Ein Blog für Aufsätze des Germanistischen Institutes der MLU Halle

Darstellung und Funktion jüdischer Identität in der Literatur der DDR – Leonie Brommer

Leonie Brommer

Darstellung und Funktion jüdischer Identität in der Literatur der DDR

am Beispiel des Romans Der Boxer von Jurek Becker

Einleitung

Von zehntausend Antifaschisten, die es in Nazideutschland gegeben haben mag, lebten allein acht Millionen in der DDR.[1]

Dieses Zitat des Schriftstellers Jurek Becker aus dem Jahr 1994 kommentiert den Umgang der DDR mit den Verbrechen der Nationalsozialist:innen während des Zweiten Weltkrieges und den antifaschistischen Gründungsmythos auf bittere, ironische Art. Beckers Haltung wird durchaus auch von anderen Kolleg:innen geteilt. So äußert sich der österreichisch-jüdische Schriftsteller Fred Wander in einem Brief an eine Freundin kritisch über den immer noch vorherrschenden Antisemitismus in der Haltung jener Menschen, die sich Jahre zuvor noch als überzeugte Anhänger:innen des Nationalsozialismus verstanden hatten.[2] Die Kontrastierung der Positionen der Schriftsteller Wander und Becker mit der der DDR eröffnet ein Spannungsfeld, welches sich aus dem Selbstverständnis eines Staates und den Wahrnehmungen der darin lebenden Individuen begründet. Dieses Spannungsverhältnis lässt die Frage zu, ob und durch welche literarischen Mittel Autor:innen in ihren literarischen Werken Kritik an der DDR üben und wie sie jüdisches Leben in der DDR thematisieren. Anhand des Romans Der Boxer von Jurek Becker aus dem Jahr 1976 soll deshalb den Fragen nachgegangen werden, wie die Darstellung zentraler jüdischer Lebensentwürfe erfolgt und wie diese mit dem Leben in der DDR zu vereinen sind.

Um diese Fragen beantworten zu können, soll zunächst eine Annäherung an das (antifaschistische) Selbstverständnis der DDR versucht werden. Im zweiten Schritt soll der Blick auf das Leben von Jüd:innen in der DDR geworfen werden, wobei besonders prävalente jüdische Lebensentwürfe im Zentrum stehen sollen. Im nächsten Schritt geht es um das Thema der jüdischen Identität in Jurek Beckers Roman Der Boxer. Daran anschließend soll die Figur Aron Blank im Hinblick auf ihre Lebensumstände und Beziehungen anhand von ausgewählten Textstellen analysiert und interpretiert werden. Darauffolgend sollen die Figuren Abraham Kenit und Mark Berger/Blank anhand der eben genannten Analysekriterien vergleichend untersucht werden. Auf diese Weise soll herausgearbeitet werden, wie in dem Roman anhand der Figuren und der Erzählsituation Kritik an der DDR geübt wird. Schließlich wird ein Fazit gezogen und die oben gestellten Fragen beantwortet, wie die Darstellung zentraler jüdischer Lebensentwürfe erfolgt, und wie diese mit dem Leben in der DDR zu vereinen sind.

Das (antifaschistische) Selbstverständnis der DDR

Laut Wolfgang Emmerich muss die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik in einem zweifachen Rahmen betrachtet werden. So sei einerseits von einem Gründungsmythos zu sprechen, welcher sich klar gegen das NS-Regime und den „deutschen Faschismus“ positionierte[3] und das NS-Regime zudem „als zu überwindenden Tiefpunkt der deutschen Geschichte“ deklarierte.[4] Andererseits habe sich der Gründungsmythos auch gegen den kapitalistischen Westen gerichtet, der als Zentrum von Ausbeutung und neuem Faschismus gesehen wurde. Aus diesem doppelten Widerstand gegen diesen ‚Faschismus‘ resultierte ein Selbstverständnis, welches die Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft als einzige Lösung dieser beiden Probleme ansah. Dies sei jedoch nur mithilfe einer „antifaschistischen-demokratischen Neuordnung“ möglich gewesen.[5]

Dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen nach werden als „antifaschistische-demokratische Neuordnung“ oder „antifaschistische-demokratische Ordnung“ die Modifikationen in gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen betrachtet, welche im Zeitraum von 1945 bis 1949 stattfanden. Während dieser Zeitspanne sei von einem Wechsel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sprechen, in der gleichzeitig die Grundlagen für einen sozialistischen Staat geformt wurden. Sowohl das Bestehen der UdSSR als auch der Sieg über den Nationalsozialismus seien als grundlegende Annahmen für die Existenz der „antifaschistischen-demokratischen Ordnung“ zu verstehen.[6] Als zentrale Motive der DDR sind demnach eine demokratische Neuordnung, der Aufbau des Sozialismus und der Antifaschismus anzusehen.[7] So seien beispielsweise die Verbrecher:innen des Nationalsozialismus in den Nachkriegsjahren in der DDR vehementer überprüft und bestraft worden, als es in der Bundesrepublik der Fall gewesen sei.[8] Weiterhin war ein erneutes Aufkommen von „Faschismus“ und Antisemitismus von Politiker:innen der DDR wiederholend verneint worden.[9]

Anja Thiele zufolge weitete sich ab dem Jahr 1949 jedoch vor allem die marxistisch-leninistische Faschismustheorie in der DDR aus, was zur Folge hatte, dass eine kleine Elite aus der Finanz- und Industriewelt zu den Verantwortlichen des Nationalsozialismus erklärt wurde. Daraus resultierte zum einen die Schuldfreiheit großer Teile der deutschen Bevölkerung und zum anderen eine Interpretation, welche die Bevölkerung der DDR retrospektiv als „Faschismus“ bekämpfende kommunistische Bürger:innen idealisierte, was die Aufarbeitung des Antisemitismus und des Nationalsozialismus nahezu unmöglich machte. Diese Ansicht habe auch der sogenannten marxistisch-leninistischen Faschismustheorie entsprochen, die Kommunist:innen als zentrales Feindbild des Nationalsozialismus deklarierte.[10] Thiele zieht deshalb den folgenden Schluss:

