Anna Chernomordik
Eine türkishaarige, fern der menschlichen Proportionen animierte Gestalt singt alleine eine dreistimmige Bachfuge. Das ist eine der absurdesten Ausprägungen klassischer Musik auf YouTube und ein Produkt der japanischen Firma „Crypton Media Future“, die die Musik-Software „Vocaloid“ vertreibt. Die beliebteste Stimmeinstellung der Software ist das Maskottchen namens „Hatsune Miku“ und eine Art Quintessenz japanischer Popkultur. Es sollte ursprünglich Popsongs singen, aber Bach kann es auch, sogar mit Triller und Ritardando. Klassik im Pop-Gewand, oder Pop im Klassik-Gewand, ein bisschen wie Coca-Cola mit Grünteegeschmack (gibt es!) — ziemlich schräg, aber irgendwie ganz interessant. Kann man mit dieser „populären“ Mischung auch klassische Musik verkaufen?
Der Begriff Popmusik ist ähnlich dürftig wie die Kategorisierung in E- und U‑Musik. Die Bezeichnungen „unterhaltend“ und „populär“ beinhalten eine starke Wertung – einerseits beliebt, andererseits minderwertig. Nach weiteren Definitionen[1] ist Popmusik Musik mit der schnellsten und weitesten Verbreitung und der häufigsten Rezeption, aber auch Musik, die nur eine rein affektive Rezeptionsweise verlangt und keine Hörschwierigkeiten bereitet. In Abgrenzung dazu wäre also klassische Musik durchaus mit Schwierigkeiten verbunden und sollte nicht nur emotional, sondern auch analytisch, auf Verständnis abzielend gehört werden. Eigentlich handelt es sich dabei um Scheinpolaritäten, das eine schließt das andere nicht zwangsläufig aus. Popmusik entzieht sich nicht der Analyse und es gibt auch emotional leicht zugängliche Klassik. Doch die Tendenz, dass klassische Musik wohl einen bewussteren Umgang beim Hören braucht, wird deutlich auch am Durchschnittsalter ihrer Hörer.
Das bewusste Hören von Musik ist zumindest im Umgang mit Massenmedien eher selten, Radio gilt schließlich als „Nebenbeimedium“. Das ist eine Folge der Entwicklung der Medien im 20. Jahrhundert und der Anpassung der Musik an diese Entwicklung. Der österreichische Musiksoziologe Kurt Blaukopf prägte dafür den Begriff „Mediamorphose“[2], eine Art Metamorphose der Musik durch die Technik. Die Möglichkeit der Tonaufnahme in all ihren Entwicklungsstadien veränderte auch die Produktions‑, Distributions- und Rezeptionsweise der Musik. Von gegebenen räumlichen Kontexten gelöst wurde sie eigentlich allgegenwärtig, alleine durch den immer häufigeren Einsatz von Jingles, musikalischen Fragmenten zu Werbe- und Wiedererkennungszwecken. Die Dauerbeschallung veränderte auch das Hören, neue Formen wie „selektives Hören“, „Weghören“ oder „zufälliges Hören“ gewannen zunehmend an Bedeutung. Das (Musik-) Hören wurde zur Nebenhandlung, für die Klassik wohl eher ungünstig. Daneben steht klassische Musik auch heute noch in der Medienübertragung vor banalen Hürden. Bei einer typischen Form des Nebenbei-Hörens, beispielsweise beim Auto-Fahren, stehen ihr ihre starken dynamischen Kontraste im Weg, die leisen Momente eines klassischen Werkes sind je nach dynamischer Amplitude schlichtweg schlecht hörbar. Die lautesten Stellen sind so laut wie ein durchschnittlicher Pop-Song, der bereits bei seiner Entstehung an die Medienübetragung angepasst wird. Ein Großteil der Pop-Musik ist gar nicht von elektronischer Verstärkung und Wiedergabe gelöst denkbar, David Guetta verliert seinen USB-Stick und muss eine Welttournee absagen.
Der Radiosender „klassikradio“ versucht einige Medienverwertungsschwierigkeiten der klassischen Musik durch Anpassung an Popmusik zu glätten und schafft klassischer Musik damit eine Art neue „Klangidentität“. Seit seiner Entstehung 1990 ist der Privatsender auch jüngstes Klassik-Radio Deutschlands mit einem Hörerdurchschnitt von 54 Jahren im Jahr 2012. Die Musik des Senders wird nach bestimmten Regeln ausgewählt, die auch einigen Pop-Sendern zu eigen sind[3]: In einer möglichst kleinen Musikrotation wird Musik gespielt, die möglichst wenig polarisiert, was für einen Sender, der auf das Kulturerbe der letzten Jahrhunderte zurückgreifen will, durchaus eine deutliche Beschränkung ist. Die Länge der Stücke soll dabei einen durchschnittlichen Popsong nicht sonderlich überschreiten. Für Nicht-Klassik-Hörer werden Ankerpunkte aus Filmmusik geschaffen. Klassische Musik wird dagegen technisch an Klangvorstellungen angepasst, durch starken Einsatz des Kompressors werden dynamische Kontraste „ausgeglichen“, allerdings schnell zu Lasten der Tonqualität. Die Anpassung gelingt also durch kurze Stücke und eine Begradigung der Dynamik an moderne, „populäre“, Klangästhetik. Inwiefern es Hörer auch zum Genuss klassischer Musik abseits ihrer gefestigten Hörgewohnheiten anregen würde, ist allerdings fraglich. Es könnte sogar eher die Hörbarrieren gegenüber anderer längerer, „langweiligerer“ Klassik zementieren.
