Zu Friedrich Dürrenmatts Roman „Das Versprechen“
Romy Bergmann
Der Kriminalroman als populäre Gattung der Unterhaltungsliteratur zeichnet sich durch eine komplexe Raumgestaltung aus, die zur Verrätselung eines Verbrechens entscheidend beiträgt. Das Eisenbahnabteil eines fahrenden Zuges, ein Londoner Club oder das Familienanwesen am Rande der Stadt bieten nicht nur eine attraktive Kulisse, sondern auch einen isolierten Raum, in dem der Hergang des Verbrechens enträtselt werden muss. Besonders beliebt sind bei Kriminalromanen zivilisierte Orte, die sich mitten in der Gesellschaft befinden. So zeigen unter anderem die Texte um Meisterdetektiv Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle oder Der Orient-Express von Agatha Christie ihre Verbrechen und Rätsel in meist urbanisierten oder kultivierten Umgebungen und setzten damit wertvolle Impulse für die europäische Kriminalliteratur. Die Zerstörung der gewohnten Ordnung und die Entfremdung des Raumes, also das Schaffen einer neuen Realität, entfachen bei den Figuren dieser Erzählungen eine Angst, die ihnen allein durch die Widerherstellung der gewohnten Ordnung genommen werden kann. Je anschaulicher und realistischer die Umgebung dabei gehalten wird, desto größer ist die Irritation bei dem Bruch des Gewohnten. Die Relevanz des Raumkonzeptes erschließt sich vor dem Hintergrund raumtheoretisch informierter Ansätze, die den Raum nicht als etwas originär Gegebenes, sondern als etwas Produziertes betrachten. Da eine Handlung in der Literatur nicht ohne einen Raum funktionieren kann, kommt dessen Gestaltung durch diverse Mittel des Autors eine ganz besondere Rolle zu. Auffallend bei der Kriminalliteratur ist dabei, dass sie sich bei ihrer Raumkonstruktion entweder realer Orte bedient oder fiktive Orte mit einer hohen Wirklichkeitsreferenz schafft.
Wie verhält es sich jedoch mit Verbrechen, die abseits der Gesellschaft begangen werden? Welche Bedeutung hat die Natur als Tatort für die Kriminalliteratur und wie kann sie eine ebensolche Irritation hervorrufen? Als repräsentatives Beispiel wird für die Untersuchung Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen (1957) herangezogen, der die Aufklärung eines Mordes im Wald nahe eines fiktiven Dorfes in den Mittelpunkt stellt.
Dürrenmatt selbst gehört nicht zu den Autoren, die Figuren und Landschaft ausführlich beschreiben. Seine Prosa lebt vielmehr von der Spannung, die er durch die Handlungen seiner Figuren erzeugt.[i]
Eben weil er sich grundsätzlich auf wenige wiederkehrende Begriffe beschränkt, verdienen die Angaben zu Ort, Tageszeit sowie die Wetter- und Lichtverhältnisse in Dürrenmatts Romanen eine besondere Aufmerksamkeit. Der vorliegende Aufsatz verfolgt das Ziel, die Darstellung des Waldes als Ort des Verbrechens zu analysieren und anhand seines literarischen Einsatzes einen Rückschluss darauf zu ziehen, wie durch den Einsatz der Natur der Tatort eines Verbrechens inszeniert werden kann.
Naturdarstellungen im Kriminalroman – vernachlässigt in der Forschung
Die literaturwissenschaftlichen Bemühungen um eine Betrachtung der Naturdarstellungen im Kriminalroman sind quantitativ beschränkt. Das mag unter anderem daran liegen, dass die meisten Verbrechen in der Literatur an Schauplätzen verübt werden, die vom Menschen geschaffen sind – und weniger an Orten, die umgangssprachlich als natürlich bezeichnet werden können.[ii] Der Gruselfaktor entsteht nämlich – da ist sich die Literaturforschung einig – aus dem abrupten Fremdwerden des Bekannten, aus dem Brechen der Regeln der eigenen Realität.[iii] Aus diesem Grund greifen Autoren der Kriminalliteratur meistens auf Großstädte oder andere urbanisierte Orte zurück, um diesen Bruch mit der Realität effektiv umsetzen zu können.