Zwar wurde die Judenverfolgung in der DDR nicht geleugnet, sie wurde jedoch in ihrer eliminatorischen Spezifik verkannt und als Fußnote unter eine allgemeine Verfolgung subsumiert, wobei die offizielle Erinnerung auf den heldenhaften kommunistischen Widerstand verengt wurde.[11]

Jüdische Identität und Lebensentwürfe in der DDR

Ausgangspunkt für eine Annäherung an jüdische Identitäten in der DDR muss sein, dass sich jüdisches Leben in der DDR durch seinen Pluralismus auszeichnete.[12] Das Verhältnis zwischen Juden und Jüdinnen und der DDR war besonders von den eigenen politischen Grundsätzen und der individuellen Weltanschauung bestimmt.[13]

Nach dem Zweiten Weltkrieg trafen nur wenige Juden und Jüdinnen den Entschluss, in die DDR zu ziehen. So zählten die Gemeinden im Jahr 1945 nur 3100 Mitglieder und nicht einmal zehn Jahre später lediglich 2600 Mitglieder. Der Slánskyprozess im Jahr 1952 und die daraus resultierenden Sanktionen und Zwangsmaßnahmen für Juden und Jüdinnen könnten als eine Ursache für die Verringerung der Mitgliederzahlen gesehen werden, da diese Grund für zahlreiche Fluchtbewegungen in den Westen waren.[14] Schoeps merkt jedoch auch an, dass ein Großteil der Juden und Jüdinnen eine Entfremdung von der Glaubensgemeinschaft erlebte. Zurückzuführen ist dies auf die Tatsache, dass die Jüd:innen in der Thematisierung des „Jüdisch-seins“ oder in der Mitgliedschaft in einer Gemeinde keine Notwendigkeit sahen, da sie der Identifizierung als Sozialist:innen einen höheren Stellenwert zusprachen.[15] Viele der aus der Emigration zurückgekehrten Jüdinnen und Juden verfolgten die Hoffnung, sich bei dem Aufbau eines neuen Deutschlands beteiligen zu können.[16] Es handelte sich um eine willentlich getroffene Entscheidung mit dem konkreten Ziel, den Sozialismus in Deutschland aufzubauen,[17] und um die Überzeugungen, dass die DDR konsequentere Lektionen aus den Erlebnissen der Vergangenheit gezogen habe und die Bundesrepublik keine Alternative böte.[18]

Aus dieser Überzeugung heraus übernahmen zahlreiche Juden und Jüdinnen beispielsweise Posten in Ministerien oder öffentlichen Ämtern, aber auch Positionen im SED-Parteiapparat.[19] Doch ob die ‚jüdische Herkunft‘ nicht auch ein Ausschlusskriterium war, ist umstritten: Einerseits wird die Beteuerung der antifaschistischen Grundhaltung sowie die aufrichtige Loyalitätsbekundung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht unabhängig von der ‚jüdischen Herkunft‘ für das Wirken im SED-Parteiapparat als ausreichend dargestellt,[20] wobei das geringe Gefahrenpotenzial, welches aufgrund bestimmter Eigenschaften der jüdischen Gemeinden, wie des hohen Alters und der geringen Zahl der Mitglieder, von ihnen ausginge, als Erklärung dieser Position diente.[21] Andererseits wird mit Blick auf die Tradition der kommunistischen Arbeiterbewegung betont, dass Juden und Jüdinnen zu Gunsten einer kommunistischen Identität auf ihre jüdische Identität verzichten sollten und müssten.[22] Es ist deutlich erkennbar, dass Jüd:innen, insbesondere die mit kommunistischer Überzeugung, vor allem in der Politik und im Kulturbereich und weniger in Bereichen der Staatssicherheit aufzufinden waren.[23] Sie könnten als Repräsentanten, die „einem kleinen Teilstaat von zweifelhafter Legitimität, begrenzter Souveränität und fehlender diplomatischer Anerkennung im Westen ihre Stimme [leihen]“,[24] verstanden werden. Ihre Gegenwärtigkeit im öffentlichen Diskurs ging auch mit Privilegien einher, die im Gegensatz zu anderen Personen des öffentlichen Lebens ausschließlich auf ihre Leistung zurückzuführen waren und nicht auf die öffentliche Bekanntheit.[25]

Diese Privilegien waren jedoch sehr begrenzt, da sich die Beziehung zwischen den Gemeinden, ihren Mitgliedern und der DDR komplex gestaltete. Dies war darin begründet, dass die DDR den Juden und Jüdinnen lediglich den Status einer Religionsgemeinschaft zuschrieb und nicht den einer politisch aktiven Gemeinschaft.[26] Daraus resultierten niedrige Unterstützungsleistungen[27] und Kontakteinschränkungen zu israelischen Positionen.[28] Die politischen Auffassungen der Jüd:innen sind retrospektiv allerdings schwer zu beurteilen, da sich die Forschung nur auf offizielle Dokumente der DDR stützen kann. Trotzdem wird deutlich, dass sich die jüdische Gemeinschaft vorrangig mit den traumatischen Erlebnissen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat.[29]

Jüdische Identität in Der Boxer von Jurek Becker

Jurek Becker vereint in seinem Roman Der Boxer verschiedenste jüdische Figuren und Lebensentwürfe, die sich insbesondere in ihren Beziehungen zum Judentum, aber auch in ihrem Verhältnis zur Nachkriegsgesellschaft unterscheiden, sich jedoch in ihren traumatischen Erlebnissen und Erfahrungen einen. In Der Boxer erzählt Becker die Geschichte von Aron Blank, der die Shoah überlebte, sich auf die Suche nach seinem Sohn macht und seinen Platz in der Gesellschaft finden muss.

