Gordon Prager
Rosen lügen nicht
Gedanken zu Louise Glücks Gedichtband „The Wild Iris“ (1992)
Einleitung
Die Gedichte der nordamerikanischen Nobelpreisträgerin Luise Glück sind Dialoge. Ein Ich spricht zu einem Du, ein Wir zu einem Ihr oder der Text in einem kräftigen Imperativ direkt zu seiner Leserschaft. Wer jedoch zu welchem Zeitpunkt mit wem spricht, lässt sich in keinem der Texte mit Sicherheit sagen, worin mitunter der besondere Reiz des Gedichtbands The Wild Iris (1992) liegt.
In Glücks Gedichten treten zwei Dialogformen besonders häufig auf: In den meisten Fällen – wie auch im titelgebenden Anfangsgedicht – spricht eine personifizierte Wildblume: Sie erzählt ihre Geschichte, klagt die menschliche Hybris an und mahnt zur Demut gegenüber der göttlichen Schöpfung. In den anderen Fällen wiederum findet ein direkter Dialog zwischen der Natur und ihrem Schöpfer statt. Die Bezeichnungen dieser Instanz als „unnahbarer Vater“[1], „trauriger Gott“ oder „Herr im Himmel“ lassen viele dieser Gedichte in einem fast schon sakralen – ja, gebetstauglichen – Lichte erscheinen. Sie sind in einem Kontext von (Wieder-)Geburt, (Wieder-)Auferstehung, göttlicher Schöpfung und anderen religionstheoretischen Diskursen anzusiedeln. In mal mehr und mal weniger variierender Form funktionieren die meisten Texte des Bandes in einer dieser beiden Weisen recht ähnlich.
Neben diesem großen thematischen Feld im Band existiert aber auch ein weitaus kleinerer Korpus von fünf Gedichten, der in Form einer Binnengeschichte den Verlauf einer Liebesbeziehung erzählt. Zum dem Liebespaar gehört die Figur John, dessen Name zugleich auch der Name des Ehemanns von Louise Glück ist und dem dieser Gedichtband gewidmet ist. Durch die Mehrdeutigkeit von John als fiktive Figur und reale Person zugleich erscheint er in den betreffenden Gedichten als Störinstanz der Kunstfiktion und als Widersacher der fiktionalen Beschaffenheit des Werkes, dessen Teil er unweigerlich geworden ist. Der Konflikt zwischen ihm und dem Lyrischen Ich, der mit mehreren Stimmen und aus verschiedenen Perspektiven ausgetragen wird, artikuliert in Glücks Gedichtband The Wild Iris aus meiner Sicht einen poetologischen Diskurs, der zentral für das Verständnis des Werkes ist. Im Folgenden soll durch die Analyse des spezifischen Textkorpus mittels vergleichender Betrachtungen der intertextuellen Bezüge zwischen den einzelnen Texten der Band um eine neue Lesart zu bereichern.
Der Garten
Neben den fünf Texten, in denen der Name John explizit genannt wird, existieren weitere Gedichte im Band, in denen der Bezug zur Figur auch implizit hergestellt wird. Als Anfangspunkt der Liebesbeziehung kann das vierzehnte Gedicht des Bandes mit dem Titel „Der Garten“angesehen werden, zumal sich der titelgebende Ort in den weiteren Gedichten noch als zentraler Schauplatz der Binnengeschichte erweisen wird. Formal gesehen handelt es sich bei diesem Text um ein siebenstrophiges Gedicht mit unterschiedlicher Strophenlänge. Wie in allen Gedichten des Bandes ist weder ein Reim- noch ein Versschema gegeben. Mit zahlreichen Enjambements und durch einen betont einfachen Sprachgebrauch zeugt der Text von einer auffällig gesprochenen Qualität und stellt sich somit gegen die Leseerwartungen eines klassischen Gedichts. Der thematische Kern des „Gartens“ betrifft „das junge Paar“, das während der Gartenarbeit „große Schwierigkeiten“ zu bewältigen versucht. Wie in den meisten Gedichten des Bandes wird aus der Perspektive eines Ichs geschrieben, das sich zwar im ersten Vers zu erkennen gibt und in einer übergeordneten Perspektive auf das streitende Paar blickt, seine Identität jedoch nicht preisgibt. Der Redeanteil am Anfang des Gedichtes „Noch mal könnte ich das nicht. / ich halte es kaum aus, auch nur hinzuschauen – “ schafft die Vorstellung, das Ich habe eine gleiche Situation bereits erlebt. In den anderen Gedichten des Bandes wird die unsterbliche Beschaffenheit oft zum Thema gemacht. Spricht hier also möglicherweise der Ort des Gartens, der das Handeln seiner menschlichen Besucher kommentiert?