Eine Alternative zur Veränderung der Klanggestalt wäre der Versuch, Original-Musik in einen neuen visuellen, einen popkulturellen Kontext zu bringen. Im Frühjahr 2014 veröffentlichte das belgische Musikfestival „B‑Classic“ ein Promovideo, das nach eigenen Angaben erste Musikvideo zu klassischer Musik, mit dem Titel „Dvořák – Symphony No. 9 Allegro con fuoco“. Darin „twerken“ fünf junge Koreanerinnen zu einer gekürzten Version des vierten Satzes der 9. Dvořák-Symphonie. Das Video des Regisseurs Raf Reyntjens („Stromae – Papaoutai“) soll laut Eigenaussage so sehr provozieren, dass dem Publikum nicht auffallen darf, dass es gerade klassische Musik hört. Die erklärte Absicht dahinter ist, der Klassik dieselbe Aufmerksamkeit zu verschaffen wie Pop-Musik, eben indem sie behandelt wird wie Pop-Musik. Nach seinem Erfolg auf YouTube lief das Video auf dem belgischen MTV-Ableger als tatsächlich erstes Musikvideo mit klassischer Musik auf einem Pop-Sender. Doch die Nachhaltigkeit des Ergebnisses ist auch hier fraglich. Die Kampagne brachte dem Festival kurzzeitig Aufmerksamkeit, doch ob das Fernseh- und YouTube-Publikum es tatsächlich ins Konzert geschafft haben, ist nicht bekannt.
Sowohl „klassikradio“ als auch „B‑Classic“ versuchen, klassische Musik in den medialen Alltag zu integrieren, jedoch bewusst ohne sich auf die Musik einzulassen oder dem Hörer diese Chance zu geben. Der Versuch, der Musik ein neues Image zu verschaffen, scheint in diesen Fällen auf Kosten der Musik zu gehen, ein Balanceakt zwischen kommerziellem Erfolg und künstlerischer Unantastbarkeit. Obwohl „klassikradio“ als auch „B‑Classic“ die „Klassik“ im Namen tragen, versuchen sie sie so weit es geht zu verschleiern bzw. jegliche Anstrengung in der Auseinandersetzung mit der Musik zu vermeiden — im Prinzip eine „Leichtigkeitslüge“, wie Holger Noltze sie in seinem gleichnamigen Buch[4] benennt. Klassische Musik wird auch hier als leicht zugänglich verkauft, doch die Methode öffnet kaum die Ohren für Musik, die länger als 3’30 dauert und größerer Konzentrationsanstrengung bedarf. Trotzdem kann größere Präsenz im medialen Alltag zu einem dauerhaften Abbau einiger Rezeptionsschwierigkeiten von klassischer Musik führen. In der fortwährenden Mediamorphose von den elektronischen Medien zu den digitalen[5] erfolgt eine weitere Anpassung der Musik an die Medien. Das Internet als wichtiges Distributionsmedium bietet auch der Klassik neue Vertriebs- und damit neue Rezeptionswege, zum Beispiel die Möglichkeit, einzelne Sinfoniensätze zu streamen oder zu erwerben, anstatt einer gesamten Sinfonie. Für die Produzierenden ist selbst die gekaufte Variante allerdings noch nicht ertragreich, bei knapp einem Euro für fünf bis zwanzig Minuten Musik. Vielleicht kommt mit den neuen Distribtionswegen auch die Chance auf ein neues Image und eine größere Popularität – allerdings würde diese Popularität wohl in einem vergleichweise kleinen Rahmen bleiben. Also Club-Mate-Klassik anstatt von Cola mit Grüntee. Nicht so süß, ein bisschen speziell, aber wenn man sich daran gewöhnt, macht es vielleicht süchtig.
P.S. Kleines Extra, hier wird’s noch ulkiger: Hatsune Miku singt den Erlkönig von Schubert
Anna Chernomordik, Jahrgang 1992, moderierte während ihres Musikjournalismus-Studiums an der TU Dortmund regelmäßig das studentische Klassik-Magazin “TerzWerk” auf dem Dortmunder Campussender eldoradio*.
[1] Umfangreich gesammlt bei – Schoenebeck, Mechthild von (1987): Was macht Musik populär? Untersuchungen zu Theorie und Geschichte populärer Musik.
[2] Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. erw. Aufl., 1996.
[3] Genaue Analyse von „klassikradio“ und sowie Klassik im Radio: Polaschegg, Nina (2005): Populäre Klassik — Klassik populär. Hörerstrukturen und Verbreitungsmedien im Wandel. Sowie Schwabeneder, Stefan: Konzeption und Gestaltung von Klassikformaten. In: Schramm, Holger (2008): Musik im Radio. Rahmenbedingungen, Konzeption, Gestaltung, S.221 – 236.
[4] Noltze, Holger (2010): Die Leichtigkeitslüge. Ber Musik, Medien und Komplexität.
[5] Mehr zur digitalen Mediamorphose — Smudits, Alfred:(2002) Mediamorphosen des Kulturschaffens. Kunst und Kommunikationstechnologien im Wandel.
Dies war ein Beitrag von Anna Chernomordik im Vortragsblock “Wahrnehmung” der Tagung “Klang und Identität”.
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