In dem Roman werden drei jüdische Figuren präsentiert: Aron Blank, Abraham Kenit und Mark Berger, auch Blank genannt. Die Handlung zentriert sich um die Figur des Aron Blank, was daran deutlich wird, dass die anderen beiden Figuren nur in der Gegenwart von Aron präsent sind. Die drei Männer werfen ein thematisch breites Feld auf, welches von der Integration in die Nachkriegsgesellschaft bis hin zur Flucht nach Israel reicht.[30] Diese heterogene Darstellung der jüdischen Gemeinschaft in der Literatur ist charakteristisch für Beckers Schreiben. Auch in seinem vorherigen Roman Jakob der Lügner bildete diese Darstellung die Grundlage und machte die Selbstbestimmung der Juden und Jüdinnen in der Literatur möglich.[31]

Neben den Figuren und ihren Namen gibt es auch sprachliche Verweise auf die jüdische Identität. So nutzt die Figur des Aron Blank das Wort meschugge während er sich Gedanken um den Zustand seines Sohnes macht.[32] Das Wort meschugge wird auf das Jiddische zurückgeführt und ist als Synonym für das Adjektiv verrückt zu verstehen.[33] Da es einen treffenden deutschen Terminus für das Wort zu geben scheint, ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine bewusste Entscheidung für den Gebrauch jiddischer Sprache handelt. Außerdem wird dieser nicht in der Öffentlichkeit genutzt, da es sich um einen Gedanken Arons handelt, der einzig und allein in seinem Kopf existiert. Die Thematisierung der jüdischen Identität durch die Verwendung jiddischer Worte scheint demnach nur im Verborgenen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu geschehen.

Aron Blank

Der Name des Protagonisten Aron Blank kann als ein weiterer Hinweis auf eine ‚jüdische Herkunft‘ gelesen werden. Der Vorname Aron trägt dabei Bedeutung, weil er mit der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1939 auf eine Liste mit ‚typischen‘ jüdischen Vornamen gesetzt wurde.[34] Dadurch ist es Menschen, die Teil der damaligen Gesellschaft waren und sich dieser Verordnung bewusst sind, möglich, die ‚jüdische Herkunft‘ anhand eines bestimmten Namens zu vermuten. „Er wußte zwar, daß längst nicht jeder in der Lage war, aus solchen Namen Schlüsse zu ziehen, nur Eingeweihte konnten das, aber auf die kam es ja an“ (B, 18f.). Aus Sorge, dass sein Vorname Rückschlüsse auf seine jüdische Identität zulässt, gibt er beim Ausfüllen des Fragebogens für die Beantragung eines Ausweises anstelle seines Vornamens den Namen Arno an. In seinem Nachnamen wiederum sieht er keinerlei Gefahr, denn „Blank konnte jeder heißen, Blank war kein besonderes Kennzeichen“.[35] Mit der Namensänderung zeigt sich auch, dass Aron den wiederholenden politischen Versprechungen, ein erneutes Aufkommen des Antisemitismus zu verhindern,[36] keinen Glauben schenkt.

In der Änderung seines Vornamens sieht er die erste Möglichkeit, seine Vergangenheit für andere Menschen und für sich selbst unsichtbar zu machen und seine Verbindungen zum Judentum zu lösen.

Auch, wenn die Namenswahl von Aron mit einem einfachen Verweis auf einen Tippfehler erklärt werden kann (vgl. B, 18f.), ist auch der Name Arno von tieferer Bedeutung. So kann der Vorname mit der wie ein Adler herrschende übersetzt werden.[37] Der Adler wird gemeinhin mit Macht, Stärke und Freiheit gleichgesetzt, aber auch mit der Auferstehung.[38] Arons Namensänderung kann durchaus unter diesen Gesichtspunkten gelesen werden. Es ist ein Akt der Emanzipation, weil Aron die Kraft und den Mut zur partiellen Selbstbestimmung findet und wieder zum Leben erwacht.

Einen anderen Befreiungsakt stellen die weiteren Veränderungen seiner personenbezogenen Daten dar. Die Änderung seiner Geburtsdaten um sechs Jahre stellt den Versuch dar, die vergangenen sechs Jahre, die er im Konzentrationslager verbrachte, aus seinem Leben zu streichen (vgl. B, 19f.). Durch die Verschiebung seines Geburtsortes von Riga nach Leipzig (vgl. B, 22), findet eine nähere Identifikation mit dem Land statt, in dem er die Zeit nach dem Lager verbringen will. Gleichzeitig wird Zugehörigkeit inszeniert, welche eine befürchtete und gefürchtete Andersartigkeit überspielen soll. Aron, der in den vergangenen Jahren nicht selbstbestimmt leben konnte, sieht in der Beantragung des Ausweises eine Chance, die Bahnen seines Lebens nun selbst zu lenken und sich von der Vergangenheit loszulösen. Dass sich diese Art der eigenen Geschichtsschreibung nur auf seine jüdische Identität bezieht, wird daran deutlich, dass er die Angaben zu seinem Berufsstand unverfälscht angibt (vgl. B, 20).

Der Ausschnitt, in dem Aron seinen Ausweis beantragt, gibt auch Auskunft darüber, wie sich die erste Zeit nach dem Lager gestaltet. Aron steht vor dem Nichts, er hat keinerlei Besitztümer, nicht einmal seine Geburtsurkunde (vgl., B, 21). Das Fehlen dieses Dokuments, welches die grundlegende Existenz eines Individuums bescheinigt, zeigt nicht nur Arons Besitzlosigkeit, sondern auch, dass seine Existenz in Frage gestellt, vielleicht sogar negiert wurde. Während sich Aron aktiv um einen neuen Ausweis und damit um eine Legitimation seiner Person kümmern muss, wird ihm eine Wohnung zugewiesen (vgl. B, 22), die zuvor von einem Parteimitglied bewohnt wurde (vgl. B, 24ff.). Hier wird er aktiv, indem er jegliche Gegenstände, die mit dem vorherigen Besitzer in Verbindung stehen, aus der Wohnung räumt (vgl. B, 27). Die Information über die Parteimitgliedschaft des Vormieters wird Aron jedoch erst nach seinem Einzug mitgeteilt (vgl. B, 25f.). Dies löst in ihm später den folgenden Gedanken aus: „Stell dir vor, die Wohnung hätte jemandem gehört, der mir ähnlicher war als diesem Leutwein.“ (B, 26f.). Der Gedanke zeigt, dass Aron lieber in einer Wohnung ehemaliger Parteimitglieder lebt, als in einer Wohnung, deren jüdische Bewohner:innen ermordet worden waren. Es ist das erste Mal, dass sich Aron mit dem Schicksal anderer Juden und Jüdinnen beschäftigt und eine Thematisierung des Judentums erfolgt. Auffällig ist, dass diese Form der Annäherung in einem geschützten und insbesondere zeitlich abgetrennten Raum (in einem Zwischengespräch mit dem Ich-Erzähler) stattfindet.

