Wir stehen in der Eingangshalle des Historischen Museums von Bosnien und Herzegowina. Von außen scheint es ein lebloses, heruntergekommenes Gebäude, das die besten Jahre hinter sich hat, genauso wie die Straßenbahnen, die an ihr in siebenminütigem Takt vorbeisausen. Unsere Gruppe aus bosnischen, serbischen und deutschen Student*innen wird von der Direktorin Elma Hašimbegović empfangen, einer selbstbewussten großen schwarzhaarigen Frau. Alle haben die Jacken angelassen, manch einer bewegt rhythmisch die Füße. Elma steht uns nur in einem leichten Pullover gegenüber, wahrscheinlich wird man nach 15 Jahren ohne funktionierende Heizung im Gebäude abgehärtet, geht uns durch den Kopf. Nach einer kleinen Einführung begibt sich unsere Gruppe in die Ausstellungsräume, um anschließend Elma zu einem Gespräch in ihrem Büro zu treffen.
Ein Mosaik des Erbes
Unser Blick fällt gleich auf das große Mosaik mit der Inschrift „Tod dem Faschismus, Freiheit für die Menschen“. Wie wir später erfahren, steht es als Symbol für die Geschichte des Museums im Kleinen. Gegründet 1945 als Revolutionsmuseum sollte es die Ideen des jugoslawischen Antifaschismus und Sozialismus weitertragen. Im Jahre 1993, mitten im jugoslawischen Zerfallsprozess und während des Bosnienkriegs, wurde es nicht nur in „Historisches Museum“ umbenannt. Des Weiteren änderte sich die Fachausrichtung des Museums, dessen Ziel es wurde, sich ganzheitlich mit der Geschichte von Bosnien und Herzegowina zu beschäftigen, wobei der Schwerpunkt auf die jüngste Zeitgeschichte gelegt wird. Dafür stehen symbolisch die Einschusslöcher in dem Mosaik, welche an die Belagerung Sarajevos und den Bosnienkrieg erinnern. Nicht nur auf die Schließung des Museums zwischen 2012 und 2014, sondern auch auf die immer noch nicht geklärte Rechtslage und praktische Finanzierungszuständigkeiten weist das polizeiliche Absperrband „Culture Shutdown“ hin, das über das Mosaik geklebt wurde. Trotz der formalen Verankerung des Museums in der Verfassung funktioniert es als quasi-NGO, finanziert durch Spenden, Projektgelder und schwer zugängliche staatliche Förderungen. Dieses Museum scheint mehr zu sein als eine Summe von Ausstellungen. Es ist ein Schauplatz des Kampfes. Ums Überleben und Erinnern.
Der aufbewahrte Antifaschismus
Der Rundgang könnte im Keller anfangen, aus dem die Mitarbeiter*innen Exponate in die oberen Stockwerke herauftragen. Er ist das Zuhause einer großen Sammlung von zeitgenössischen Gegenständen aus dem Zweiten Weltkrieg von Waffen, Flaggen, Medaillen bis Stempeln. Hier wird eine komplette Epoche materiell festgehalten. Die Epoche der jugoslawischen Partisan*innen und des Antifaschismus. Gerade dieses Wort begleitet uns durch Gespräche und Texte, seitdem wir angekommen sind. Doch unsere Gastgeberin Elma macht deutlich, dass Vorsicht bei der Auslegung des Sinngehaltes geboten ist. Für sie sei dieser Begriff mit der Idee des friedlichen gemeinschaftlichen Zusammenlebens verknüpft, weit hinter den aktuellen ethno-nationalistischen Begrenzungen. Ein Gemeinschaftsgefühl ohne Vorurteile, ein unabhängiges und kritisches Denken losgelöst von einseitigen Narrativen. Diese Werte sind auch für das Museum grundlegend, trotzdem möchte sie nicht, dass es als antifaschistisch bezeichnet wird. Oft führt es zu Verwirrung, nicht selten zur Angriffsfläche für Gegner des Museums.
Doch vor der Tradition als Revolutionsmuseum kann und will dieses Gebäude nicht fliehen. Nicht nur für Mitglieder verschiedener antifaschistischen Assoziationen und Veteranenverbände bedeutet dieser Ort Verbundenheit mit dem jugoslawischen Erbe. Elma erzählt uns von den höheren Besucherzahlen am 4. Mai dieses Jahres. Es seien verschiedene Leute aus eigener Initiative gekommen, manchmal auch Eltern mit ihren Kindern, um am Titos Todestag seiner zu gedenken. Ob sie danach in das im selben Gebäude ansässige nostalgisch-hippe Tito-Café gegangen sind, um zwischen alter Ausrüstung, Flaggen, Waffen und Lampen aus Stahlhelmen an die gute alte Zeit zu erinnern, bleibt als großes Fragezeichen im Raum stehen.