Wie sieht es aber mit den wenigen Beispielen aus, die ihren Schauplatz nicht innerhalb der Zivilgesellschaft wählen? Lisa Kröger ist eine der wenigen Literaturwissenschaftlerinnen, die die Bedeutung der Natur im Schauerroman, einem wichtigen Vorläufer in der Entstehungsgeschichte der Kriminalliteratur, hervorhebt: „While much is made about the Gothic edifices, such as the ancient estate or the crumbling castle, the environment, often seen in the Gothic forest, plays just as integral a role in these novels.“[iv] Kröger veranschaulicht aber nicht nur einen Kontrast zwischen internen und externen Schauplätzen, sondern zeigt auch Unterschiede der Naturbeschreibungen innerhalb der Gattung auf. So untersucht sie die Darstellung der Natur in Anne Radcliffes Roman The Mysteries of Udolpho (1794) und stellt sie dem Naturkonzept von Matthew Lewis’ The Monk (1796) gegenüber. Dabei zeigt sich, dass beide Autoren die Natur trotz der gleichen Gattungszugehörigkeit unterschiedlich darstellen.[v] Während bei Radcliffe die spirituelle Auffassung im Vordergrund steht, in der die Natur für die Figur als ein Ort des Trosts, der Erneuerung und des Schutzes fungiert, entspricht die Natur bei Lewis einem feindlich gesinnten Bereich und wird in seinen Romanen als furchterregende Wildnis dargestellt.
Friedrich Dürrenmatt – entgegen der Norm des Kriminalromans
Wir halten fest, dass eine Darstellung von Gewalt und Verbrechen in der Natur, also an Orten abseits der urbanisierten Welt, in der Kriminalliteratur eher untypisch ist. Friedrich Dürrenmatt durchbricht diese Norm in seinem Roman Das Versprechen, in dem er einen Wald zum Schauplatz des Verbrechens macht und dort seine Figuren Mord und Misshandlungen an Kindern begehen lässt. Damit sticht der schweizerische Autor aus dem großen Korpus der Kriminalliteratur heraus. In der Forschungsliteratur des Krimi-Genres ist Dürrenmatt aber nicht nur aufgrund seiner ungewöhnlichen Schauplatz-Wahl viel diskutiert: auch seine Art und Weise, mit dem Spiel zwischen Detektiv und Täter umzugehen, ist ungewöhnlich für die Gattung. Seine Detektive sind zumeist keine großen Analysten wie etwa seine berühmten Vorgänger Sherlock Holmes oder C. Auguste Dupin, die die ihnen vorgesetzten Rätsel zuverlässig und mit viel Beifall am Ende jeder Geschichte lösen. In Das Versprechen ist der Ermittler Matthäi ein kurz vor dem Ruhestand stehender, dem Alkohol zugeneigter und schließlich wahnsinnig werdender Kommissar, der zwar am Ende die richtige Spur verfolgt, es jedoch durch einen unerwarteten Zufall trotzdem nicht schafft, den Kinderschänder zu fassen.
Auch mit Blick auf seine weiteren Kriminalromane ist und bleibt Dürrenmatt innerhalb der Kriminalliteratur des 20. Jahrhunderts besonders interessant, da er in seinen Werken die Probleme des Rechtsbruchs und der Rechtsverwirklichung thematisiert. Er versucht sich an einer Unterscheidung zwischen dem trivialen Bösen als Verbrechen, das aus menschlichen Motiven erklärbar ist, und dem radikalen Bösen, dessen Verbrechen die Möglichkeiten einer bindungslosen, also inhumanen Freiheit beweisen würde. Dürrenmatt wirft unter anderem die Frage auf, ob die Rechtsverwirklichung gegen das radikal Böse einen Rechtsbruch des Ermittelnden legitimiert, wenn der Schuldige nur auf diese Weise zu überführen ist.[vi] In seinem Roman Der Verdacht (1953) entscheidet sich der Detektiv für einen Rechtsbruch und auch sein Komplize, der Jude Gulliver, proklamiert, dass ein scharfer Verstand allein nicht mehr ausreiche, einen Verbrecher zu stellen.