Arons eigene jüdische Identität ist wiederum omnipräsent, wobei von zentraler Bedeutung ist, was von außenstehenden Menschen als ‚typisch‘ jüdisch betrachtet wird. Der Gedanke „[d]ann blieb immer noch das Problem des Aussehens, dem würde man sich später zuwenden“ (B, 19) zeigt auf, dass sich Aron den stereotypischen Zuschreibungen in der damaligen Gesellschaft bewusst ist. Gleichzeitig ist Aron sehr darauf bedacht, diesen stereotypischen Merkmalen und Verhaltensweisen nicht zu entsprechen. Er beschäftigt sich mit diesen antisemitischen Vorurteilen und kehrt sie anschließend in extremer Weise um. Dies wird in der Schwarzmarktszene deutlich, als Aron bereit ist, eine große Summe an Geld für den Kauf von Schokolade zu zahlen. Als er von seinem Begleiter erfährt, dass er die Schokolade günstig erworben habe und der Verkäufer das Doppelte hätte verlangen können, holt er den Verkäufer ein, um ihm eine höhere Summe zu überreichen (vgl. B, 115ff.). Bei einem weiteren Ankauf äußert Arons Begleiter die dem Verhalten zugrundeliegende Motivation. „‚Er hat Angst, ich kaufe zu billig‘“ (B, 117). Dies verdeutlicht, dass Aron keinesfalls das Vorurteil des geizigen Juden erfüllen möchte oder durch sein Verhalten diesen Eindruck erwecken möchte. Diese Angst zieht sich durch Arons gesamtes Leben, so beispielsweise auch in seinen Gehaltsverhandlungen mit seinem späteren Vorgesetzten Tennenbaum. Die Bezahlung für seine Arbeit tut Aron als nebensächlich ab und es kommt sogar so weit, dass er Tennenbaum die freie Entscheidung über die Art seiner Bezahlung lässt (vgl. B, 97ff.).

Ebenfalls zeigt sich am Beispiel des Gedankens „Auch sie brauchte einige Sekunden, um sein Erscheinen zu verkraften, diese typische Nase zum Beispiel“ (B, 15), dass Aron sehr sensibel auf die Außenwelt reagiert und annimmt, dass ihn jede:r als Juden identifiziert. Die Verwendung der beiden Worte auch und sie kann auf eine weite Verbreitung antisemitischer Vorstellungen zurückgeführt werden, was im starken Kontrast zu dem Selbstbild der Faschismus bekämpfenden Bürger:innen steht.[39] Aron befindet sich in einem Dilemma. Einerseits tut er alles Erdenkliche, um nicht den stereotypischen Zuschreibungen eines Juden zu entsprechen und auf diese Weise als Jude wahrgenommen zu werden. Andererseits betrachtet er sich auch als Fremdkörper in der Gesellschaft, der trotz aller Bemühungen ebenso wahrgenommen werden wird.

Dieses Dilemma macht sich im Verlauf der Geschichte auch in Arons Verhalten und seinen Beziehungen zu anderen Juden bemerkbar. Als Abraham Kenit ihm von einem Lokal erzählt, in dem sich Überlebende der Shoa treffen, zweifelt Aron, ob er dorthin gehen soll. Er sieht keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen sich und den Anderen, die über das Überleben und die ähnlichen Vergangenheitserfahrungen hinausgehen (vgl. B, 85). Außerdem befürchtet er, „daß sie dort eine Art neues Ghetto errichteten, ohne äußeren Zwang“ (B, 86). Trotz der Zweifel und Befürchtungen überwindet er sich aber und sucht das von Abraham Kenit beschriebene Lokal auf. Der durch eine Tür mit der Aufschrift „Privat“ vom Rest des Lokals abgetrennte Raum stellt einen abgesonderten Bereich dar (vgl. B, 87f.), der „voll Rauch, geschützt vor aufdringlichen Blicken und nur den Eingeweihten vorbehalten“ einen geschützten Raum impliziert (B, 88). Das jüdische Leben findet hier abgeschottet von den Blicken der restlichen Gesellschaft statt.

Diesen geschützten Raum sucht Aron anfänglich häufig auf, bis er sich bewusst von dem Hinterzimmer entfernt und sich in den öffentlich zugänglichen Bereich des Lokals setzt (vgl. B, 138). Dabei handelt es sich um eine bewusste Entscheidung, da Aron den Aufenthalt in dem Hinterzimmer als Bekenntnis zu den anderen Juden erachtet (vgl. B, 138). Diese räumliche Veränderung entspricht auch der emotionalen Veränderung, die Aron durchläuft. Er distanziert sich nun auch durch seine Beziehungen vom Judentum. Dass dieser Vorgang nicht unbewusst abläuft, wird daran deutlich, dass Aron im Vorzimmer des Lokals „die gewöhnlichen Kunden“ vermutet (vgl. B, 138). Hier zeigt sich erneut, dass Aron als gewöhnlicher Mann, als gewöhnlicher Mensch wahrgenommen werden möchte. Es wird immer klarer, dass Aron all seine Verbindungen zum Judentum zu unterbinden versucht, aber gleichzeitig von dem Gedanken, dass er als Jude wahrgenommen wird, verfolgt wird. Den Höhepunkt erreicht dieser Gedanke, als sein Sohn Mark in der Schule zusammengeschlagen wird und Aron „einen Pogrom im kleinen [sic]“ vermutet (B, 218). Von dieser Angst verfolgt, vereinsamt Aron zusehends, indem er erst Abraham und schließlich Mark verliert und sich schlussendlich einen Fernseher kauft, was als endgültige Kapitulation vor sich und der Gesellschaft verstanden werden kann (vgl. B, 291). Aron präferiert die fiktive Welt des Fernsehens der realen Wirklichkeit, was eine Form des Eskapismus darstellt. Hier zeigt sich die von Schoeps konstatierte Entfremdung von der Glaubensgemeinschaft, die im Falle Arons jedoch nicht mit einer starken Identifizierung mit dem Sozialismus zu erklären ist.[40]