Erinnerungsgenossenschaft der Belagerten
Wir laufen die Treppe hinauf in den ersten Stock zu der Ausstellung „Sarajevo unter Belagerung“. Wir begegnen erneut den Mitarbeiter*innen, die Ausstellungsstücke aus dem Keller hinauftragen. Für einen kurzen Moment beschleicht uns der Verdacht, dass die Ausstellung für uns gerade ausgebessert oder gar zusammengestellt wird, um einen besseren Eindruck zu machen. Da liegen wir mit unserer Einschätzung aber falsch. Der Zielort der Exponate ist ein anderer Raum. Wie uns unsere Gastgeberin erklärt, handelt es sich um eine Art „Mitbring-Ausstellung“. Der Eröffnung im Jahre 2003 ging ein Aufruf an die Einwohner*innen Sarajevos voraus, Gegenstände in das Museum mitzubringen, die für sie persönlich eine Rolle während der Belagerung gespielt haben. Es sollte eine Ausstellung der Lebensgeschichten werden, mit den Bürger*innen und nicht mit Zeitstrahlen im Mittelpunkt. Die Menschen bekommen dadurch ein Gefühl vermittelt, dass sie sich ein Stück des Museums zu eigen gemacht haben, dass es wie eine kollektive Erinnerungsgenossenschaft funktioniert. Ganz nach der Philosophie ihrer Direktorin. Ein Museum aller für alle. Kuratoren haben damals die Ausstellung nur minimal betreut. Inzwischen greifen sie in sie gar nicht ein. Trotz dieser scheinbaren Unordnung ist sie ein menschen- und realitätsnaher Ort des Erinnerns und zum Aushängeschild des Museums geworden. Letztes Jahr wurde sie sogar nach Belgrad verliehen und freute sich eines hohen Interesses. Auch das sei wieder ein großer Fortschritt. Warum?
Wenn Elma über die Zeit, zu der diese Ausstellung eröffnet wurde, spricht, betont sie zwar, dass damals alle Erinnerungen noch sehr frisch gewesen und Wunden nicht verheilt seien, aber trotzdem fühlte sich die politische Atmosphäre liberaler an. Heutzutage versuche man die Geschichte der Belagerung in eine einseitige ethno-nationalistische Narrative des Opferseins, des Leids, der Zerstörung und in einen Konsolidierungsmoment der Nation zu verwandeln. Ganz in dem Stil: Wir, Bosniaken [Selbstbezeichnung der bosnischen Muslime], haben gelitten, weil die Serben uns angegriffen und gefangen gehalten haben.
Es gebe aber noch eine andere Perspektive. Eine, auf welche die Fotos von den Antikriegsdemonstrationen mit jugoslawischen Flaggen und Titos Bildern hinweisen. Ein Narrativ des friedlichen Zusammenseins. Ein Narrativ, das langsam wie junge Leute der Perspektivlosigkeit wegen, aus dem Land verschwindet.
Elmas Wahrnehmen nach stehe die Belagerung von Sarajevo symbolisch für den Kampfgeist, Tapferkeit, Gemeinschaft aller ethnischen Gruppen und dem Streben nach dem Erhalten des Alltags unter schwersten Bedingungen. Wieder weist sie auch auf den Faschismus und Antifaschismus hin. Die Parole, die auf dem Mosaik am Eingang steht, sei am Anfang der Belagerung wiederentdeckt worden. Für viele war es wenigstens anfangs kein Krieg verschiedener ethnischer Gruppen gegeneinander, sondern ein Kampf von „uns“ gegen „sie“, die Gewalttäter, die Faschisten.
Das bin ich. Ein Bosnier.
Was bedeutet es heutzutage, Bosnier*in zu sein? Eine Schachtel nach oben, zwei Kisten runter. Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss laufen an uns immer noch die fleißigen Mitarbeiter*innen mit vollen Händen vorbei. Eine bildhafte Darstellung der Schachtel-Metapher, mit der Elma auf unsere Frage antwortet. Bosnier zu sein bedeute für sie persönlich das Nichtakzeptieren der „Schachtelung“ der Menschen, die Unterteilung entlang ethnischer Linien, sei es im Bildungssystem oder in der politischen Sphäre. Es hieße, sich dagegen zu wehren, um nicht von den nationalistischen Stimmungen verschluckt zu werden und Bosnien und Herzegowina primär als Staat getrennter Gemeinschaften wahrzunehmen. Ihre Heimat zeichne sich durch eine große Vielfalt aus, die entdeckt, gelebt und kommuniziert werden solle.