Dieser eben genannte Disput und die Frage, ob der Zweck wirklich alle Mittel heilige, bilden auch das Grundgerüst von Dürrenmatts Detektivroman Das Versprechen. Hier führt er nicht allein die Figur des Detektivs, sondern das Muster der gesamten Gattung ad absurdum. Die Rahmenhandlung des Romans wird zur Erklärung genutzt, dass die Wirklichkeit durch den Zufall bestimmt werde und sich nicht reiner Logik unterwerfe. So schlägt der vorher logisch durchdachte Plan von Matthäi, den Kindsmörder zu überführen, aufgrund zufälliger Ereignisse fehl und Matthäi selbst versinkt im Wahnsinn.
Wald als Tatort im Kriminalroman „Das Versprechen“
Die erzähltechnische Besonderheit dieses Kriminalromans ist die Einbettung der Handlung in eine Rahmenerzählung.[vii] Der homodiegetische Erzähler, ein Krimi-Autor, trifft nach einem Vortrag auf den ehemaligen Kommandanten des Kantons Zürich Dr. H.. Dieser erzählt ihm die Geschichte seines ehemals fähigsten Detektivs Dr. Matthäi, der auf der Suche nach dem Mörder eines Mädchens dem Wahnsinn erlag. Anders als in einem Großstadtroman begibt sich Matthäi nicht in einen weiten Raum, um durch dynamische Detektivhandlungen dem Täter auf die Spur zu kommen. Stattdessen konstruiert er sich einen eng begrenzten Raum, der aufgrund seiner Lage und Merkmale für ihn geeignet erscheint, das Verbrechen zu überführen: der Wald, in dem der Mord stattgefunden hat, und eine in der Nähe liegende Tankstelle. An diesen beiden Schauplätzen spielt sich das Geschehen hauptsächlich ab. Die Tankstelle erscheint Matthäi als Falle zur Überführung des Täters bestens geeignet, da sie an der Verbindungsstraße zwischen Graubünden und Zürich liegt, von der er vermutet, dass der Mörder sie regelmäßig überqueren muss. Zudem liegt sie direkt am Waldgebiet, in dem das Mädchen Gritli Moser getötet wurde, und bietet sich nach Matthäis Überzeugung für einen potentiellen weiteren Mord an. Matthäi weist den Räumen des Romans also Rollen zu: Es findet sich zum einen die Tankstelle als Kontrollpunkt, vom dem aus er die Straße und die Autofahrer überblicken kann, zum anderen der Wald als Möglichkeit für einen weiteren Mordversuch. In diesem strengen Rollendenken verharrt er auch bis zuletzt, sodass die beiden Räume allseits präsent sind. Die Darstellungen dieser Orte erfolgen nicht durch Matthäi selbst, sondern durch den Erzähler der Rahmenhandlung, also von einer bereits erzählten Geschichte des Doktor H.. Dieser Umstand bedeutet, dass sich der Detektiv Matthäi nicht über seine Ortswahrnehmung charakterisieren lässt und die Erzählung so eine distanzschaffende Perspektive behält.