Abraham Kenit

Obwohl Abraham Kenit zeitweise eine enge vertraute Person des Protagonisten Aron Blank ist, kann er als Gegenentwurf dieser Figur gesehen werden. Beide Männer eint, dass sie im selben Lager interniert waren und dies überlebt haben (vgl. B, 85). Die Beziehung ist vor allem dadurch geprägt, dass Aron Abraham im Lager das Leben gerettet hat (vgl. B, 88). Diese gemeinsame Erfahrung scheint jedoch der einzige Anknüpfungspunkt der beiden Figuren zu sein. Bei einem zufälligen Treffen der beiden fragt Abraham Aron, was er in Berlin zu tun habe. Als dieser antwortet, dass er dort zu Hause sei, antwortet Abraham mit den Worten „‚Richtig, du bist hier zu Hause‘“ (B, 85). Anders als Aron sieht Abraham Berlin nicht als seine Heimat an, die Stadt ist vielmehr nur ein Halt auf seiner Reise, ein Zwischenstopp, was im Verlauf des Romans immer stärker hervorkommt. Deutlich wird auch, dass Abraham seine jüdische Identität nicht verschweigt und sogar zu ihr steht. Er ist es, der offen über die Treffen in der „Hessischen Weinstube“ spricht und auch die geschäftlichen Dimensionen dieser Zusammenkünfte nicht verschweigt (vgl. B, 85). Er agiert nicht im Geheimen, zeigt sich und ist nicht von der Angst, Vorurteile zu erfüllen, geleitet. Deutlich wird dies vor allem daran, dass er für alle sichtbar als Verkäufer auf dem Schwarzmarkt arbeitet (vgl. B, 90).

Im Gegensatz zu Aron ist Abraham vielmehr von seiner Wut getrieben, die letzten Jahre in unmenschlicher Weise vollbracht haben zu müssen. Er ist dazu bereit, viel auf sich zu nehmen, um sich selbst ein Leben aufzubauen, was ihm zuvor durch andere Menschen verwehrt geblieben war (vgl. B, 90). Gleichzeitig verfolgt ihn der Wunsch, Menschen um sich zu einen, die ihm ähnlich sind und denen er sich verbunden fühlt (vgl. B, 39). Dies wird vor allem an einem Gespräch zwischen Abraham und Aron in der ‚Hessischen Weinstube‘ deutlich, als Aron ihn fragt, wann er seine Verkäufe tätigen könne, wenn er seine Zeit immer in der Weinstube verbringe. Abraham antwortet daraufhin, dass „‚sieht für dich nur so aus, weil du so selten herkommst.‘“ (B, 111). So wird die häufige, fast anhaltende Anwesenheit Abrahams mit der seltenen Anwesenheit Arons erklärt. Die Interaktion der beiden zeigt die Gegensätzlichkeit ihrer eigenen Bedürfnisse auf.

Abrahams Wunsch nach Gleichgesinnten und der unerbittliche Antrieb, selbstbestimmt zu leben, finden ihren Höhepunkt in einem weiteren Gespräch zwischen den beiden Protagonisten. Nachdem Aron ihn über den bevorstehenden Verlust seiner Arbeit informiert, erzählt Abraham von seinem Wunsch, nach Palästina zu gehen, wobei sein Traditionsbewusstsein und seine Verbundenheit zum Judentum zum ersten Mal direkt angesprochen werden (vgl. B, 177f.). Mit Ausdrücken wie „daß ein rosiges Glück im Gelobten Land auf sie warte“ oder „im Land der Väter“ bekennt sich Abraham explizit zum Judentum (B, 178). Das Zitat „[e]r sprach von Millionen Gleichgesinnten, alle sehen aus wie wir und denken wie wir und lassen sich in Ruhe“ (B, 178) macht deutlich, dass Palästina einen Ort der größtmöglichen Hoffnung für ihn darstellt.

Abrahams tatsächliche Abreise nach Palästina kann als die direkteste Form eines Bekenntnisses zum Judentum verstanden werden (vgl. B, 193f.). Er lässt sein bisheriges Leben gänzlich hinter sich und schaut hoffnungsvoll in die Zukunft. Gleichzeitig bedeutet seine Abreise auch einen Bruch in Arons Leben, weil mit Abraham eine weitere Verbindung zum Judentum und zu seiner Vergangenheit durchtrennt wird.

Mark Berger/Blank

Nach Abrahams Abreise ist Mark Berger, auch Mark Blank genannt, Arons einzige lebende Verbindung zum Judentum. Nach einer Kontaktaufnahme durch die Organisation ‚Joint‘ kümmert sich Aron liebevoll um den Jungen Mark und nimmt ihn bei sich auf (vgl. B, 161), obwohl die Vaterschaft nicht verifiziert wird und genügend Zweifel aufgrund des eingetragenen Nachnamens Berger bestehen (vgl. B, 35). Da Mark als Kleinkind in ein Konzentrationslager interniert wurde, hat er keinerlei Erfahrungen mit der realen Welt. Er befindet sich in einem dauerhaften Zustand der Orientierungslosigkeit. So sind ihm beispielsweise die Bedeutungen von Worten wie Vater und Sohn völlig unklar (vgl. B, 64). Die Unwissenheit und das Unverständnis solch grundlegender Verhältnisse verdeutlichen eine Entfremdung zwischen Menschen, die sich eigentlich sehr nahestehen müssten, da vor allem die Beziehung zu Elternteilen emotional aufgeladen ist. Durch die Unwissenheit bezüglich des Wortes Vater zeigt sich, dass es zunächst keinerlei emotionale Bindung gibt. Gleichzeitig wird ein gewisser Identitätsverlust sichtbar, da Mark nicht in der Lage ist, sich selbst in einer Gemeinschaft zu verorten. Außerdem kennzeichnet ihn eine Sprachlosigkeit in Bezug auf Gefühle, die aus der Lagerzeit resultiert und weiterhin nachwirkt. Dies zeigt sich vor allem im Vergleich, denn Mark ist sich der Bedeutung von anderen Worten sehr wohl bewusst, da er objektive und subjektive Beschreibungen wie alt oder schön problemlos verwenden kann (vgl. B, 69).