Die markanteste Stelle in diesem Gedicht ist der Vers: „Sie möchte aufhören; / er möchte fertig werden, / bei der Sache bleiben –“. Hier ist die Ambiguität des Dialogs besonders spannend, denn über welche Sache streitet das Paar: Tatsächlich über das Erbsensäen oder doch über ihre Beziehung? In diesem zwischenmenschlichen Konflikt ergibt sich eine störende Differenz in der sonst so idyllischen Natur der vorangegangenen Gedichte. Die zwischen dem Paar beschlossene „Waffenruhe“, die noch durch das Streicheln der Wange in der fünften Strophe bekräftigt wird, ist in der nächsten Strophe bereits zu einem „Bild des Abschieds“ verdorben. Auch das übergeordnete Ich des Gedichtes kommentiert in den letzten Versen zynisch: „und sie glauben, / es stehe ihnen frei, diese Tristesse / zu übersehen.“
Das Gedicht „Der Garten“wirkt schon zu Beginn der Binnengeschichte wie das unfreiwillige Eingeständnis einer dysfunktionalen Liebesbeziehung, dessen Scheitern sowohl dem Paar als auch der sprechenden Instanz des personifizierten Gartens bereits am Anfang der Beziehung klar wird. An das Schicksal der Liebenden wird in den folgenden Gedichten angeknüpft, wodurch das Gedicht „Der Garten“ für die Binnengeschichte die Funktion des Prologs übernimmt. In den folgenden Gedichten wird der Konflikt des Paares im Garten in variierender und stilisierter Form immer wieder Gegenstand des Bandes sein. Durch den gleichbleibenden Ort, das zeitliche Voranschreiten im Kalenderjahr und die thematische Entfaltung gravierender Unterschiede zwischen den Liebenden wird die Zusammengehörigkeit der Gedichte im Weiteren deutlich.
Lied
Das „Lied“ ist der erste Text des Bandes, in dem explizit von John zu lesen ist. Hervorgehoben ist dieses Gedicht bereits dadurch, dass der Titel nicht den Gattungsnamen einer Blume trägt, wie es sonst im Band üblich ist. So wird die Andersartigkeit des Gedichtes schon im Titel markiert. In zwölf Enjambements sind lediglich zwei Sätze aneinandergereiht, die das Gedicht inhaltlich und formal in zwei Hälften unterteilen. Das Gedicht beginnt mit einem romantisch anmutenden Gesang an eine rote Rose, die im ersten Vers mit einem Herz verglichen wird und somit als konventionelle Metapher für die Liebe gesehen werden kann. „Jede überstandene / Not vertieft / nur ihre Farbe.“ heißt es andächtig über die Rose, bevor die Figur John in der Mitte des Gedichts den romantischen Liebesgesang der Sprechenden Instanz scharf unterbricht: „er [John] meint, / wäre dies hier kein Gedicht, / sondern tatsächlich ein Garten, / würde von der roten Rose / verlangt, nichts / zu ähneln“. Die zuvor beschriebene Idylle der Welt der Blumen, die von dem Herzen und der Liebe handelt, wird durch diesen starken semantischen Bruch durchbrochen, welcher durch John eingeleitet wird. Die Welt der Natur kollidiert mit der Welt des Menschen, die Welt der Lyrik kollidiert mit der Welt des Greifbaren. Der Glaube der Sprecherin an die Liebe, die sich durch jede Not nur noch weiter zu intensivieren versucht, kollidiert mit dem rationalen Weltbild Johns. Die beiden Lager scheinen zu diesem Zeitpunkt unversöhnlich.
