Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil II)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Theorie und Methodik – Voraussetzungen zur Erkundung der terra incognita

Der Historiker Lucian Hölscher nimmt in seinem Standardwerk zum Thema an, dass die „Fähigkeit, sich selbst in eine Zukunft hinein zu entwerfen“ als je „historisch spezifische Denkform“[1] gerade aufgrund ihrer Komplexität für die Rekonstruktion kulturellen Wissens besonders aufschlussreich ist. Aus Perspektive literaturgeschichtlicher Forschung mit kulturgeschichtlichem Erkenntnisinteresse lässt sich diese Überlegung mit Michael M. Bachtins Konzept des Chronotopos fassen.[2] Dieser zielt auf menschliche Vorstellungen von der raumzeitlichen Konstitution der Wirklichkeit, wobei Bachtin in Rekurs u.a. auf Kant die Selbstverortung in Raum und Zeit als anthropologische Konstante hervorhebt.

Derart relevant für kulturelle Selbstbeschreibungen, prägen diese raumzeitlichen Wirklichkeitsvorstellungen auch literarische Texte, indem sie nicht nur allgemein in ihnen thematisiert oder adaptiert werden können – und so mitunter Wirklichkeitsvorstellungen mitprägen –, sondern textuelle Weltmodelle grundlegend von der jeweils historisch-konkret denkbaren raumzeitlichen Vorstellungen bestimmt werden. Bachtins Chronotopos-Begriff schärft somit den Blick für die intrikate Verknüpfung von Raum und Zeit in literarischen Texten und deren konstitutive Funktion für die jeweilige Sujet-Gestaltung. Entscheidend ist dabei nicht zuletzt, dass Bachtin davon ausgeht, dass mit den raumzeitlichen Strukturen des literarischen Textes auch Bedeutungen, Werte und Normen vermittelt werden können, die nicht primär raumzeitlicher Natur sind. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Rekonstruktion der raumzeitlichen Struktur literarischer Weltmodelle – ihrer expliziten Ordnungssätze und Bedeutungszuweisungen einerseits, der Bezüge ihrer einzelnen Elemente untereinander und der dadurch implizierten Ordnungssätze und Bedeutungszuweisungen andererseits – eine differenzierte Rekonstruktion kultureller Wirklichkeitsvorstellungen und Selbstwahrnehmungen.[3]

Die vielfältigen Projektionen von (raumzeitlicher) Topografie und (nicht raumzeitlicher) Topologie, die Bachtin an literarischen Handlungsorten wie der ‚Straße‘, dem ‚Schloss‘ oder dem ‚Provinzstädtchen‘ für je historisch konkrete literaturgeschichtliche Entwicklungsetappen veranschaulichte,[4] zeigte in der Geschichtswissenschaft Monika Gibas in Auseinandersetzung mit Raumleitbildern für ‚Mitteldeutschland‘ auch in überwiegend faktual wahrgenommenen Texten auf.[5] Sie stellt insbesondere die in lange dominante Deutung des ‚Mitteldeutschlands‘ als Raum harmonischer Verbindung von Natur, Kultur und Industrie als Kontinuum der narrativ konstruierten regionalen Deutungs- und Identifikationsangebote heraus. Künstlerische ebenso wie pragmatische Texte können solche Projektionen begründen, bestätigen und stützen, hinterfragen oder adaptieren und verändern.

Einige frühe Beispiele für eine Infragestellung tradierter und dominanter Raumleitbilder über Mitteldeutschland als Region des harmonischen Einklangs von Natur, Kultur und Industrie liefern beispielsweise engagierte Texte wie Berta Lasks Drama Leuna 1921 (1927) oder Walter Bauers Stimme aus dem Leunawerk (1930).[6] Sie unterminieren bestehende Wirklichkeitserzählungen, die eine die Gegenwart historistisch erklärende Makroperspektive einnehmen, indem sie eine Perspektive ‚von unten‘ und aus der akuten Gegenwart heraus dagegen setzen. Aus dieser Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter Leunas ist Natur schlichtweg nicht vorhanden, Industrialisierung und Kultur finden sich keineswegs harmonisch zusammen. An ihrer Stelle stehen Geschichtslosigkeit, enttäuschte Hoffnungen, Unterdrückung der Arbeiter, Kapitalinteressen der Betriebseigner, Erschöpfung, Gewalt und stete Todesgefahr, die sich nur in der Projektion einer kommenden besseren Gesellschaft aufheben lassen.


[1] Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 10. [= Europäische Geschichte]

[2] Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Berlin: Suhrkamp 2008. Ausführliche Verweise auf die geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung zur DDR sind im gegebenen Rahmen nicht möglich. Vgl. an dieser Stelle nur die Weiterentwicklung bei Michael Ostheimer: Leseland. Chronotopographie der DDR- und Post-DDR-Literatur. Göttingen: Wallstein 2018. Auch bei Ostheimer findet sich überraschenderweise keine eigenständige Auseinandersetzung mit einem mutmaßlichen ‚Chronotopos Leuna‘.

[3] Vgl. zu den entsprechenden semiotischen Grundannahmen – die im Folgenden nicht derart angewandt werden, wie es analytisch statthaft wäre – nur Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 oder Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München: Fink 1977. [= Information und Synthese 5]

[4] Vgl. Bachtin: Chronotopos, S. 180–187. Das Schloss in der englischsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts sei bspw. ein Ort, „angefüllt mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit im engen Sinne des Wortes, d.h. mit der Zeit der historischen Vergangenheit. Das Schloß ist der Ort, an dem die Herren der Feudalepoche […] lebten, an dem sich in sichtbarer Form die Spuren der Jahrhunderte und der Geschlechter abgelagert haben – in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, […] in den spezifischen menschlichen Beziehungen der dynastischen Erbfolge […].“

[5] Vgl. Monika Gibas: Industrielandschaften Mitteldeutschlands – Raumleitbilder als Identifikationsangebote in Zeiten gesellschaftlichen Wandels. In: Mitteldeutsche Industrielandschaften im 19./20. Jahrhundert. Außendarstellung, Fortschrittsglauben und regionale Identifikation. Hg. v. Marina Ahne / Ders. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2017, S. 9–45.

[6] Vgl. Berta Lask: Leuna 1921. Drama in fünf Akten. Berlin: J.H.W. Dietz 1927 [= Rote Dietz Reihe 19] und Walter Bauer: Stimme aus dem Leunawerk. Verse und Prosa. Berlin: Malik 1930.


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