Marks Orientierungslosigkeit zeigt sich auch in seiner Hilflosigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Dies wird vor allem durch den durchlebten Wandel nach den Boxstunden deutlich. Während Mark zuvor aus nicht näher erläuterten Gründen schwer zusammengeschlagen wird (vgl. B, 217f.), missbraucht er seine neu erworbene Kraft, um sich selbst vor Strafen zu beschützen (vgl. B, 238ff.), Auch seine häufig wechselnden und wenig beständig erscheinenden Freundschaften sind als ein Indiz dafür zu lesen, dass Mark seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen scheint, diesen aber nicht zu finden vermag (vgl. B, 242). Er versucht fortwährend seinen eigenen Weg zu finden. So ist er sich erst unsicher, ob er studieren möchte und entscheidet sich dann für ein Studium der Mathematik (vgl. B, 207f.). Diese Wahl begründet er wie folgt: „er habe sich für Mathematik entschieden, weil er in einem Beruf arbeiten möchte, in welchem die Richtigkeit von Resultaten an präzisen Formeln festgestellt werden könne und nicht abhängig sei von der Meinung anderer Leute.“ (B, 271). Die Mathematik erscheint ihm als etwas, was konkreten Regeln folgt und dadurch nachvollziehbarer und begreifbarer als die restliche Welt erscheint. Seine Worte zeigen, dass die Zeit im Konzentrationslager enorm prägend für Mark und seine Lebensentscheidungen ist. All sein Verhalten und jede getroffene Entscheidung können mit dieser Zeit erklärt und verstanden werden. Auch Marks Flucht aus Berlin kann unter diesem Gesichtspunkt gelesen werden. Er beschreibt Berlin, aber auch Hamburg, die Stadt aus der er Aron über seine Flucht informiert, als Orte, die keinerlei Bedeutung für ihn haben (vgl. B, 285). Er reist rastlos durch die Welt, seine Reiseroute lässt sich anhand der Briefmarken der Briefe, die er an Aron sendet, nur erahnen (vgl. B, 289). In Israel scheint Mark schließlich einen Ort für sich gefunden zu haben, denn von dort sendet er Aron sieben Briefe (vgl. B, 289). Über Marks weiteres Leben lassen sich nur Mutmaßungen anstellen, da der Kontakt zwischen Aron und Mark mit dessen Flucht abbricht (vgl. B, 288).

Kritik an der DDR

Arons Umgang mit der Flucht seines Sohnes aus Berlin, die auch die Flucht eines Republikflüchtlings ist (vgl. B, 286), und der daraus resultierende Kontaktabbruch kann als eine Form der Kritikübung gelesen werden. Aron bricht in gewisser Weise mit seinem Sohn, da er sich verlassen und in seiner Loyalität betrogen fühlt. Es lässt sich demnach von einem doppelten Loyalitätsbruch sprechen, wenn der Vertrauensbruch zwischen Vater und Sohn auf einen Vertrauensbruch zwischen (Vater-)Staat und Bürger:innen übertragen wird. Jurek Becker übt auf diese Weise Kritik an der DDR, da die als zentral betrachtete Loyalitätsbekundung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht und dadurch auch gegenüber der DDR[41] zwar gebrochen und sanktioniert wurde, Arons Entscheidung für den Kontaktabbruch jedoch nur teilweise nachvollziehbar ist und als egoistisch bewertet werden kann. Die Kritik wird jedoch auch implizit durch die Figuren und die Erzählsituation übermittelt.

Anhand der Figuren wird in zweierlei Hinsicht Kritik geäußert. Zum einen in der Auswahl der Orte, die die Figuren aufsuchen, um ihre jüdische Identität auszuleben und zum anderen in den Reaktionen der damaligen Gesellschaft auf Arons Präsenz, wie bereits zuvor angedeutet wurde. An allen drei Hauptfiguren wird deutlich, dass die DDR keinen Platz für die jüdische Identität ihrer Bürger:innen lässt. Becker präsentiert mit seinen Figuren zwei verschiedene Möglichkeiten: Flucht und Isolation. Durch unterschiedliche äußere Einflüsse verlassen Mark und Abraham Berlin und damit die DDR, weil sie sie nicht als Heimat empfinden (vgl. B, unter anderem 285). Am deutlichsten wird die scheinbare Unvereinbarkeit von jüdischer Identität und einem Leben in der DDR jedoch im Leben von Aron dargestellt. Obwohl er Berlin nicht verlässt, zeigt sich, dass er ausschließlich konkrete und geschützte Räume, wie seine Gedanken oder das Hinterzimmer, aufsucht, um sich seine jüdische Identität zuzugestehen (vgl. B, 64). Aufgrund der Angst als Jude und nur als Jude wahrgenommen zu werden und antisemitischen Handlungen ausgesetzt zu sein, distanziert er sich schließlich auch von diesen Orten und flüchtet sich in die absolute Isolation (vgl. B, 291).

Neben dieser beschriebenen Unvereinbarkeit wird mit Arons Flucht in die Isolation auch die vermeintlich antifaschistische Grundhaltung der DDR kritisiert. Durch Arons Verhalten und Gedanken wird deutlich, dass er sich der antifaschistischen Haltung seiner Mitmenschen nicht sicher sein kann, hinter verschiedenen Verhaltensweisen Antisemitismus vermutet und in seiner Angst alleingelassen wird (vgl. B, unter anderem 218). Obwohl in dem Roman kein Verhalten oder eine Tat dargestellt wird, deren Ursprung oder Motivation deutlich als antisemitisch zu erklären ist, ist Arons Angst in Anbetracht seiner Vergangenheit verständlich. Durch seine Erlebnisse und die Tatsache, dass er in der Gesellschaft lebt, die unter anderem für diese Erlebnisse verantwortlich ist, erscheint diese Angst vollkommen berechtigt. Arons Perspektive steht der antifaschistischen Grundhaltung der DDR, die auch als zentrales Moment der DDR angesehen wird,[42] diametral gegenüber. Seine aus der Angst resultierende Isolation kann demnach auch als eine Anklage an die Gesellschaft gelesen werden.

