Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Leuna literatur- und kulturgeschichtlich (Teil V)

Exemplarische Lesarten zu raumzeitlichen Konstruktionen in der DDR-Literatur

Autor: Tim Preuß

Fazit – Ansätze zu einer Kartografie kulturellen Wissens zwischen Gestern, Heute und Morgen

Über mehrere Jahrzehnte hinweg wird der Ort Leuna in Texten der DDR-Literatur als raumzeitliche Schnittstelle konstruiert, an der Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhandelt werden. Die Art und Weise, wie diese verhandelt werden, vermittelt in den Texten wiederum Haltungen zum jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand in der DDR. Dabei ist ein sukzessiver Wandel festzustellen: Zunächst die Abgrenzung von der Vergangenheit vor 1945 oder die selektive Fortsetzung ihrer sozialistischen Traditionen herausstellend, erfolgt eine Legitimation des je aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsstandes als Legitimation des Heute im Gestern. Relevant gesetzt sind dabei neben den globalen Zäsuren 1917/18, 1933 und 1945 insbesondere die regional bedeutsamen Zäsuren der 1920er, die die narrativen Raumleitbilder in der frühen DDR ergänzen. Bereits in den ersten hier ausgewerteten Texten lässt sich ebenso die Legitimation des Heute in der projizierten Zukunft feststellen, die an Bedeutung gewinnt und Vergangenheitsbezüge auf die Zeit vor 1945 zusehends verdrängt.

Indem diese frühen Jahre der Aufbauzeit, späterhin auch der Ankunftszeit, selbst historisiert werden, wird die jeweilige Gegenwart jedoch zunehmend als – inklusive ihrer Zukunftsprojektionen – arretierte Vergangenheit modelliert. Wird Leuna bzw. die Werksbaustelle zunächst noch unumwunden als Ort gekennzeichnet, an dem die versprochene bessere Zukunft akut geschaffen wird, der neue Mensch und neue Arbeitsweisen entstehen, kommen immer mehr kritische Aspekte bei der Verwirklichung dieser Utopie in den Blick. Zuletzt stehen Hindernisse und Enttäuschungen auf dem Weg in die projizierte Zukunft am exemplarischen Ort im Fokus. Bei zunehmender Schärfe der Kritik bleibt es allerdings eine je adaptierte kritische Solidarität der exemplarisch untersuchten Texte, die gegen den Offizialdiskurs weiterhin darum ringen, ihre Ideale zu verwirklichen oder nur bewusst zu halten. In diesem Sinn sind sie als systemimmanent kritische, aber nichtsdestoweniger sozialistisch engagierte Literatur zu lesen.

Auffällig ist, dass die konkrete Topografie ‚Mitteldeutschland‘ abseits spezifischer historischer Ereignisse kaum eine Rolle spielt, sondern stets die (real-)sozialistische Gesellschaft insgesamt diskutiert wird. Je adaptiert ist auch die zeitliche Selbstverortung in einem – mehr oder weniger blockierten – Übergangszustand ein kontinuierliches Merkmal der ausgewerteten Texte. Damit verbunden ist Auseinandersetzung mit der Darstellbarkeit dieses Übergangs als neuem Sujet einer im Selbstanspruch neuen Gesellschaft erkennbar, in der – nach kulturpolitischer Leitlinie – alle Konflikte nicht-antagonistische, lösbare seien. Anhand der raumzeitlichen Modellierungen ‚Leunas‘ in Texten der DDR-Literatur lässt sich somit auch die Frage stellen, die zahlreiche Texte kennzeichnet, die am Vorhaben eines Sozialistischen Realismus teilnehmen wollen oder müssen: Wie dieses Neue, den permanenten Übergang, das neue Sujet, den Nicht-Antagonismus erzählen oder Erzählungen entsprechen konzipieren?

