Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur
Autor: Tim Preuß
Leuna-Texte in DDR-Literatur – Erkundungen mit Blick auf Raum und Zeit
Die von Gibas ausgewerteten Beispiele deuten eine Verschiebung in den den Raumleitbildern zugrundeliegenden Zeitkonzepten im langen historischen Bogen seit dem 19. Jahrhundert an: Steht zunächst die Legitimation der Gegenwart in der (mithin stark selektiv wahrgenommenen) Vergangenheit im Fokus der regionalen Identifikationsangebote, wechselt dieses Verhältnis nach 1945 zusehends zu einer Legitimation des Heute in einer antizipierten Zukunft. Die folgend beispielhaft angeführten Leuna-Texte aus der Zeit nach 1949 vollziehen diese Entwicklung im kleineren Rahmen. Anfangs ist noch eine unumwundene Bezugnahme auf die regionale Vergangenheit zu erkennen, nun unter sozialistischen Vorzeichen mit Fokussierung auf die regionale Arbeiterbewegung in den 1920ern sowie unter Hervorhebung eines scharfen Bruchs mit kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und der NS-Kriegsproduktion am Standort. Dient derart weiterhin die Vergangenheit zur Rechtfertigung der Gegenwart, verschiebt sich die raumzeitliche Perspektivierung zusehends und rücken Zukunftsprojektionen in den Vordergrund, die ein mehr oder weniger problematisches Heute legitimieren. Der Aufbau des Werkes gerät hier wie dort zum Symbol für den gesellschaftlichen Aufbau. Immer stärker geraten allerdings Konflikte und enttäuschte Hoffnungen in der Gegenwart dieses Aufbauprozesses ins Zentrum. Zukunftshoffnungen der frühen Jahre werden zunehmend historisiert – weichen jedoch nicht vollkommen, sondern werden, wie sich zeigen wird, angepasst.
In Hans-Jürgen Steinmanns früher Reportage Chemiewerk Leuna (1949)[1] sind die zeitlichen Verhältnisse in aller Unordnung noch weitgehend klar. Ruinen kennzeichnen das Werksgelände, die von Steinmann explizit als Zeichen der NS-Vergangenheit benannt werden. Allerdings deutet sich ebenso in den intensiven Beräumungs- und ersten Wiederaufbau-Aktivitäten eine kommende Zeit an. Die trotz aller Hindernisse laufende Produktion – belegt mit Ausstoßzahlen – markiert die dargestellte Gegenwart des Gründungsjahres der DDR als Übergangszustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Steinmann liefert zahlreiche Identifikationsangebote für den jungen Staat: Arbeit als gemeinschaftsstiftender Nenner, Anknüpfen an tradierte arbeiterliche Kultur der Region, nun allerdings im Volkseigentum und unter freilich positiv markierter Führung der Partei-Organisationen. Integriert werden diese Punkte unter dem übergeordneten Merkmal der Friedensproduktion als Zeichen des Neubeginns: „In einem ist sich der Leuna-Arbeiter, angesichts der Ruinen seines Werks, einig: nie wieder für etwas anderes als den Fortschritt und den Frieden zu arbeiten.“[2]

Diese integrale Perspektive kennzeichnet auch das Referat Walter Ulbrichts zur Eröffnung der Chemiekonferenz in Leuna 1958, wenngleich sich die Konstellation etwas verändert.[3] Unter dem Titel Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit stellt er das Chemieprogramm als gesellschaftsumspannende Initiative dar, die Frieden, Wohlstand, Widervereinigung und Fortschritt unter den Überbegriff Sozialismus bringt. Apodiktisch die Übertragung von nichträumlichen auf räumliche Merkmale veranschaulichend betont Ulbricht: „Unsere Chemiewerke repräsentieren den Sozialismus“.[4] Während die BRD – am Beispiel des IG-Farben- bzw. BASF-Hauptsitzes in Ludwigshafen – als Ort der Vergangenheit und fortbestehender alter Verhältnisse dargestellt wird, ist die DDR – am Beispiel Leunas – der Ort einer Zukunft, die sich nicht zuletzt auf örtliche sozialistische Traditionen stützt:
Früher, in den Jahren 1917, 1920 und 1921, haben die revolutionären Leunaarbeiter und die Arbeiter Mitteldeutschlands im Kampf für die Beendigung des imperialistischen Weltkrieges […] mutig ihr Blut vergossen, um das Fundament für eine neue Welt zu schaffen. Heute setzen die Leunaarbeiter gemeinsam mit der Intelligenz ihren Verstand und ihre Kraft ein, um einen machtvollen Aufschwung der Chemiewirtschaft zu erreichen. Auf diese Weise dienen sie der Sache der gefallenen Leunaarbeiter, ihrer eigenen Sache, unserer gemeinsamen Sache, der Sache des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus. Damit dienen sie alle der nationalen Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer, einiger Staat.[5]
Mit Steinmanns Darstellung der Werke knappe zehn Jahre zuvor verbindet Ulbrichts Fazit die Darstellung einer in der Vergangenheit begründeten Gegenwart im Übergangszustand, wobei nunmehr auch die eigenen revolutionären Traditionen aufgerufen und auf die wissenschaftlich-technische Revolutionierung übertragen werden.
