

Siehst du die Städte, die wir morgen baun? / Ein Lichtmeer zwischen Wolken in der Schwebe / Scheinen sie aus der Zukunft hinterm Schnee / Im Negativ durch meine Augendeckel. […] Und in Fabriken die du noch im Kopf hast / Und die in meinen Händen noch nicht reif sind / Läuft ihre unbekannte Produktion[1]
WILLKOMMEN IN DER ZUKUNFT. HIER denken wir heute schon an morgen. […] Unsere Zukunftsorte haben keine Grenzen.[2]
Von aktuellen Image-Kampagnen des Landes Sachsen-Anhalt über die Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Leuna oder örtlicher Betriebe bis hin zum verheißungsvollen Zukunftszentrum in Halle (Saale): Die Region schwingt das Schlagwort „Zukunft“. Das steht in einer langen Tradition, die man mit der Industrialisierung der Gegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzen kann. Die Geschichte dieser regionalen Zukunftsprojektionen wird nicht zuletzt durch vier Jahrzehnte mitgeprägt, in denen Politik und Literatur intensiv versuchen, ein dem Anspruch nach sozialistisches Selbstbild zu stiften. Raumzeitliche Bedeutungszuweisungen, Vergangenheitsbezüge ebenso wie Zukunftshoffnungen, spielen bereits hier eine entscheidende Rolle, wie die folgend exemplarisch aufgerufenen Texte der DDR-Literatur veranschaulichen sollen.
Vorüberlegungen – Ein weißer Fleck der Literaturgeschichte und sein kulturgeschichtliches Erkenntnispotenzial
Die Auseinandersetzung mit einem scheinbar so abseitigen Thema wie ‚Leuna in der DDR-Literatur‘ zeigt, dass in kulturwissenschaftlicher Hinsicht noch viel Wissen über die DDR, ihre gesellschaftliche Binnendifferenzierung und ihre künstlerischen Zeugnisse zu heben ist. Denn: Vier Jahrzehnte lang wird das ‚Leuna‘ von namhaften Autor:innen immer wieder dargestellt, wobei sich Art und Weise, wie dieser Ort erzählt wird, teils grundlegend wandeln. Und trotzdem: In der aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zur DDR findet sich darüber kein Wort. Leuna ist zweifelsohne wesentlicher Baustein für die Aufbau-Imagologie der DDR, zugleich aber terra incognita, weißer Fleck auf ihrer literaturhistorischen Landkarte.
Das ist nicht nur bedauerlich hinsichtlich eines möglichen regionalgeschichtlichen Interesses am Ort Leuna und seinem Niederschlag in den Künsten. Denn die Texte erzählen freilich stets mehr als nur den konkreten Ort. Er wird symbolisch, über seine topografische Bezugnahme hinaus bedeutungstragend für eigentlich recht unräumliche Verhältnisse. Es wird hier, im Zentrum der chemischen Industrie der DDR, stets die Gesellschaft der DDR als Ganze erzählerisch verhandelt – woher sie kommt, wo sie gerade steht und vor allem, wohin sie geht.
Der genaue Blick auf den beispielhaften Ort – im repräsentativen wie im exemplarischen Sinn – und seine Darstellung im literarischen Text, auf die Veränderungen und Kontinuitäten dabei, gibt uns in der Lesart einer kulturgeschichtlich interessierten Literaturgeschichte Aufschluss darüber, was sich in den Entstehungsbedingungen der Texte verändert. Dazu gehören neben sozialen und materiellen Bedingungen mentale Bedingungen, wie allgemeine Wirklichkeitsvorstellungen oder bestimmte Weltanschauungen und kulturelle Selbstbilder, auf die die Texte Bezug nehmen. Sie werden besonders aufschlussreich, wo es um so etwas voraussetzungsvolles wie die Verortung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht. Die Auseinandersetzung mit dem scheinbar abseitigen Detail ‚Leuna‘ in der DDR-Literatur und den damit verbundenen Zeitkonzepten führt so direkt zu der übergeordneten Frage, welche Vorstellungen die Gesellschaft der DDR von sich selbst hatte, wie diese darstellbar sind und wie sich beides über die Jahre veränderte.
[1] Heiner Müller: Der Bau. In: Ders.: Die Stücke 1. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 329–396, hier S. 392. [= Werke 3]
[2] Begrüßungstext auf der Website Zukunftsorte Sachsen-Anhalt, Kampagne der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt, verügbar unter https://www.zukunftsorte-sachsen-anhalt.de/ (zuletzt abgerufen 12.8.2025). Hervorhebung i. O.
(Dieser Text ist parallel für eine Publikation vorgesehen und erscheint hier in leicht veränderter Form in fünf Teilen)
Dank gilt den Studierenden des literaturwissenschaftlichen Seminars „Chronotopos Leuna – Ein ‚Zukunftsort‘ der DDR“ an der MLU Halle-Wittenberg im Sommersemester 2025, deren vielfältige Perspektiven auf das Thema diesen Essay anregten. Dank gilt zudem Dr. Christian Drobe für die umsichtige Organisation und Betreuung des ARW-Forschungsschwerpunkts „Zukunftsorte“ an der MLU. Vgl. dazu die Übersicht zum Schwerpunkt im zugehörigen Blog Visionen der Zukunft, verfügbar unter: https://blogs.urz.uni-halle.de/ortederzukunft/ (zuletzt abgerufen 12.8.2025).