Das Bemühen um Wirklichkeitsnähe beim Darstellen der Schauplätze ist bei Dürrenmatt deutlich zu erkennen. Wie bei all seinen Kriminalerzählungen verankert er die Handlung in einer „realen Schweiz“[viii] und konkretisiert die Lokalität mit einem authentischen Stadtnamen: Mägendorf. Auffallend dabei ist, wie viele Details der Leser vom Dorf beim ersten Erwähnen im Gegensatz zum Wald erhält. So erfährt der Leser bereits früh, dass im Dorf vorrangig Bauern leben, die sich untereinander alle zu kennen scheinen; dass sie sich oft nicht ganz gesetzestreu verhalten, da sie die umliegenden Wälder widerrechtlich nutzen, und zur Selbstjustiz neigen. Die Beschreibungen des Waldes hingegen, als enger Raum innerhalb des großen, realistisch konstruierten Dorfes, fallen bei dessen erster Erwähnung eher spärlich aus.
Einführung des Waldes im Roman
Die Einführung des Waldes erfolgt in der Binnenerzählung nach dem Treffen zwischen Matthäi und dem Hausierer von Gunten. Dieser hatte im Wald ein totes Mädchen aufgefunden und die Polizei kontaktiert. Mit der direkten Rede „So, und nun zeigen Sie uns, was Sie im Walde gefunden haben“ wird die Erzählung zum Wald übergeleitet.[ix] Bis zum Fund der Leiche fallen die Beschreibungen des Waldes jedoch spärlich aus. Anhand von allein zwei Sätzen kann sich der Leser einen ersten Eindruck von der Beschaffenheit des Schauplatzes machen:
Sie gingen durchs nasse Gras, da der Weg zum Wald ein einziger schlammiger Tümpel war […]. Von den tosenden Bäumen fielen immer noch große silberne Tropfen, glitzerten wie Diamanten (V, 20).
Aufgrund der Witterung ist der Wald für die Polizisten schwer zu erreichen, der schlammige Boden und die Tropfen auf den Bäumen sowie das Laub deuten auf die Herbstsaison hin. Den leblosen Körper des Mädchens finden die Polizisten „zwischen den Bäumen, nicht weit vom Waldrand entfernt, im Laub“. Bei dem Wald handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Laub- und Mischwald, so erwähnt der Erzähler, dass der polizeiliche Assistent Henzi sich bei dem Anblick der Leiche an eine Buche lehnen muss. Später werden des Weiteren Tannen erwähnt (V, 119). Nähere Beschreibungen zum Tatort oder zum Wald werden dem Leser nicht weiter gegeben. Nachdem die Charaktere den Tatort betreten haben, taucht das Lexem Wald lediglich ein einziges Mal in Verbindung mit einer Determinativkomposition auf. Dürrenmatt legt hier bei seiner Erzählung also den Fokus darauf, was geschehen ist, und bleibt mit seiner Raumdarstellung eher zurückhaltend.
Mit dem Fund der Leiche wird der Wald für den Leser offiziell als Tatort und als Schauplatz des Verbrechens markiert. Die wenigen Anmerkungen beschreiben den Wald als einen Ort fernab der Zivilisation, der von Menschen nicht häufig aufgesucht wird. Die Nässe und Kälte in Kombination mit dem Fund der Leiche erwecken eine düstere Atmosphäre, in die sich der Leichnam einfügt. Man spürt hier Dürrenmatts Bemühen um Realität ganz deutlich, da er mit seinen Darstellungen sachlich-objektiv und weniger subjektiv-wertend den Tatort beschreibt. In der Tat wirkt der Wald durch die Witterung bzw. deren Folgen trist und ungemütlich. Dieser naturgegebene Umstand wird jedoch nicht durch weitere Instanzen ausgeschmückt, die der Umgebung eine zusätzlich unheimliche Atmosphäre vermitteln könnten. Einzig die nähere Beschreibung des Leichnams, der im Gebüsch liegt, „durchtränkt von Blut und Regen“ (V, 23) lässt auf eine Gewalttat im Wald schließen. Das bedeutet demnach, dass der Wald aus sich heraus eine düstere Atmosphäre produziert und nicht durch den Erzähler zu einem unheimlichen Ort gemacht wird.