Freiheit stirbt mit Förderung?!
Im Erdgeschoss schauen wir uns weitere Ausstellungsräume an. Obwohl die Themen durchaus spannend sind, wie zum Beispiel die Wahl von „Miss Sarajevo“ während der Belagerung, kann einem nicht entgehen, dass die Kreativität der Darstellungsformen an manchen Stellen an das Spartanische grenzt. Es ist erkennbar, dass die finanzielle Förderung des Historischen Museums sehr knapp ist. Es sei eine gezielte, politische Strategie des Staates, die Narrative nicht aufrechtzuerhalten, die an das gemeinsame Erbe von Jugoslawien und später Bosnien und Herzegowina erinnern. Die Begründung? Es kritisiere und stelle automatisch die offizielle Linie des Staates in Frage, denn diese zielt auf die Teilung ab. Ohne Neid, aber sichtlich enttäuscht weist unsere Gesprächspartnerin darauf hin, dass die Museen mit konfliktlosem Inhalt, wie zum Beispiel das Nationalmuseum, das sich eher auf Archäologie, Ethnographie und Umwelt konzentriert, viel einfacher zu staatlicher Förderungen komme.
„Das Fehlen der finanziellen Mittel für das [Historische] Museum heißt nicht das Fehlen von Geld“, behauptet Elma resolut. Laut ihrer Einschätzung könne man in der Staatskasse genug Mittel zusammentreiben, um das Budget, das sich jährlich im Bereich von ein paar Millionen befinde, zu stemmen. Da aber dies nicht der Fall ist, muss man nach alternativen Lösungsansätzen suchen. Dafür hat ihr Museum eine einschlägige Strategie entwickelt. Sie heißt: Identifikation und Anderssein. Genauso wie in der Ausstellung „Sarajevo unter Belagerung“ sollten sich die Einheimischen in dem Museum wiedererkennen und es nicht als eine künstliche Institution, sondern als ein Museum aller für alle wahrnehmen. Diese radikale Wende in der Selbstwahrnehmung kam im Jahre 2012, doch sie ist auf keinen Fall idyllisch verlaufen, denn wie kann man Leute in ein kaltes altes Gebäude locken? „Das Fehlen von finanziellen Mitteln und politischem Interesse bedeutet Freiheit und Unabhängigkeit“, merkt Elma an. Im Museum finden verschiedene kulturelle Veranstaltungen statt, die eher atypisch für die Region seien, denn das Museum könne das Programm ganz nach eigenem Belieben gestalten. Dadurch kann nicht nur das Interesse der Einheimischen, sondern auch der Medien und potenzieller Partner geweckt werden, die dann mit weiterer Finanzierung helfen können. Gleichzeitig veranstaltet das Museum Zeitzeugengespräche, stellt Quellen für Forschende zur Verfügung und engagiert sich im Bereich der politischen Bildung für Jugendliche. Das ist eine Herzensangelegenheiten Elmas geworden.
Idealisten ohne Ende
Der Vorraum von Elmas Büro, welcher das Nervenzentrum mit den Mitarbeiter*innen zu sein scheint, ist wahrscheinlich der einzige Raum des Museums, wo eine mitgebrachte elektrische Heizung läuft. Wir bewundern den Enthusiasmus von Elma und ihrem Team. „Wenn man aufhört, an die Menschen und ihre persönliche Verantwortung und Bemühungen zu glauben, dann verliert man den Willen für alles“, erwidert Elma, als wir sie danach fragen, warum sie diesem Job nachgeht. Bei ihr scheint es allerdings mehr Berufung als bloße Erwerbstätigkeit zu sein. Viele können es nicht verstehen, warum sie sich all die Unannehmlichkeiten und Druck antue, merkt sie an. Ihr Ziel ist aber klar. Die verletzliche Gemeinschaft stärken. „Ich möchte eine von diesen verantwortungsbewussten und ergebenen Professionellen sein, die versuchen, ihre Arbeit so gut wie möglich zu machen, um etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun.“ Als wir das Gebäude verlassen und feststellen, dass es draußen trotz des Windes viel wärmer ist, geht Aleš der Gedanke durch den Kopf, den er uns wenig später erzählt: Fackeln können manchmal auch ohne Feuer brennen.