Valentin Schmehl
Wir erlangen Stimme im Verlauf unseres Lebens. Stimme ist dabei immer vielfältig – sie ist mein akustischer Fingerabdruck, überwindet die Grenze meines Körpers von innen nach außen, sagt „Ich“ und klingt doch in verschiedenen Kontexten anders. Wir erlangen Stimme, d.h. wir lernen sie zu nutzen. Doch an welche Bedingungen ist dieses Erlernen geknüpft?
1. Ein Körper mit Sound – Stimme arbeitet an der Konstitution unseres Körper
Der junge Mann in dem Video bin ich. Als ein Mann war ich nicht immer zu erkennen, ungewollt und doch von meinem Körper produziert – irgendwann zwischen dem, was wir unter Stimmbruch verstehen und meinem 20. Lebensjahr entschied ich, nur die Randstimme zu nutzen und daher sehr hoch zu sprechen. Mein Körper wurde von dieser Stimme begleitet und mein Umfeld nahm mich dadurch war: das war ich. Das war meine Stimme. Ist da in dir auch noch eine andere Stimme? Mit etwas Übung und der Hilfe eines Phoniaters konnte ich meinen Stimmsitz in die Vollschwingung der Stimmlippen verlagern und somit tiefer sprechen. „Ich sah nun aus wie ein Mann und klang wie ein Mann.“
Roland Barthes prägte den Begriff des „Korns der Stimme“[1] als das Knacken, die Atemluft, das Rauschen und Volumen, das den Körper im Klang der Sprache verfügbar macht, unseren Körper über unseren Mund hinweg nach außen verlagert. Unsere Stimme konstituiert unseren Körper mit – denke an die Radio-Sprecher*innen und welches (oft attraktive) Bild du von ihnen hast. Dann gehe online und schau dir ihre Photos auf der Website des Senders an. Klänge werden so nuanciert und gezielt in Medien eingesetzt, dass wir unausgesprochene Kategorisierungen von Stimmen und ihren (erwarteten) Körpern übernehmen.
2. Stimme und Identität – meine echte Stimme
Unsere Stimmen sind an unsere Identität gebunden. Zwei Token[2] unserer Gesellschaft: du rufst deine Mutter an und beginnst, drauf los zu erzählen. Du hast dich nicht vorgestellt, sie sollte dich trotzdem erkennen; der böse Wolf isst Kreide und erlangt die Stimme der Geißmutter – er ist ein Betrüger, indem er eine Stimme stiehlt, die nicht ihm gehört. Der Anspruch an unsere authentische Stimme scheitert zwar schon jedes Mal, wenn wir einen Schnupfen haben, aber dennoch binden wir an einen einzelnen Körper in der Regel eine ‚echte’ Stimme. Imitatoren können zwar wie Angela Merkel sprechen, aber dahinter verbirgt sich immer noch eine private Stimme, wenn sie ‚normal’ sprechen.
Das Beispiel meiner eigenen, unwillkürlich gender-subversiven Stimme zeigt, dass diese authentischen Stimmen auch (durch Praxis) erlangt und erarbeitet werden – aber wie stark ist unser Bewusstsein in der Gesellschaft, dass nicht nur Sprechweisen (im Aufgabengebiet der Logopädie verortet), sondern auch konkret unsere ‚normalen’ Stimmen Entscheidungen unterliegen, die jenseits von Subversion und Parodie täglich neu eingeübt werden?
3. Stimme und Alterität – meine fremde Stimme
Deine Stimme klingt nicht so, wie du sie hörst. Erst seit der technischen Möglichkeit, Stimmen aufzunehmen, können wir uns mit dem Klang konfrontieren, den die Anderen da draußen von unserer Stimme vernehmen. Das Hören der eigenen Stimme vom Abspielgerät ist für viele von uns mit Scham verbunden – es macht uns gewahr, wie wenig wir uns selbst zur Verfügung stehen, wie jeder Körper in sich bereits ein intersubjektiver Akt ist. Stimme ist immer schon mit dem Anderen, der sie hört und ihr damit Sinn gibt, verbunden. Ich muss mich daran gewöhnen, dass da vom Tonband ein Fremder zu mir spricht, oder aber dass mein Hörorgan nicht sonderlich neutral vermitteln kann, wenn sich ein Klang direkt am (…im) eigenen Körper abspielt.
4. Muskelarbeit – Wie kommen wir zu den Stimmen?
Wie performativ Stimmen sind, wissen wir zur Genüge – wir hören Michael Jackson und Prince, Björk und Maria Callas, Whitney Houston und bulgarische Frauenchöre singen und sind uns bewusst, dass sie alle viel Zeit und Übung investiert haben, ihren Stimmapparat so zu bewegen, dass diese spezifischen Produkte im Raum erklingen können. Aber wer kann so singen? Wer kann solche Stimmen erreichen?