Auffallend bei der Darstellung des Waldes sind dabei vereinzelte Märchenmotive, die sich durch die Handlung und den Mordfall des Romans ziehen. Als besonders herausstechend scheint dabei das rote Röckchen, das Gritli Moser bei ihrem Tod getragen hat. Als Anlehnung an das grimmsche Rotkäppchen zieht sich das Motiv durch den gesamten Roman. Wecken diese Hinweise beim Leser eine Assoziation mit der kindlich-vertrauten Märchenwelt, kann diese Erkenntnis und die Zerstörung der Ordnung des (Märchen-)Waldes als Element der Spannung mitwirken. Diese Spannung entsteht dadurch, dass die gewohnte und vermeintlich sichere Realität Schauplatz eines Verbrechens wird und sich somit eine neue Realität etabliert, in der sich der Mensch erst zurechtfinden muss.
Das Warten auf den Mörder im Wald
Abschließend wird der Wald aus einer anderen Perspektive betrachtet. Der gleiche Wald, der zuvor als Tatort eines vergangenen Verbrechens analysiert wurde, nimmt hier die Rolle eines möglichen Tatorts an. Die Beschreibung möglicher Tatort wurde deshalb gewählt, da der Wald in dieser Szene von Matthäi und den Polizisten genutzt wird, um den Täter in eine Falle zu locken und ihn so zu überführen. Annemarie Heller, die Tochter von Frau Heller, beide hatte Matthäi aufgenommen und finanziell unterstützt, dient dabei – ohne es zu wissen – als Lockvogel.
Der Wald ist in dieser Szene nach seiner Einführung das erste Mal wieder Schauplatz der Handlung. Der Erzähler der Binnenerzählung, Dr. H., ist dieses Mal vor Ort und schildert dem Leser die näheren Umstände des Ortes und der Handlung:
Es war ein heller Herbsttag, heiß, trocken, überall das Gesumm von Bienen und Wespen und anderen Insekten, Vogelkreisch, ganz von fern hallende Axtschläge. Zwei Uhr, deutlich waren die Glocken vom Dorfe her zu hören (V, 118).
Im Anschluss dieser Einführung wird auf das Mädchen, Annemarie, aufmerksam gemacht, das „mühelos, hüpfend, springen“ zum Bach läuft und sich niederlässt. Diese Position nimmt sie in der Erzählung Tag für Tag ein, dabei „ohne Unterlaß gegen den Wald“ schauend, „aufmerksam, gespannt, mit glänzenden Augen“ (ebd.). Während sie dort sitzt und wartet, nutzen die bewaffneten Polizisten die Büsche und Sträucher, um im Verborgenen zu bleiben. Weiterhin ist der Wald an seinen Grenzen überwacht und abgesperrt. Außer dem Summen der Insekten, dem Trillern der Vögel und dem Mädchen, das ab und an zu singen anfängt, gibt es keine weitere Geräuschkulisse. Während der Erzähler im Gebüsch sitzt, geht er regelmäßig auf seine Umgebung ein. So schreibt er am ersten Tag des Wartens:
manchmal, nur in unvermittelten Stößen, brauste der Wind über die Lichtung her, Laub tanzte auf, raschelte, und dann war es wieder still. Wir warteten. Es gab für uns nichts mehr in der Welt als diesen durch den Herbst verzauberten Wald mit dem kleinen Mädchen im roten Rock auf der Lichtung (V, 119).
Die Handlung der Binnenerzählung besteht aus dem Warten auf den Täter im Wald. Das „herrliche Herbstwetter“ hält nach Auskunft des Erzählers immer noch an, „stark, farbig, voll Nähe, ein Kraftstrotzen vor dem Verfall“ (V, 122). Je länger die Polizisten jedoch im Wald warten und Annemarie, die jeden Tag aufs Neue erscheint und sich an den Bach setzt, beobachten, verändern sich die Waldbeschreibungen des Erzählers. So berichtet er, nachdem er eine Woche lang zusammen mit seinen Kollegen erfolglos auf den Mörder gewartet hat:
Es war zum Wahnsinnigwerden. Alles war da, wie es immer war, stupid, sinnlos, trostlos, nur daß das Laub sich immer mächtiger häufte, die Windstöße sich vielleicht mehrten und die Sonne noch goldiger über dem idiotischen Abfallhaufen lag; es war nicht mehr zum Ertragen […] (V, 123).
