‚Bad Moon Rising‘ von Sonic Youth
Stellt euch vor, mit starken Schnupfen immer wieder auf nassen Asphalt aufzuschlagen. Für gewöhnlich ist das sehr schmerzhaft, aber immerhin ist der Schnupfen dann nicht mehr ganz so schlimm. Das hat nur bedingt was mit Bad Moon Rising zu tun, aber eine schöne Metapher ist es allemal.
Das zweite Album von Sonic Youth aus dem Jahr 1985 präsentiert sich wie eine Katze in einem Tornado – chaotisch, aber anmutig. Hier experimentierte die New Yorker Band zum ersten Mal etwas mehr mit konventionellen Songstrukturen, ohne aber ihren avantgardistischen Ethos zu vernachlässigen. Es war das erste Album der Band was ich mir angehört habe, damals weil mir das Cover gefallen hat. Der Kopf der Vogelscheuche, zu einem schrägen Grinsen verzogen, geht in Flammen auf, während die Sonne hinter der Skyline von Manhattan versinkt. Musikalisch findet sich auf diesem Werk viel ungeschliffener Noise, der im Vergleich zu noch älteren Veröffentlichungen allerdings schon deutlich fokussierter klingt. Ruhige, fast monotone Passagen wechseln sich ab mit Gewaltausbrüchen, die meistens aber zu unrhythmisch ausfallen, um noch irgendwie Punk oder Hardcore zu sein. Auch gleiten die Songs häufig nahtlos ineinander über. So wird mehr Raum suggeriert, als letztendlich da ist, denn insgesamt ist das Album doch recht kompakt. Dennoch verbreitet die Scheibe – vor allem bei mehrfachem Hören – eine dichte Atmosphäre, ist dabei zäh und brüchig wie alte Spaghetti.
Der Einstieg gerät noch recht eingängig, mit dem melodischen Intro, was jäh von der ersten Klängen von Brave Men Run beendet wird. Hier schimmert für anderthalb Minuten schwach ein Teen Age Riot durch, bevor es steil bergab geht. Kim Gordon trägt ein paar Zeilen vor, bevor das Lied in das nächste hineingleitet. Spätestens nach dem vierten „Track“ sollten sich aufmerksame Zuhörer*innen die Frage stellen, ob die Einteilung in solche überhaupt Sinn macht. Dann ist ja nichts mehr übrig, was noch an den Aufbau von klassischen Rocksongs erinnert. I Love Her All the Time arbeitet zwar mit zwei strophenartigen Fragmenten, diese werden jedoch durch die angrenzenden Lärmausbrüche geschickt dekonstruiert. Trotzdem enthalten diese „Strophen“ bereits jene einzigartigen und schwer vorhersehbaren Melodien, die im Zuge von EVOL und Sister, den beiden darauffolgenden Alben, perfektioniert wurden. Die Stimmung der Songs bleibt durchgehend düster, kühl und mitunter unheimlich. Daran haben nicht zuletzt verstörende und konfuse Zeilen wie Twisted passions/ Flesh parade/ Dead ahead/ A world so wide (aus I’m Insane) einen entscheidenden Anteil. So setzt sich scheinbar ein Gesamteindruck des Werks zusammen: Trostlos und dunkel ist das Bild, das Sonic Youth hier von ihrer Umwelt zeichnen. Bis der letzte Song einen erheblichen Bruch in der Albumdramaturgie vollzieht. Denn:
Death Valley ’69 bricht über die Hörer*innen hinein wie eine fliegende Katze aus Stahl durch die Mauern der Engstirnigkeit. Dieses Lied ist das beste und nachhaltigste, was der Punk in den 80er Jahren für mich hervorgebracht hat. An die Energie und Intensivität dieses fünfeinhalb-minütigen Meister*innenwerks reicht kaum was ran, auch nicht der sehr gute Rest vom Album. Thurston Moore teilt sich die Vocals mit Lydia Lunch, die mit ihrer Band Teenage Jesus and the Jerks in den späten 70ern zur Ikone der No Wave Szene New Yorks wurde. Meiner Ansicht nach der Höhepunkt eines ohnehin bemerkenswerten Albums. Denn allerspätestens mit diesem Song wurde die Blaupause gelegt für die erste Indie-Rock-Welle, die wenig später mit Bands wie Dinosaur Jr., den Pixies oder Pavement und nicht zuletzt Sonic Youth selbst die Musikwelt gehörig aufrütteln sollte.
Bad Moon Rising bleibt ein harter Brocken. Wenn ihr nach diesem Eintrag keine Lust auf das Album, aber auf Sonic Youth habt, dann sei euch ihr 1988er Album Daydream Nation ans Herz gelegt, was völlig zurecht als das Meisterwerk der Band gilt. Dort ist der Schnupfen dann verschwunden, Schläge wahrscheinlich auch, doch der nasse Asphalt ist geblieben, und über ihm thront ein Monolith unbeschreiblicher Schönheit.