Hannah: Sarajevo: lebendige Vergangenheit

Als wir die letzte Grenze überqueren, wird es langsam hell. Wir halten auf einer Raststätte mitten im Nirgendwo – Autobahnen, das war mal. In den nächsten Stunden werden wir über Landstraßen, enge Talstraßen und Schotterwege fahren. Die Zwischenhalte – Maglaj, Žepče, Zenica, Kakanj, Visoko, Kiseljak – hatte ich mir als Städte vorgestellt. Sie sind es auch, allerdings nach einem ganz anderen Maßstab. Überall fallen uns neu gebaute Häuser auf, deren Fassaden unverputzt bleiben. Das gebe Steuervorteile, sagt mir später jemand, weil die Häuser nicht als fertig gebaut gelten.
Als wir in Sarajevo einfahren, begrüßen uns kleine, alte Häuser, große Flächen mit zerbombten Ruinen und in der Ferne vereinzelt Wolkenkratzer und Wohnblöcke. Es ist eine Ansicht, die sich in den nächsten Tage verstärken wird. Der Gegensatz zwischen arm und reich, neu gebaut und noch mit Kriegsspuren versehrt.
In der Innenstadt sind die meisten Altbauten gezeichnet von Schusslöchern in der Fassade. Nicht ein oder zwei, nein, Spuren eines gefühlt ewig andauernden Kampfes, so viele sind es. Es fällt mir schwer das neue, lebendige Sarajevo zu bemerken, die Spuren der Belagerung sind unübersehbar.
Auf dem Boden eine Rose Sarajevos, ich habe über sie gelesen und bin doch erschlagen. Bombenkrater, die mit rotem Kunstharz ausgegossen wurden. Ein Mahnmal an die Belagerung. Es sieht aus, als ruhe das Blut bis heute im Krater.
Mit der Zeit gewöhne ich mich daran. Oder eher: Ich lerne wegzusehen, um das Sarajevo der Gegenwart kennenzulernen. Aber immer bleibt es, als wandle ich in zwei Zeitebenen. Damals und heute.

Sarajevo ist etwa genauso groß wie Halle, hat 50000 Einwohner mehr und dementsprechend eine größere Bevölkerungsdichte. Als wir auf der Žuta tabija stehen, 100 Meter über der Innenstadt, aber dennoch noch mitten in der Stadt, wirkt Sarajevo viel größer. Die Stadt liegt in einem Tal des Flusses Miljacka. Rundherum Berge, an denen die Häuser stetig hochklettern. Soweit das Auge reicht, sieht man Sarajevo.
Hier oben sieht man keine Einschusslöcher und Krater mehr, hier oben zeigt sich Sarajevo von seiner romantischen Seite. Wie die Sonne langsam hinter den Bergen verschwindet, der Gesang aus den Moscheen durch die Stadt hallt.
Wir versöhnen uns, Sarajevo und ich. Ich habe aus dem Brunnen Sebilj getrunken, wenn das Sprichwort stimmt, sehen wir uns also wieder. 

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