Nach diesem Stimmungswechsel kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen den im Wald wartenden Polizisten und Annemarie. Sie kommen aus ihrem Versteck hervor und prügeln auf das Mädchen ein, als sie ihnen keine weitere Auskunft über ihr Treffen mit dem „Igelmann“ (V, 65) preisgeben will. Von diesem Zeitpunkt an rücken der Wald und der Schauplatz allgemein in den Hintergrund und die Handlung wird wieder zentral.
Die detaillierten und häufigen Beschreibungen des Waldes unterstreichen den langwierigen Vorgang des Wartens. Verstärkt wird dieser Effekt durch Beschreibungen der Dämmerung: „Es wurde fünf; die ersten Schatten, dann die Dämmerung, das Verblassen, das Stumpfwerden all der leuchtenden Farben“ (V, 119). Die Figuren sind in dieser Szene wenig aktiv und verharren hauptsätzlich in einer einzigen Position. Dennoch erhält der Leser im Gegensatz zur Einführung des Waldes deutlich mehr Details zum Raum und dem Wald per se. Die Distanz zwischen Ich-Erzähler und Natur ist dieses Mal geringer, wobei die Tatsache, dass der Erzähler im Gegensatz zur vorigen Wald-Szene dieses Mal Teil der Handlung ist, entscheidend zu den Darstellungsmöglichkeiten des Raumes beiträgt.
Der Wald kann in dieser Szene aus zwei Perspektiven mit jeweils unterschiedlichen Funktionen betrachtet werden: Für Annemarie ist der Wald ein Ort der Freude. Sie erscheint jeden Tag, sitzt „fast unbeweglich, voll staunender, banger, wundervoller Erwartung“ (V, 118) am Bach und ist sich keiner Gefahr bewusst. Für die Polizisten hingegen stellt der Wald einen Ort der Angst und Anspannung dar. Wald und Mädchen fungieren für sie als ein Mittel zum Zweck, um ein weiteres Verbrechen zu verhindern und den Serienmörder zu entlarven. Diese beiden entgegengesetzten Standpunkte geraten in Konflikt, als sich die Polizisten Annemarie zu erkennen geben. Das Mädchen kann aufgrund ihrer Sichtweise den Ernst der Lage nicht erkennen, auch dann nicht, als Matthäi ihr den Fall von Gritli Moser erklärt und die Gefahren vor Augen führt: „Und dann ist das Mädchen mit dem großen Manne in den Wald gegangen, und dann hat der große Mann das Mädchen mit dem Messer getötet“ (V, 124). In diesem Abschnitt zeigt sich das wiederkehrende Märchenmotiv, das bereits zuvor thematisiert wurde. Das naive Kind, das mit Schokolade in den Wald gelockt und dort getötet werden soll, findet sich neben dem erwähnten Rotkäppchen auch unter anderem im grimmschen Hänsel und Gretel wieder. Der Wald und die Natur dienen in dieser Szene weniger als Unterstützer einer unheimlichen Atmosphäre. Vielmehr stellt der Wald einen Raum dar, dessen Handlung mit Spannung aufgeladen ist. Die Gegenüberstellung der Heiterkeit des Waldes mit der ernsten Situation der Polizisten hat beinah etwas Groteskes, das sich zum einen durch seine realitätsgetreue Darstellung und zum anderen durch einen stetigen Aufbau der literarischen Spannung ausdrückt.