Wieder ist der Ort des Gartens Schauplatz für die Interaktion des Paares. Interessant ist dabei Johns Aussage „wäre dies hier kein Gedicht, / sondern tatsächlich ein Garten“, die in diesem Zusammenhang metaleptisch einen Diskurs über die Lyrik eröffnet. Diese beiden Verse sind erstaunlich, da John, indem er sich selbst als ein Teil des Textes begreift, eine autoreflexive Rolle einnimmt und somit die Eigenschaft besitzt, dem Text auf einer erhöhten Metaebene zu begegnen. John scheint daher nicht einfach nur eine fiktionale Figur in Louise Glücks belebter Naturwelt zu sein, sondern vielmehr in einer übernatürlichen Art die Grenzen der Kunstfiktion übertreten zu können und so den Text unabhängig von der Autorin zu kommentieren. Diese Fähigkeit ist ihm jedoch nur im Ort des Gartens möglich, der in seiner Dialektik von Natur-Mensch und Fiktion-Realität den Konflikt des Paares des Gedichts „Der Garten“ weiter fortsetzt. Er tritt nur in Kombination mit der Figur John auf und scheint daher in einer Art von Interdependenz-Verhältnis mit ihm zu stehen. In den vier weiteren Gedichten, in denen John alleine auftritt, befindet sich dieser ebenfalls im Garten. Neben „Lied“ ist dies auch in „Himmel und Erde“ der Fall: „Wie kann ich meinen Mann [John] / im Garten stehen lassen“, „Vespern“ [Nr. 4/10]:[2]„Du bist im Garten, du bist, wo John ist“ und „Vespern“ [10/10]: „Hitze / wie ein Zelt über / Johns Garten.“. Das Possessivpronomen „meinen“ und die Kongruenz des Namens mit dem des realen Ehemann Glücks eröffnet die Lesart, dass die Autorin hier sich selbst als Sprecherin sieht, was hier im Essay weiterverfolgt werden soll. Der Garten fungiert für die aufgestellte These einer poetologischen Motivation des Gedichtbandes als ein domestizierter Gegenentwurf zur freiliebenden Natur, die in den anderen Gedichten des Bandes beschrieben wird. Johns kunstkritische Positionierung findet in der freiliebenden Poesie Luise Glücks keinen Platz.
Himmel und Erde
Fünf Gedichte später im Band hat sich das ungleiche Verhältnis zwischen John und der sprechenden Instanz im Gedicht „Himmel und Erde“weiter verschlechtert. Anders als in „Der Garten“ gibt sich das Ich hier ganz deutlich durch die Bezeichnung Johns als „meinen Mann“ in der fünften Strophe als Stimme der erzählenden Instanz zu erkennen. Es wird nun deutlich, dass es sich beim Ich konkret um Johns Ehefrau, Louise Glück, handeln muss. Wenn wir diese Lesart weiter verfolgen, wirken alle Aussagen die nun von der sprechenden Instanz getroffen werden, wie ein direkter Kommentar der Autorin zum Geschehen, was auch Einfluss auf die Rezeption der vergangenen und folgenden Texte über das Paar im Garten hat. Die Thematik des Konflikts zwischen den beiden Figuren wird an dieser Stelle ebenfalls konkreter. In dem fünfstrophigen Gedicht, das mittig durch einen einzigen Vers in zwei Teile geteilt wird, steht John erneut in seinem Garten und sehnt sich nach Unerreichbarem: „er will / beides auf einmal, er will / alles auf einmal.“ Durch die Wiederholung und den Parallelismus von „er will“ am Ende der Verse der zweiten Strophe wird sein Verlangen eindringlich bestärkt. Mit dem grafisch abgesetzten Vers: „Heißt: nie wieder wird das Leben enden.“ wird Johns maßloser Wille nach unsterblichem Leben ins Sarkastische gesteigert.