Es liegt nahe, hier auf das alte Modell der „Begabung“ zurückzugreifen, das eng gebunden ist an eine romantische europäische Vorstellung des Genies, das mit allen Anlagen geboren wird und sie zu entwickeln suchen muss. Oder wir folgen im anderen Extrem dem Slogan „jeder Mensch kann singen!“ und rufen unendlich erweiterbare Körper auf. Die Techniken, die sich dem Erlernen des Singens widmen, sind sehr vielfältig. Sie changieren meist zwischen Projektionen des Körpers und des Vorgangs des Singens in Metaphern („Brust- und Kopfstimme; die Aufhängung des Körpers; der Punkt zwischen den Augen, aus dem heraus ich stimmlich schieße; durch die aufrechte Luftsäule nach hinten aus dem Kopf heraus singen etc.“) und funktionalen Bestimmungen (Position des Kehlkopfs; Lippenspannung; glottaler Stimmansatz etc.). Seit den technischen Erneuerungen in der Laryngoskopie, die mit kleinen Kameras das Betrachten des Vokalstraktes in action ermöglichte, entwickelten sich Gesangstechniken wie „Estill“ oder „Complete Vocal Technique“. Sie richteten ihren Fokus auf die Fruchtbarmachung anatomischer Erkenntnisse für die ästhetische Praxis der Nutzung des Vokaltrakts und unterscheiden in ihren Übungen nicht mehr länger zwischen Sprech- und Singstimme als verschiedene Lern-Bereiche. Damit schwindet in diesen Praktiken durch das explizite Verstehen der Stimmphysiologie, ihrer Anwendung und Nuancierung im künstlerischen Einsatz (dem „Singen“) die Unterscheidung zwischen performativer und gegebener Stimme. Als Startpunkt im Singen-Lernen werden Alltagsgebräuche der Stimme herangezogen, zum Beispiel vermittelt „Estill“ die „nasale Twang Qualität“ im Gesang über das Singen von „Happy Birthday“ im Modus eines Kindes, das ein anderes Kind hänselt.
Kann so also auch meine „funktionale Stimmstörung“, die mich außerordentlich hoch sprechen ließ, als eine Alltagsübung verhandelt werden, die mir das Singen in Countertenor-Lage lehrt?
Unsere Stimmen sind Spuren von Körpertechniken, hörbare Muskelarbeit, bleiben aber gleichzeitig von Metaphern, Sprachbildern und eingefleischten kulturellen Vorstellungen bedingt. So ist einer der primärsten Marker von Un/Möglichkeiten bei der Nutzung der Stimme das Hoch und Tief. „Das kann ich nicht singen, so hoch komme ich nicht“. Der körperliche Schutzmechanismus, der uns unsere Taschenfalten („falsche Stimmlippen“) zusammenpressen lässt, wenn wir Töne, die uns hoch erscheinen, verlauten wollen, muss bei vielen Gesangsschüler*innen erst einmal mühsam abtrainiert und in Entspannung umgewandelt werden[3]. Die Unmöglichkeit, hoch zu singen, ist eine hochgradig psychologische, die mit der Angst vor dem Ton und der kulturellen Aufladung von Ton-Höhen einhergeht. George Lakoff und Mark Johnson legen in ihrer bekannten Analyse zu „Metaphors we live by“ die moralische Dimension der räumlichen Metaphern, die an „hoch“ und „tief“ gebunden sind, in der „hoch“ mit Leichtigkeit, Tugendhaftigkeit, aber auch Abstraktion und Rationalität verknüpft[4]. Wenn wir von „hohen Tönen“ sprechen und sie mit dem Stimmapparat zu erreichen suchen, sind unsere Erwartungen an die „hohen Töne“, ihren Wert und ihre Schwierigkeit geprägt von sprachlich genährten Bedeutungsnetzwerken. „Hoch“ und „tief“ und auch das Produzieren von „hohen“ und „tiefen“ Klängen mit der Stimme geht über rein funktionale Schallwellen- und Muskel-Eigenschaften hinaus, die Bedeutung von „hoch“ in unserer Gesellschaft formiert Gewohnheiten in Kehlkopfstellung und Aktivierung des Taschenfalten in unserem Stimmapparat. Sosehr unsere Stimme materiell ist, so ist sie doch auch immer imaginiert und von Bedeutung in Produktion und Wahrnehmung mitgeformt.
Zugang zu den Stimmen – Welches Verhältnis hast du zum Klang deiner Stimme?
Wenn wir uns darüber Gedanken machen, wie unsere jeweilige Stimme zustande kommt und wie sie eingeordnet wird, geht es um eine Ermächtigung: unsere Stimme ist immer auch die Stimme des Anderen, sie ist gelernt und von Mustern geprägt. Sie ist Muskelarbeit und wird durch Training verändert – nicht nur die Singstimme, auch die private Sprechstimme; in ihrem Klang, in dem, womit wir erkannt werden und was sich immer schon von selbst eingerichtet zu haben scheint.
Valentin Schmehl studiert im Master Tanzwissenschaft an der FU Berlin. Seine ästhetische Praxis mit Stimme (u.a. am Haus der Kulturen der Welt) und Bewegung (u.a. an der OMA Weimar) sind fester Bestandteil seiner wissenschaftlichen Arbeit.
[1] Barthes, Roland (2002): Die Körnung der Stimme. Interviews 1962–1980. Frankfurt am Main.
[2] typisierte Sounds im Film, die Atmosphären schaffen, vgl. Flückinger, Barbara (2001): Sound design – die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg, 113.
[3] Um selbst nachzuvollziehen, wovon hier die Rede ist, sprich ein kontinuierliches „Aaaa“. Stell dir nun vor, du sitzt auf Toilette und presst, während du weiterhin das Aa sprichst. Löse dann langsam und graduell die Spannung, um dann wieder zurück zu dem erstickten und gepressten Ton zu kommen. Was sich hier schließt und öffnet sind deine Taschenfalten.
[4] Lakoff, George / Johnson, Mark (1980): Metaphors we live by. London, 15ff.
Dies war ein Beitrag von Valentin Schmehl zum Klanglabor der Tagung “Klang und Identität”.
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