Deren individuelle Bedingungen problematisiert Joachim Chaim Schwarz in seiner literarischen Reportage Der junge Ingenieur 1959.[6] In Kursivdruck abgehobene Schilderungen um den Mitteldeutschen Aufstand 1921 sind hier mit der ausführlicher erzählten Gegenwartsebene montiert und verweisen oberflächlich die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart. Auf der Gegenwartsebene ist der titelgebende junge Ingenieur Gentschow, der sich anfangs für unpolitisch hält, auch inhaltlich mit der Vergangenheit in Form alter, problematischer Verhaltensweisen seiner Kollegen befasst. Indem er ihnen erst nur als Fachmann entgegentritt, der an der Steigerung der Arbeitsproduktivität rein sachlich interessiert ist, reift er zusehends zum politisch bewussten Vertreter der neuen Intelligenz, der selbst Verantwortung übernimmt – und nicht zuletzt in die Partei vertrauen lernt, wenngleich diese durchaus Fehler macht. „Leuna beginnt an ihm zu arbeiten“[7] vermerkt die Erzählung zu Beginn dieses kleinen sozialistisch-realistischen Entwicklungsromans, dem sein Ringen um neue Sujets – die neue Arbeitswelt, Arbeitsproduktivität und Wettbewerb sowie das Handeln der Menschen darin – und deren Darstellbarkeit deutlich anzumerken sind. Ebenso zeigt der Text im beginnenden Einbezug der subjektiven Mikroperspektive und psychologisierender Innensichten sowie der Aufmerksamkeit für eine neue Gegenwart den sukzessiven literaturhistorischen Wechsel vom Aufbau- zum Ankunfts-Topos an. Während die Vergangenheitsebene der Zeit vor 1945 bereits typografisch vom restlichen Text getrennt ist, ist Gentschow nicht zuletzt auch von einer neuen Vergangenheit nach 1945 geprägt. Klar ist dabei stets die optimistische Zukunftsperspektive: Die nach dem Krieg konstituierten neuen Gesellschaftsverhältnisse schaffen den neuen Menschen, der wiederum die neue Gesellschaft weiterentwickelt.
[1] Vgl. Hans-Jürgen Steinmann: Chemiewerk Leuna. In: Aufbau 5 (1949), H. 8, S. 747–752.
[2] Ebd., S. 752.
[3] Vgl. Walter Ulbricht: Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit. Chemiekonferenz des ZK der SED und der Staatlichen Plankommission in Leuna am 3. und 4. November 1958. Hg. v. ZK der SED. Berlin: Dietz 1958, S. 6–64.
[4] Ebd., S. 20.
[5] Ebd., S. 64.
[6] Vgl. Joachim C. Schwarz: Der junge Ingenieur. In: neue deutsche literatur 7 (1959), H. 5, S. 27–47.
[7] Ebd., S. 30.