Arons Vergangenheit, aber auch seine Beweggründe werden vor allem in Zwischengesprächen mit dem namenlosen Ich-Erzähler, welcher Arons Lebensgeschichte erfahren und festhalten möchte, erörtert (vgl. B, 69). Besonders interessant im Hinblick auf die Kritikübung an der DDR ist jedoch das anfängliche Gespräch, welches der Haupthandlung vorangeht. Das Gespräch ist chronologisch später zu verorten, da der Erzähler Arons Lebensgeschichte bereits zu Ende erzählt bekommen haben muss (vgl. B, 8). Nachdem der Erzähler Unverständnis darüber zeigt, dass Aron keinerlei Interesse an seiner von ihm verfassten Geschichte zeigt, antwortet Aron, dass es sich nicht um seine Geschichte, sondern höchstens um die Geschichte, die für seine gehalten werde, handeln könne (vgl. B, 10). Arons Ansicht, dass der Ich-Erzähler mit einer bestimmten Intention in die Interaktion mit ihm getreten sei und den Gesprächsinhalt nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit selektiert habe (vgl. B, 10f.), verdeutlicht diesen Standpunkt noch einmal. Erklärt wird dieser Standpunkt mit den folgenden Worten:

Und sogar was ich genommen hätte, sei anders geworden, nichts wäre eins zu eins geblieben. Warum? Weil wir immerzu deuteten […]. Weil wir den Drang in uns spürten, hinter allem etwas Verborgenes zu wittern. Weil wir jedes harmlose Ding verdächtigen, es diene in Wirklichkeit nur als Tarnung für Gott weiß was. (B, 11)

Aron kritisiert damit den Umgang mit Tatsachen und den naiven Wunsch, hinter diesen den wahren Grund oder eine verborgene Wahrheit zu erkennen. Diese Erläuterungen können als ernste Kritik an der DDR und ihrem Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus verstanden werden, da die eigennützige Umdeutung von realen Tatsachen kritisiert und verurteilt wird. Diese Aussage kann als Anspielung auf die Umkehrung der Opfer des Nationalsozialismus verstanden werden, indem Kommunist:innen als zentrales Opfer des Nationalsozialismus deklariert werden.[43] Daraufhin bringt Aron weitere Ausführungen über den Nutzen des Lesens der eigenen Geschichte an und kommt zu dem Schluss, dass der Ich-Erzähler von dem Wunsch getrieben sei, dass Aron seine Geschichte autorisiere (vgl. B, 13). An dieser Stelle zeigt sich deutlich, was unterschwellig bereits im gesamten Roman präsent war. Aron erzählt seine Lebensgeschichte nicht selbst, sie wird mit fremden Worten aus einer nahezu fremden Hand geschrieben und erzählt. Dies wird auch an der Erzählperspektive deutlich. Anders als die Gespräche zwischen dem Ich-Erzähler und Aron, wird Arons Lebensgeschichte von einem auktorialen Erzähler beschrieben (vgl. B, unter anderem 15). Aron kommt in der Darstellung seiner eigenen Geschichte nur dann vor, wenn sich der Ich-Erzähler mit Fragen oder Zweifeln an ihn wendet und ihn bittet, ihm diese zu beantworten und zu erklären (vgl. B, unter anderem 61). Dies bekräftigt einerseits Arons Eindruck, dass er lediglich die Aufgabe der Autorisierung zugesprochen bekommt, indem er die Worte anderer legitimiert und ihnen einen Wahrheitsanspruch verleiht. Anderseits scheint es, als würde ein universaler Anspruch auf Arons Geschichte bestehen, da sie von einem Fremden erzählt wird. Dieser Fremde, der durch den auktorialen Erzähler Form annimmt, scheint geeigneter und berechtigter als Aron zu sein, dessen Lebensgeschichte zu erzählen. Arons Stimme als Jude, dessen Leben vor allem durch die Tatsache geprägt ist, dass er ein Jude ist und als solcher in der deutschen Nachkriegsgesellschaft leben muss, wird demnach nur ein begrenzter Raum zugesprochen, über den er nicht einmal frei verfügen und bestimmen kann. Becker zeigt anhand dieser beiden spezifischen Lesarten auf, dass Juden und Jüdinnen als marginalisierte Stimmen in der DDR wahrgenommen werden können. Gleichzeitig kritisiert er eine Form der Geschichtsschreibung, in der konkrete jüdische Erfahrungen und Erlebnisse aus einer nicht-jüdischen Perspektive erzählt werden.

Fazit

Schlussendlich lässt sich zusammenfassen, dass Jurek Becker drei verschiedene jüdische Lebensentwürfe präsentiert. Mit der Figur des Aron Blank zeigt er eine Aufgabe der jüdischen Identität und die völlige Isolation in der Nachkriegsgesellschaft auf, da er sich der antifaschistischen Haltung der Gesellschaft nicht sicher sein kann. Abraham Kenit hält an seiner jüdischen Identität fest, wandert auf der Suche nach Gleichgesinnten jedoch nach Palästina aus. Mark Berger sieht seinen einzigen Ausweg in der Flucht aus der DDR und entscheidet sich am Ende des Romans wahrscheinlich für ein Leben in Israel. Obwohl sich die drei Figuren und ihre Lebensentwürfe diametral unterscheiden, eint sie, dass sie die DDR nicht als Ort zur Auslebung der eigenen jüdischen Identität erachten, auch wenn sie aus dieser Erkenntnis unterschiedliche Schlüsse ziehen. Die Frage, ob der Roman zentrale jüdische Lebensentwürfe präsentiert, kann teilweise bejaht werden, da vergleichend mit der angeführten Forschungsliteratur Überschneidungen wie die Flucht und die Aufgabe der jüdischen Identität festgestellt werden können. Jedoch ist auch anzumerken, dass in Frage gestellt werden sollte, was als zentrale Lebensentwürfe zu verstehen ist, da sich jüdisches Leben in einer Pluralität gestaltet hat und gestaltet. Deshalb sollte festgehalten werden, dass Becker die Pluralität jüdischer Lebensentwürfe in individuellen Schicksalen darstellt, die in der Lebenswirklichkeit von Juden und Jüdinnen in der DDR als möglich zu betrachten sind. Weiterhin hat sich gezeigt, dass Jurek Becker mittels verschiedener literarischer Mittel Kritik an der DDR übt. Er zeigt auf, dass das antifaschistische Selbstbild der DDR nicht auf die reale Gesellschaft übertragen werden konnte. Zudem übt er Kritik an der Geschichtsschreibung der DDR, die sich auch in der Forschungsliteratur finden lässt. Da vor allem die Gesprächssituation zwischen Aron und dem Ich-Erzähler deutliche Kritik an der DDR aufweist, ist die Figur Aron Blank als Sinnbild der Kritik zu verstehen.