Eine Antwort auf dieses delikate programmatische Problem einer bisher singulären, groß angelegten politischen Ästhetik oder bloß seine Darstellung am literarischen Zeugnis müssen hier offenbleiben. Ein Versuch hätte auch abseits ausführlicherer Einzelanalysen der hier aufgerufenen Texte noch umfangreiches Material zu heben: Die Ergebnisse des Zirkels schreibender Arbeiter in den Leunawerken,[1] die Romane Steinmanns[2] oder das monumentale Fernsehdrama Geboren unter schwarzen Himmeln (DDR 1962, R.: Achim Hübner/Jutta Bartus). Unter Einbezug von Texten aus der Zeit vor[3] oder nach[4] dem hier betrachteten Zeitraum ließe sich vielleicht gar eine Literaturgeschichte als Kulturgeschichte einer oft übersehenen arbeiterlichen Industrieregion am Knotenpunkt Leuna schreiben. Sie könnte nicht zuletzt Aufschluss darüber geben, warum wir heute an welcher Stelle stehen und welche Handlungsmöglichkeiten da bestehen. Die eingangs angeführten Beispiele des Regional-Marketings machen klar: In Leuna liegt die Zukunft. Die hier beispielhaft ausgewerteten Texte der DDR-Literatur hingegen werfen die Frage auf, ob nicht auch kritischen Stimmen zu den heutigen Zukunftsversprechen von stetem Wachstum und fortschreitender Industrialisierung, dem Insistieren auf Einlösung der mit ihnen einhergehenden Hoffnungen und dem Protest, wo sie regelmäßig enttäuscht werden, mehr Raum gegeben werden sollte. Diese Frage allerdings überschreitet nicht nur die Kompetenzen der Standort-Werbung, sondern vor allem den hiesigen Gegenstandsbereich. Bei aller Wandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann allerdings auch diese Frage ein Resultat der literatur- und kulturgeschichtlichen Auseinandersetzung mit einem Nest zwischen Halle (Saale) und Leipzig sein.


[1] Vgl. etwa Für Leuna unterwegs. Geschichten um das Dederon. Red. Rüdiger Bernhardt. Leuna: Werksdruckerei der VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“ 1974.

[2] Vgl. hier nur Hans-Jürgen Steinmann: Träume und Tage. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1970. Zwischen der frühen o.g. Reportage und den Romanen stehen etwa die ebenfalls relevanten Skizzen aus Leuna. In: neue deutsche literatur 10 (1962), H. 7, S. 121–138.

[3] Vgl. hier neben den o.g. Lask und Bauer Zeugnisse wie das Leuna-Lied (vgl. Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Gekürzte Ausgabe in einem Bd. hg. v. Hermann Strobach. Berlin: Akademie 1972, S. 35–41 und S- 278–292), daneben zeitgenössische Reportagen wie Joseph Roth: Der Merseburger Zauberspruch. In: Ders.: Das journalistische Werk. 1929–1939. Hg. v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 275–281. [=Werke 3] Abseits einer sozialistisch oder liberal engagierten Tradition wären allerdings auch die weiteren bei Gibas: Industrielandschaften Mitteldeutschlands angeführten Rezeptionszeugnisse insbesondere der NS-Zeit, aber auch populärkulturell relevante Texte von Interesse, vgl. etwa Paul Burg [i.e. Paul Schaumburg]: Was wollen die Frauen von Flink? Ein Spionageroman um Leuna. Leipzig: Weise 1932.

[4] Vgl. Wolfram Adolphi: Hartenstein oder Die unerhörte Arbeit des Erinnerns. Durchges. u. gekürzte Neuausg. Gransee: Edition Schwarzdruck 2024 und Jürgen Jankofsky: Graureiherzeit. Berlin: Tykve 1996. Vgl. nicht zuletzt eklektische Bezugnahmen bei Lutz Seiler, vgl. hier nur das Gedicht dreiundachtzig. In: Ders.: vierzig kilometer nacht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.


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