Fazit
Mord, Raub und andere Verbrechen werden in der Kriminalliteratur in der Regel an urbanisierten, vom Menschen geschaffenen Orten verübt. Die wenigen Ausnahmen, die mit dieser Norm brechen und für Ihre fiktiven Gräueltaten andere Schauplätze wählen, stechen dabei besonders heraus – so unter anderem Friedrich Dürrenmatt, der sich mit seinen Kriminalromanen auf unterschiedlichen Ebenen bewusst den Regeln des Detektivromans des 19. Jahrhunderts widersetzt.
Sein Roman Das Versprechen zeichnet sich durch eine komplexe Raumgestaltung aus, in der der Wald als Tatort im Mittelpunkt der Handlung steht. Er dient jedoch nicht kriminalliterarisch als Träger wichtiger gegenständlicher Spuren, mit deren Hilfe der Detektiv Matthäi Rätseln nachgeht, um am Ende zur Lösung des Falls zu gelangen. Die Spannung entsteht vielmehr durch eine „Anspannung des anstrengenden Wartens“[x], indem Matthäi an der Tankstelle verweilt und mit den Polizisten im Wald tagelang auf den Mörder wartet. Der Wald und seine Darstellung nehmen dabei einen bedeutsamen Einfluss auf den Auf- und Abbau von dramaturgischer Spannung. Zwar steht die Darstellung des Schauplatzes nicht im Fokus des Narrativs, jedoch wird er als Mittel genutzt, um einzelne Höhepunkte der Handlung zu kennzeichnen. So dient er zum einen als Fundort der Leiche zu Beginn des Romans, zum anderen ist er Schauplatz eines präsenten Verbrechens, als die Polizisten dem Mädchen Annemarie gegenüber Gewalt ausüben. Auffällig dabei ist, wie unterschiedlich der Wald in beiden Szenen dargestellt wird. Bei seiner Einführung in der Erzählung wird dem Wald wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die vorhandenen Beschreibungen erwecken dabei passend zum Fund der Leiche einen traurigen Eindruck. In der Szene der Observation im Wald, die als Höhepunkt des gesamten Romans betrachtet werden kann, geht der Erzähler bei seiner Raumbeschreibung mehr ins Detail. Anders als in der Einführung des Waldes handelt es sich hierbei jedoch nicht um einen Spannungsaufbau durch eine unheimlich gestaltete Umgebung. Vielmehr entsteht die Spannung durch das Aufbauen von Erwartungen, die durch die realitätsnahe Beschreibung der Natur untermauert werden. Der Wald wirkt so auf unterschiedliche Weisen als Tatort, entweder um eine unheimliche Atmosphäre zu erzeugen oder einen narrativen Spannungsaufbau zu unterstützen.
[i]Vgl. Marita Alami, Die Bildlichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Computergestützte Analyse und Interpretation mythologischer und psychologischer Bezüge, Köln 1994, 153.
[ii]Vgl. Ursula Kluwick, Die unheimliche Natur. In: SchwabScantechnik u.a. (Hg.), Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen 2017, 181–194.
[iii]Vgl. Jerrold E. Hogle, Introduction. The Gothic in Western Culture. In: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Gothic Fiction. Cambridge 2002, 1–20.
[iv]Lisa Kröger, Panic, Paranoia and Pathos. Ecocriticism in the Eighteenth-Century Gothic Novel. In: Andrew Smith, William Hughes (Hg.), EcoGothic. Manchester (2015), 15–27.
[v]Vgl. Ursula Kluwick, Die unheimliche Natur. In: SchwabScantechnik u.a. (Hg.), Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, Göttingen 2017, 181–194.
[vi]Vgl. Peter, Nusser, Der Kriminalroman [4. akt. und erw. Aufl.], Stuttgart 2009, 110.
[vii]Vgl. Melanie Wigbers, Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg 2006, 121.
[viii]Ebd., 127.
[ix]Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman, München 1978, 20. Das Werk wird im weiteren Text mit der Sigle V nachgewiesen.
[x]Wigbers, Krimi-Orte im Wandel, 128.