Relative Ruhe? „1968“ an der Martin-Luther-Universität

„Da war doch nichts los…“

… diese Bemerkung fiel bei einem unserer Besuche im Universitätsarchiv in Halle – sie formuliert einen Eindruck, der sich uns bei der Suche nach der Geschichte von „1968“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg immer wieder aufdrängte. Ein Grundton relativer Ruhe prägt bis heute die Erinnerungen an dieses Jahr in der DDR. Dies gilt umso mehr, wenn man nach jenen Entwicklungen fragt, die das Gesicht von „1968“ im Westen prägten: etwa nach einer studentischen Protestbewegung und lautstarker Systemkritik, nach brennenden Barrikaden und gewaltsamen Konfrontationen mit der Polizei, nach scharfen Generationenkonflikten oder nach Schauplätzen libertärer Selbstverwirklichung.

Dies alles gab es im Osten nicht – oder? Gab es vielleicht doch vergleichbare Entwicklungen – oder ganz andere, weniger sichtbare Transformationserfahrungen? Wofür steht dieses zur Chiffre geronnene Jahr in der Geschichte der DDR und, spezifischer, in der Geschichte der Martin-Luther-Universität in Halle? War im Osten alles anders – oder war die hallesche Universität ein Ort jenes „anderen 1968“, das unterdessen auch im Westen immer mehr entdeckt wird?

Diesen Fragen haben sich die Recherchen unserer kleinen studentischen Projektgruppe über mehrere Monate im „Jubiläumsjahr“ 2018 gewidmet. Das Ergebnis ist kein einheitliches Bild, sondern ein Einblick in unterschiedliche Ebenen und Orte der Geschichte dieses Jahres – einige Schlaglichter auf die gebrochenen Lebensläufe einzelner Studierender, die internen Strukturen und Konfliktzonen der Universität und die (Nicht)Repräsentation der Transformationserfahrungen dieser Zeit in der universitären Außendarstellung.

Die Stadt Halle um „1968“

Die Stadt Halle machte ihre prägende Protesterfahrung nicht 1968, sondern bereits fünfzehn Jahre zuvor – am 17. Juni 1953 war sie eines der Zentren des Volksaufstandes. Auf dem Hallmarkt fand eine Kundgebung mit mehreren Zehntausenden Menschen statt, an der Strafanstalt „Roter Ochse“ kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Diese Aktionen gingen mehrheitlich von der Arbeiterschaft aus, nicht von Intellektuellen oder Studierenden. Und doch war ein Doktorand der MLU unter den drei Toten, die am Ende der gewaltsamen Konfrontationen zwischen Demonstranten und Polizei der Staatsmacht zum Opfer fielen.

Nach dieser kritischen Phase waren die 1960er Jahre in der Stadt Halle wie in der gesamten DDR eine Zeit der gezielten sozialistischen Zähmung der Gesellschaft und der verordneten „Modernisierung“. Dies betraf nicht zuletzt die Universitäten, die zum Objekt einer umfassenden Hochschulreform gemacht wurden, die auf die Verdrängung kritischer Wissenschaftler und die Durchsetzung sozialistischer Erziehungsideale abzielte.

Parallel wurde Halle zur „sozialistischen Bezirksstadt“ und zum Zentrum der chemischen Industrie ausgebaut. 1963 beschloss die Stadtverordnetenversammlung die Gründung einer Wohnstadt mit circa 20.000 Wohnungen, gleichzeitig sollte die Altstadt saniert wurden. Die Grundsteinlegung für die sozialistische Vorzeigestadt „Halle-West“ erfolgte im Juli 1964, drei Jahre später erhielt dieses Gebiet als Halle-Neustadt eigenes Stadtrecht. Dies war die größte Stadtneugründung in der Geschichte der DDR.

Die Zeit ab Mitte der 1960er Jahre war für die Stadt Halle also eine gewisse Blütezeit, doch schon Ende der 1960er zeigte die sozialistische Fassade Risse. Der Aufbau von Halle-Neustadt und weitere Prestigeprojekte bedeuteten für andere Bereiche der Stadtentwicklung die Stagnation. Zugleich gestaltete sich auch in den neuen Vorzeigebezirken die Situation der Bewohner eher als „Leben im Unfertigen“, denn als Verwirklichung einer Utopie. Bereits bei der I. Parteikonferenz der SED in Halle-Neustadt 1967 mahnte der Sekretär der SED-Ortsleitung daher die anwesenden Parteimitglieder, die bestehenden Unzulänglichkeiten zu beseitigen. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass die angestrebte große Sache durch ihre kleinen Schwächen zu Unzufriedenheit führe.[1]

„Prager Frühling“ in Halle?

Die „von oben“ betriebene gesellschaftliche Veränderung in den 1960er Jahren brachte also auch Verunsicherungen und Konfliktzonen mit sich sowie das Bewusstsein für die Antastbarkeit des Sozialismus. Doch letztlich war es ein äußeres Ereignis – die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“ am 21. August 1968 – das zum Katalysator für Proteste in der DDR wurde. Der Einmarsch in Prag löste größere Unruhe in der breiten Bevölkerung aus und beförderte die intellektuelle Dissidenz. Deren längerfristige Wirkmacht entfaltete sich allerdings erst in den 1970er und 1980er Jahren. Gleichwohl wurde der wachsende Unmut auch schon um 1968 in Halle und seiner Umgebung sichtbar.