Die Stimmen im Gedicht wechseln abrupt. Auf die Sichtweise Johns folgt der Kommentar des Ichs, der sich in der zweiten Hälfte inhaltlich wie formal stark von dem ersten unterscheidet. Sterblichkeit, Wiedergeburt und Referenzen zu einem früheren Leben sind ein prominenter und immer wiederkehrender Topos in Glücks Texten. Dieser wurde bereits in den vorangegangenen Gedichten „Rispenhirse“, „Feldblumen“und auch im Titelgedicht „Wilde Iris“ thematisiert. Jedoch besteht der Unterschied, dass diese Thematik dort aus der metaphysischen Perspektive der Blumen aufgegriffen wurde, während in „Himmel und Erde“die Aneignung der Utopie der Unsterblichkeit nun aus der menschlichen Perspektive Johns thematisiert wird. Das Ich, welches hier als Stimme Luise Glücks gesehen werden soll, billigt diese Aneignung nicht, da sie nur den Blumen vorbehalten ist. Nach diesem Wendepunkt im zweiten Teil des Gedichtes fragt sich Luise: „Wie kann ich meinen Mann / im Garten stehen lassen, / wenn er solche Sachen träumt“. Das Unverständnis für John manifestiert sich an dieser Stelle weiter, was auch durch den Titel des Gedichtes deutlich wird, in dem zwei Gegenpole gegenübergestellt werden. Schwebt John mit seiner menschlichen Hybris im Wolkenhimmel, während Louise meint, dass sich Unsterblichkeit nur auf Muttererde im Einklang mit der Natur vollziehen kann? Oder ist sie es, die mit ihrem Kopf in die Wolken der Kunst ragt, während John auf der Erde und dem Boden geblieben ist?
Neben der Figur des Ichs gewinnt in „Himmel und Erde“ auch der Ort des Gartens an Komplexität. Als Konsequenz für das gegenseitige Unverständnis will die Sprecherin ihren Mann „im Garten stehen lassen“. Nicht nur stehen John und der Garten in einem Abhängigkeitsverhältnis, auch ist es immer John, der im Garten die Arbeit verrichtet und im Akt der Domestizierung seine überlegende Rolle als Herr(scher) des Orts bestärkt. Dem Ich beziehungsweise Louise bleibt der Zugang zum Garten verwehrt, es kann in ihm lediglich eine kommentierende Rolle einnehmen. Die Sonnenstrahlen in „Himmel und Erde“enden genau „an der Grenze des Gartens“, wobei die Strahlen bezeichnenderweise auch die letzten Worte des Gedichtes sind. In der literaturwissenschaftlichen Untersuchung erweisen sich Grenzen und Schwellen meist als besonders relevante Elemente eines literarischen Textes. In diesem Fall werden John und die Sprecherin durch die Grenze des Gartens getrennt. Ihre Trennung vollzieht sich damit nicht nur lokal, sondern auch ideologisch, emotional und weltanschaulich. Es ist die gleiche unübertretbare Grenze, die auch im Titel des Gedichtsangedeutet ist: Ein Übertritt vom System Himmel in das System Erde ist beiden Figuren unmöglich. Beide gehören den unversöhnbaren Extremen an – „Lediglich / die Mitte ist ein Rätsel.“
Vespern [10/10]
Ein Sprung in das letzte Viertel des Bandes, in welchem Gedanken des Abschieds mit den Texten „Sonnenuntergang“, „Schlaflied“ oder „Dämmerung im September“ dominieren. Im Gedicht „Vespern“ [10/10] lesen wir das letzte Mal von John und seiner Frau im Garten, bevor der Gedichtband endet. Der lyrische Text besteht dabei nur aus einer einzigen Strophe mit zahlreichen Enjambements, die teilweise für Verslängen von zwei Wörtern sorgen. Schon auf formaler Ebene wirkt der Text daher wie ein knappes Fazit der vorausgegangenen Entwicklung. Der zeitliche Fortschritt der Beziehung zu den bisherigen Texten der Binnengeschichte ist deutlich markiert: War das Paar im Gedicht „Der Garten“ noch von einem „kühlen Frühlingsregen“ umgeben, so ist hier bereits der Herbst des Jahres mit dem Vers „Ende August. Hitze / wie ein Zelt über / Johns Garten.“ eingeleitet. Das Fortschreiten der Jahreszeiten innerhalb der Binnengeschichte steht parallel zu der Entwicklung der Beziehung des Paares. War diese am Anfang des Jahres und des Bandes noch frisch und zuversichtlich, neigt sie sich hier ihrem gewissem Ende zu. Deutlich wird dies hier auch durch die Beschreibung von Gartenarbeiten, deren Aussicht auf Ertrag gering ist: „Tomaten, die nie reifen, Lilien, / die im Winter sterben, im Frühjahr / nicht wiederkehren.“ Ein pessimistischer Klang umgibt die Verse dieses Textes, der auf die Aussichten des Paares hindeutet. Weitere anstrengende Arbeit werde nichts bringen. Zweifelnde rhetorische Fragen an ein fiktives Du unterbrechen diese Beschreibungen: „findest du, / dass ich zu viel Zeit damit verbringe, nach vorn zu schauen“, „sagst du, ich kann / blühen, auch / ohne Hoffnung / auf Dauer?“. Wer ist das Du, an das sich die sprechende Instanz wendet?
