Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur
Autor: Tim Preuß
Leuna-Texte in DDR-Literatur – Erkundungen mit Blick auf Raum und Zeit (Fortsetzung)
Wenige Jahre später erscheint der Roman, der zu den auflagenstärksten Romanen der DDR-Literatur zählt, wenngleich er heute weit weniger bekannt ist als die nach wenigen Aufführungen verbotene Verfilmung durch Frank Beyer (1966). In Erik Neutschs Spur der Steine (1964) wird der Handlungsort zum exemplarischen ‚Schkona‘ umbenannt. An der dortigen Werksbaustelle treffen Figuren aufeinander, die nicht weniger exemplarische Konflikte einer Gesellschaft im Umbruch verhandeln. Neben konfligierenden individuellen Vorprägungen sind das Generationenkonflikte, Konflikte um Geschlechterrollen, gesellschaftliche Tabus, Macht und Karriere, widerstreitende Vorgeschichten, um Sozialismus-Konzepte, Sinn oder Unsinn der Planwirtschaft oder die richtigen Ansätze zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die Werksbaustelle wird zum gesellschaftlichen Mikrokosmos, an dem Aufbau- und Ankunftssujet wiederum durch Verbindung des Ringens um das Bauobjekt mit der subjektiven Figurenentwicklung verquicken. Deutlich wird: Beides ist essenziell für den gesellschaftlichen Fortschritt, individuell-subjektive wie ökonomisch-objektive Weiterentwicklung. Deutlich wird allerdings auch, dass diese Entwicklung keineswegs mehr teleologisch vorangeht. Vielmehr ist die Handlung in Neutschs Roman durch unplanbare Widersprüche im Handeln seiner Figuren geprägt. Ihre Entwicklung erfolgt jedoch durch diese Widersprüche hindurch, mit ihr kommt der gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozess voran. Derart kennzeichnet Spur der Steine ein kritischer, tentativer Optimismus, dem eine bessere Zukunft zwar in einer quasi-mechanistischen Sicherheit nicht mehr denkbar scheint, die aber dennoch möglich ist und in ihrer Entstehung befördert werden kann. Essenziell, so lässt sich der Roman lesen, ist dafür das Verständnis für die interne Vielfalt der jungen, durch zahlreiche individuelle Geschichten geprägten sozialistischen Gesellschaft.
In Volker Brauns Gedicht Die Industrie aus dem Band Gegen die symmetrische Welt (1974) ist diese vergangene Gegenwart längst historisiert.[1] Unter intertextuellem Verweis auf den Titel von Neutschs Roman wird dabei auch das Scheitern der Ankunft in einer auf die Zeit des Aufbaus folgenden Periode problematisiert. Nach Sicherung der ökonomischen Notwendigkeiten ist die neue Gegenwart eine, die kulturell „bis an die Brust / Eingeplant und vernagelt / In die Gerüste“ in der Vergangenheit verharrt,[2] obwohl nun eine Fokussierung auf persönliches Glück und – im Anschluss an wissenschaftlich-technische Revolutionierung – auch kulturelle Weiterentwicklung notwendig und möglich wäre. Doch statt des emphatisch mit Hölderlin-Reminiszenz geforderten „Gleich / Leben, gleich!“ gilt weiterhin die Formel, die auch den Wirklichkeitsbezug des politisch-ästhetisch engagierten Künstlers unterminiert: „Mensch / Plus Leuna mal drei durch Arbeit / Gleich / Leben.“[3] Gegen die „verdreckte Gegend“ der „mitteldeutschen Ebne [sic]“,[4] in der jede menschliche Regung vertrocknet, werden idyllische Heterotopien gestellt, in denen sinnlich-körperliche Erfahrungen, auch in Bezug auf Arbeit, möglich sind. Diese geraten bei Braun zum Residuum einer Hoffnung auf kulturelle Erneuerung. Die deutliche Absage an den gegenwärtigen Ist-Zustand als Verwirklichung vergangener Zukunftshoffnungen und seine Darstellung als arretierte Vergangenheit verbindet sich mit einer Auslagerung dieser Hoffnungen in die Idylle. In Brauns Gedicht ist das allerdings dialektisch gedacht: Es geht darum, die utopischen Zukunftsentwürfe überhaupt denkbar zu halten, um die schlecht konstituierte Wirklichkeit an ihnen zu messen und zu korrigieren.

Als abschließendes Beispiel sei Heiner Müllers Der Bau angeführt, dessen letzter Hand gültige Fassung er zwar bereits Mitte der 1960er verfasst, der jedoch erst 1980 auf die Bühne gebracht wird. Wiederum in expliziter Bezugnahme auf Spur der Steine variiert Müller die Vorlage und tradierte Darstellungsweisen entscheidend. Die Baustelle ist nunmehr gesellschaftlicher Mikrokosmos im schlimmsten Sinn, eine „Höllenmaschine […] montiert aus morgen und gestern, da und hier“, „Giftküche der Republik“ auf dem „mitteldeutschen Industrieschlamm“.[5] Der Bruch mit etablierten räumlichen Bedeutungszuweisungen wird konsequent auf die zeitliche Ebene ausgedehnt, denn die „Zukunft, Ingenieur, ist aus der Mode.“[6] Szenen forcierter künstlerischer Selbstreflexion über die schiere Darstellbarkeit der Arbeitswelt und ihrer Probleme machen explizit, dass die hoffnungsvolle junge Intelligenz, die Helden der Arbeit, die Einheit von Kunst und Wirklichkeit Illusionen sind – wenngleich Müller sie freilich paradoxerweise selbst darstellt. Sein Drama betont dabei allerdings die unpoetischen Mühen der Ebene, die im Brecht-Zitat bereits für Neutsch das Motto abgeben. Die Notwendigkeit, um die bessere Zukunft trotz alledem schon heute zu ringen, kennzeichnet allerdings auch Müllers oberflächlich hoffnungslosen Text. Resignation ist bei aller Unabwendbarkeit der Enttäuschung im Ringen um die bessere Zukunft nicht statthaft. So beschließt die schwangere Ingenieurin das Drama – und erinnert an vormalige, im Offizialdiskurs der SED längst zur Phrase geronnene Ideale von der Jugend und ihrer revolutionären Rolle angesichts einer staatssozialistischen Übergangsphase, die längst auf Permanenz gestellt ist: „Wir werden Kinder haben, die Kinder haben werden, eine Generation macht die nächste, die Zukunft uns aus dem Gesicht geschnitten, der Kommunismus gut oder schlecht, wie wir ihn gemacht haben“.[7]
[1] Vgl. Volker Braun: Die Industrie. In: Gegend die symmetrische Welt. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1974, S. 23f.
[2] Ebd., S. 23.
[3] Ebd., zuvor ebd., S. 24.
[4] Ebd. S. 23.
[5] Müller: Der Bau, S. 335.
[6] Ebd., S. 351.
[7] Ebd., S. 396.