Politische Losung am Halleschen Turm in Köthen, 7. 10.1968 (Q: BStU MfS V Halle AU 3160/69, Bd. 7, Bl. 83)

Angesichts solcher Vorfälle ließ Leo Stern, einer der einflußreichsten DDR-Historiker und zeitweiliger Rektor der MLU in einem Beitrag für das Neue Deutschland seine Leserinnen und Leser wissen, dass der Einmarsch der sowjetischen Truppen nur den entsprechenden westlichen Invasionsplänen zuvorgekommen sei.[2] Strafrechtlich geahndete Aktionen, etwa demonstrative Proteste gegen den Einmarsch, gingen auch 1968 eher von Arbeitern als von Schülern oder Studenten aus. Genauere Zusammensetzungen über diese Fälle in Halle ließen sich im Zuge unserer zeitlich begrenzten Recherchen nicht ermitteln. Immerhin kam es in Halle im Zusammenhang mit solchen Protestaktionen zu 36 Parteistrafen, 14 davon wurden mit einem Parteiausschluss verbunden (zum Vergleich: in Berlin waren es 37, in Magdeburg 44 und in Berlin 37 solcher Verfahren).[3]

Vom MfS registrierte Flugblätter, anlässlich der Ereignisse in Prag 1968  (Q: BSTU MfS HA XX AKG Nr. 804, Bl. 33)

Letztlich war 1968 wohl kein außergewöhnliches Jahr in der Geschichte der DDR, sondern eher ein Normaljahr – auch in Bezug auf studentisches Protestverhalten. Doch wurden in diesem Jahr Prozesse in Gang gesetzt, die in den Transformationen des Herbst 1989 eine Rolle spielen sollten. Dies war aber keine breite „Bewegung“, sondern eher ein Zusammenspiel individueller Erfahrungen und unverbundener Strömungen unterschiedlicher Art. Diese sollen auch in unseren schlaglichtartigen Fallstudien eine besondere Rolle spielen:

Schlaglichter: Erziehung, Reform, Öffentlichkeit um „1968“

Was es bedeutet, sich in der sozialistischen Erziehungsdiktatur um 1968 auf das Lehramt vorzubereiten, zeigen drei biographische Fallstudien. Mitte der 1960er Jahre hatte die Staatsmacht die ideologische Überwachung der Jugend verschärft, abweichendes Verhalten – das nicht einmal politisch motiviert sein musste – wurde seither strengstens geahndet.

Doch konnte sich Disziplinierung gerade in dieser Phase auch als Modernisierung tarnen. „1968“ stand in der DDR nicht zuletzt für die umfassende Reform des Hochschulwesens, die sich offiziell der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung verschrieb, vor allem aber die ideologische Einhegung und technokratische Formung des universitären Lebens beabsichtigte. Die dadurch entstehenden Reibungsflächen und die Repressionsbemühungen der Staatsmacht zeigten sich an der MLU insbesondere im Bereich der Theologie.

Nach außen drang von solchen grundsätzlichen Konfliktlinien wenig, denn auch die Universitätszeitungen dienten vor allem der „Kopfdressur“ (Henrik Eberle) in der DDR-Gesellschaft. Die mediale Inszenierung des studentischen Alltags wurde hier mit der Kritik am amerikanischen „Imperialismus“ oder der öffentlichen Anprangerung von Fehlverhalten verschränkt – ein durchweg politischer Ton, den man in den medialen Selbstdarstellungen heutiger Universitäten kaum finden wird.

 

Hinweis: Die auf diesen Seiten dokumentierten Recherchen wurden im Rahmen eines Master-Kurses durchgeführt, der im Sommersemester 2018 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg stattfand. Unsere Forschungen haben sich auf das Universitäts-Archiv Halle konzentriert, es konnten aber auch einige Dokumente der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (Außenstelle Halle) einbezogen werden. Wir danken den Mitarbeiter_innen der beiden Institutionen für ihre Unterstützung!

Die Projektgruppe unter Leitung von Dr. Stefanie Middendorf bestand aus folgenden Studierenden: Jakob Elias Debelka, Carlo Maximilian Engeländer, Salome Ludwig.

 

[1] Albrecht Wiesner, Als die Zukunft noch nicht vergangen war – der Aufbau der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt 1958-1980, in: Werner Freitag/Katrin Minner (Hg.), Geschichte der Stadt Halle, Bd. 2, Halle 2006, S. 45-46.

[2] Leo Stern, München 1938 ist Bonner Revancheprogramm. Zum 30. Jahrestag der faschistischen Aggression in der CŠR, in: Neues Deutschland, 28.9.1968, S. 5.

[3] Ilko-Sascha Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt…“ Protestaktionen gegen die Intervention in Prag und die Folgen von 1968 für die DDR-Opposition, in: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 257-274, hier S. 264.

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Diese Aktennotiz vom 26. November 1968 gibt einigen Aufschluss über den Ablauf der Hochschulreform an der Fakultät Halle. Ausführlichere Informationen zu diesem Dokument finden sich in der langen Version des Beitrags Repression und Alltag an einer Problemfakultät.       Fundort: Universitätsarchiv, UAHW, Rep. 7, Nr. 1224.

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