Mit „Vespern“ [10/10] kommt eine weitere Variation der Kommunikationssituation innerhalb der Binnengeschichte hinzu. In „Der Garten“könnte es die Stimme des Gartens gewesen sein, die sich an die Lesenden gewandt hatte, in „Lied“ die Stimme Johns, die die Verse der sprechenden Instanz unterbrach und in „Himmel und Erde“ die weibliche Stimme Louises, die über ihren Ehemann John klagte. In „Vespern“ [10/10] ist zum einen denkbar, dass der Adressat der Zweifel und der Fragen nun ganz unmittelbar die Figur John ist, der die Fragen seiner Frau nicht zu beantworten weiß. Der direkte Dialog zwischen den beiden Figuren wird auch hier nicht ausgetragen. Es wäre das einzige und letzte Mal, dass Louise in dem Band direkt zu John spricht. Doch ist es für diese Auseinandersetzung bereits zu spät? Zum anderen könnte Louise hier auch den Versuch wagen, sich auf die Ebene der Natur zu begeben und die Antworten auf ihre Fragen mit den Mitteln der Kunst und der Fiktion zu ergründen. Die Anrufung eines (göttlichen) Herrn in Form eines Dus ist in den weiteren Gedichten des Bandes typisch und in fast jedem Text vorhanden. Sie unterscheiden sich durch ihren anderen thematischen und lokalen Kontext zwar deutlich, doch richten auch die Blumen ihre Zweifel, ihre Trauer und ihre Wut an eine höherstehende Du-Instanz. Trennt sich Louise Glück von den Grenzen des Gartens und entscheidet sich für den Übertritt in die vollkommende Fiktion?
Die Diskussion über den Adressaten der rhetorischen Fragen hat für die Aussagekraft dieses letzten Textes jedoch nur eine sekundäre Rolle – eine Antwort wird von niemandem, weder von John, noch von einem (göttlichen) Herrn erwartet. „[E]r möchte fertig werden, / bei der Sache bleiben –“, hieß es noch in „Der Garten“über John. Der letzte Redebeitrag der Sprecherin innerhalb der Binnengeschichte in „Vespern“ [10/10]: „aber warum / so kurz vor dem Ende / mit etwas beginnen?“, darf als unmittelbare Reaktion auf das Anfangsgedicht verstanden werden. Sowohl der Gedichtband als auch die Liebesbeziehung des Paares findet an dieser Stelle ihr Ende.
Schlussbetrachtung
Louise Glück und John Dranow waren von 1977 an verheiratet, bis sie sich 1996 scheiden ließen. Es kann nur reine Spekulation sein, darüber nachzudenken, ob Glück nicht schon während des Schreibens ihres Gedichtbandes The Wild Iris die Konflikte in ihrer Ehe reflektiert hat und die Trennung von Dranow gewissermaßen mit diesem Werk vorbereitet hat. Das Liebespaar im Band funktioniert aber auch, wenn wir es völlig losgelöst von der real existierenden Autorin und ihrem Ehemann lesen. Dabei muss auch bedacht werden, dass der Teil der Leserschaft, der nicht über das Privatleben von Louise Glück informiert ist, ohnehin die persönliche Tragweite der Verwendung des Namen Johns bei der Lektüre nicht begreifen wird. Es ist daher auch ohne Kontextwissen eine wunderschöne, frische, zugleich aber auch tragische Beziehung zwischen völligem Unverständnis und Liebe füreinander, von der wir in den einzelnen Gedichten Glücks lesen können, die im Frühling mit dem Erwachen einer Wildblume beginnt und mit dem Sonnenuntergang im Herbst endet. Die Liebesbeziehung und der meteorologischer Jahresverlauf sind eng miteinander verwoben. Es lohnt sich, weitere Gedichte des Bandes unter diesem Gesichtspunkt erneut zu lesen.