An dieser Stelle eröffnen sich mehrere Anknüpfungspunkte für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Einerseits stellt sich die Frage, ob Beckers kritische Haltung gegenüber der DDR auch zu Zeiten der DDR von Leser:innen des Romans wahrgenommen wurde. Im Anschluss an diese Frage sollte auch die Reaktion der Leser:innenschaft auf die Kritik und die möglichen Konsequenzen untersucht werden. Außerdem bleibt noch zu untersuchen, wie sich der Roman Der Boxer im Gesamtwerk Jurek Beckers verhält und ob sich Becker in weiteren Werken kritisch gegenüber der DDR äußert.


[1]Jurek Becker, Mein Vater, die Deutschen und ich, in: Die Zeit 21 (1994), https://www.zeit.de/1994/21/mein-vater-die-deutschen-und-ich [letzter Zugriff 15.02.2022].

[2]Vgl. Anja Thiele, Zweierlei Kontinuitäten. Antisemitismus in der DDR, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, 2020; https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd7-6/ [letzter Zugriff 17.02.2022], hier 49.

[3]Vgl. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweitere Neuauflage, 2. Aufl., Leipzig 1997, hier 29.

[4]Ebd., 29.

[5]Vgl. ebd., 29.

[6]Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), DDR Handbuch, 2. völlig überarbeitete und erweiterte Aufl., Köln 1979, 149-167, hier 46.

[7]Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, 29.

[8]Vgl. Mario Kessler, Zwischen Repression und Toleranz. Die SED-Politik und die Juden (1949 bis 1967), in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, hier 149.

[9]Vgl. Julius Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland. Von den Jahren des Aufbaus bis zum Ende der Teilung, in: Andreas Nachama u.a., Jüdische Lebenswelten, Frankfurt/ Main 1991, 352-383, hier 373.

[10]Vgl. Thiele, Zweierlei Kontinuitäten, 54.

[11]Ebd., 55.

[12]Vgl. ebd., 50.

[13]Vgl. Angelika Timm, Ein ambivalentes Verhältnis. Juden in der DDR und der Staat Israel, in: Moshe Zuckermann (Hg.), Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, Göttingen 2003, 17-33, hier 33.

[14]Vgl. Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, 373f.

[15]Vgl. ebd., 374.

[16]Vgl. ebd., 373.

[17]Vgl. Kessler, Zwischen Repressionen und Toleranz, 149.

[18]Vgl. Timm, Ein ambivalentes Verhältnis, 19.

[19]Vgl. ebd., 20.

[20]Vgl. ebd., 20.

[21]Vgl. Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, 375.

[22]Vgl. Kessler, Zwischen Repressionen und Toleranz, 149f.

[23]Vgl. Karin Hartewig, Die Loyalitätsfalle. Jüdische Kommunisten in der DDR, in: Moshe Zuckermann (Hg.): Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, Göttingen 2003, 48-62, hier 48.

[24]Ebd., 48.

[25]Kessler, Zwischen Repressionen und Toleranz, 163f.

[26]Vgl. Timm, Ein ambivalentes Verhältnis, 19f.

[27]Vgl. ebd., 19f.

[28]Vgl. Kessler, Zwischen Repressionen und Toleranz, 163.

[29]Vgl. Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, 374. Sowie: Vgl. Timm, Ein ambivalentes Verhältnis, 33.

[30]Vgl. Anna Chiarloni, Von der Schuld, noch am Leben zu sein. Einige Bemerkungen zum Roman „Der Boxer“ von Jurek Becker, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Jurek Becker, Frankfurt/Main 1992, 137-146, hier 142.

[31]Vgl. Claude Conter, ‘Alle Kommunisten sind Juden, alle Juden können Kommunisten werden.‘ Über das Verhältnis von Juden und antifaschistischem Widerstand in der sozialistischen Literatur, in: Pól O’Dochartaigh: Jews in german literature since 1945. German-jewish literature?, Amsterdam 2000, 295-313, hier 308f.

[32]Vgl. Jurek Becker, Der Boxer, Frankfurt/Main 2014, hier 64. Im Folgenden zitiert mit Sigle B und Seitenzahl.

[33]Vgl. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Eintrag „meschugge“; https://www.dwds.de/wb/meschugge [letzter Zugriff 27.02.2022].

[34]Vgl. Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (17.08.1938); Reichsministerium des Innern (Hg.): Ministerial-Blatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern (18.08.1938).

[35]Ebd., 18.

[36]Vgl. Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, 373.

[37]Vgl.  o. V.: Anna/Anne. (o. D.).  https://www.bedeutung-von-namen.de/anna [letzter Zugriff  29.02.2022].

[38]Vgl. Henning Herrmann-Trentepohl, Adler, in: Günter Butzer, Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, 3., erweiterte und um ein Bedeutungsregister ergänzte Auflage, Berlin 2021, 6-8, hier 6f.

[39]Vgl. Thiele, Zweierlei Kontinuitäten, 54.

[40]Vgl. Schoeps, Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland, 374.

[41]Vgl. Timm, Ein ambivalentes Verhältnis, 20. 

[42]Vgl. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, 29.

[43]Vgl. Thiele, Zweierlei Kontinuitäten, 54f.