Besonders interessant bei der Betrachtung der sich entwickelnden Beziehung sind die Gründe für den Bruch, die meiner Meinung nach primär unter einem poetologischen Gesichtspunkt zu lesen sind. Die rationale menschenbezogene Weltsicht Johns und die traumreiche naturbezogene Weltsicht Louises stehen sich in den Texten des Korpus sowohl inhaltlich als auch formal streng gegenüber und scheinen sich bis zum Ende des Bandes nicht zu vereinen, sondern – im Gegenteil – weiter zu verhärten. Es ist immer John, der mit seiner Gartenarbeit der Domestizierung der erzählten Welt nachgehen will, während die sprechende Instanz schon am Anfang des Bandes überzeugt war, damit aufhören zu wollen. Überall, wo die Figur John in seinem begrenzten Gartenstück, deren Zugang ihr verwehrt bleibt, auftritt, erscheint er als Störinstanz. In seinem ständigen Bestreben nach Rationalität und seiner latenten Ignoranz gegenüber der Schönheit der Natur und der Kunst als solchen, steht er genau konträr zu dem, wofür Glücks Gedichte stehen.
John sieht die Blume nur als Blume, als Pflanze, als Organismus – ein Gedicht nur als Text, als eine Reihung von Wörtern, als Zeichensysteme. Luise hingegen sieht mehr. Für sie sind die Blumen Manifestation der (göttlichen) Schöpfung, Anwärter des (ewigen) Lebens und Beweis einer natürlichen Schönheit. Fragen der Vergänglichkeit und des Subjekts versucht Glück mit den Mitteln der Kunst und der Lyrik zu ergründen, für welche die Figur John in den Texten kein Verständnis aufbringen kann. Mit dieser Figur ist innerhalb des Bandes eine wichtige Instanz gegeben, die im Kontrast zur sonst so mystisch verklärten Welt der Gedichte von The Wild Iris steht. Er hat die Funktion einer Identifikationsfigur für all jene, die die Lyrik für ein sinnloses, dekadentes und überflüssiges Gut ansehen. Somit wird im Konflikt des Paares nicht nur das Fortbestehen einer Liebesbeziehung diskutiert, sondern auch die Legitimation der Kunst in einer aufgeklärten Welt überhaupt. Johns Stimme zweifelt vehement an ihr und stellt sie in Frage.Die Stimme des Ichs hingegen schätzt und verteidigt sie.
Epilog
Ich frage mich oft: Vielleicht hat John recht, mit dem was er sagt? Eine Rose verlangt nach nichts. Sie ist ein sinnloses, maßlos kitschiges Objekt, über welches jedes weitere Gedicht oder Lied unserer Kulturgeschichte überflüssig erscheint. Wozu eine Pflanze besingen, die nicht hören oder reagieren kann? Ich finde aber, die Welt der Lyrik wäre eine ärmere, wenn sie sich nur auf weltliche, logische und nachvollziehbare Prämissen beschränken müsste. Louise Glücks Gedichte werden in unserer Welt, die entfernt der Natur im ständigen Bestreben nach Erkenntnis, Mehrwert und Leistung steht, mehr als benötigt. Wir sollten mehr auf die Gesänge der Blumen und weniger auf die Johns unserer Welt hören, die die subtilen Botschaften der Rosen immerzu als Lügen entlarven wollen.
[1]Zur besseren Integration der wörtlichen Zitate in Anführungszeichen wurde die Übersetzung ins Deutsche von Ulrike Draesner aus dem Band Louise Glück: Wilde Iris,München2020 verwendet.
[2]Bei den Vespern-Texten handelt es sich um eine Gruppe von insgesamt zehn Gedichten im Gedichtband. Um diese auseinander halten zu können, ist ihre jeweilige Nummer in diesem Essay in eckigen Klammern angegeben.