Rezension: Der mittelalterliche Mensch und die Zeit

Christian Kiening. Erfahrung der Zeit: 1350-1600. Göttingen: Wallstein, 2022, 336.

Marie Reppe

Die Zeit ist heute eine feste Größe im Leben der Menschen. Umso erstaunlicher ist es, dass man sich bei der Lektüre von Christian Kienings ausführlicher Studie „Erfahrung der Zeit. 1350–1600“ zu fragen beginnt, wo dieses Thema seinen Platz in der literaturwissenschaftlichen Forschung hat. In der Tat ist seine Präsenz sehr bescheiden, was angesichts seiner Bedeutung verwundert. Beschäftigt hat Zeit die Menschheit schließlich seit der Antike, als Selbstverständlichkeit angesehen wird sie jedoch erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit. Christian Kiening betrachtet in seinem Buch die Epoche der ersten intensiven Auseinandersetzung mit Zeitwahrnehmung zwischen 1350 und 1600. Zunächst als etwas eigenwillige Zeitspanne erscheinend, wird man in der Einleitung der knapp 290 Seiten langen Publikation über die Bedeutung des Mittelalters für ein verändertes Zeitempfinden der Menschheit aufgeklärt. Von 1350 ausgehend wird der zeitgenössische Wissens- und Wahrnehmungsstand umrissen, dargestellt, wie Zeit gemessen wurde und an überlieferten Texten erarbeitet, welche Rolle sie auf die Erfahrungen der Menschen ausübte, die etwa durch die Erfindung der Uhr ihr soziales Leben nun ganz neu planen und erleben konnten. Dadurch entsteht ein verändertes Lebensbewusstsein, das im Buch, untergliedert in drei Themenschwerpunkte, an konkreten  literarischen Texten herausgearbeitet wird.

Der erste Schwerpunkt trägt den Titel „Erfahrene Zeit“ und beschäftigt sich ausschließlich mit Texten, in deren Zentrum im weiten Sinne Reisen stehen. Für den Menschen definierte sich Zeit ursprünglich über tageszeitabhängige Veränderungen von Sonnenstand und Licht, Veränderungen des Raumes waren nahezu die einzige Möglichkeit, durch Relation das diffuse Gespür für Zeit zu intensivieren, sie zu empfinden und zu erfahren. Am Beispiel von Petrarca, Mandevilles oder Tucher wird ersichtlich, dass die Menschen mitunter das ganze Leben als Reise in Richtung Tod begriffen, die für den einen kürzer und für den anderen länger war. Damit einher geht eine gewisse Melancholie, die für das Zeitempfinden generell prägend wird, da dieses das Bewusstsein für Endlichkeit mit sich bringt. Das Leben sei „ein kontinuierliches Sterben, ein unaufhaltsamer Weg in den Tod“ (71). Der Mensch sucht in Zeiten von Sand- und Sonnenuhr verlässliche Anhaltspunkte. Anfangs wird noch viel mit biblischen Zeitangaben gearbeitet, die Geburt Jesu ist dabei in unserem Kulturkreis die wohl wichtigste feste Größe. Doch diese Bezugspunkte erweisen sich als sehr abhängig von bestimmten kulturellen Zusammenhängen. Auch die Architektur kann als Zeitzeuge keine Verlässlichkeit bieten, da sie Zerstörung und Überbauung ausgeliefert ist. Das Schreiben an sich wird mitunter als wichtigste Bewusstmachung von Zeitvergehen und Erfahrung betrachtet. Doch auch hier zeigen sich Schwierigkeiten, da unterschiedlich intensive Erlebnisse die Erfahrung von Zeit verzerren können. Erst das Weiterentwickeln von Geräten zur objektiven Messung von Zeit und die dadurch möglich werdende konkrete Datierung von Ereignissen führt zur zunehmenden Loslösung von an den Raum gekoppelter Zeitwahrnehmung.

Unter dem zweiten Schwerpunkt „Gelebte Zeit“ beschäftigt sich Kiening genauer damit, wie die potenzielle Planbarkeit und Einteilung von Zeit, sowohl in naher Zukunft wie in Hinblick auf das ganze Leben, die Menschen weiter beeinflusst. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen hier die Oswald-Briefe, herangezogen wird aber auch Literatur von Alberti, Morelli oder Charles d’Orléans (unter anderem). Die vorgenommene recht kompliziert anmutende Kategorisierung der Thematik ist dabei dem Lesefluss und der Verständlichkeit des hochinteressanten Themas allerdings leider eher hinderlich. Titel wie „Variationen“ oder „Discours de Temps“ zwischen prägnanten Stichworten wie „Lebensgeschichten“ oder „Verfügbare Zeit“ fordern vom Lesenden viel Aufmerksamkeit, um Relevanz und Einordnung nachvollziehen zu können. Wir nehmen trotzdem mit, dass der Mensch im 15. Jahrhundert die Notwendigkeit erkennt, seine Zeit einzuteilen zu müssen, wenn er sie effektiv nutzen will. Der drohende körperliche Verfall im Alter wird ihm ebenso gegenwärtig wie die Vergänglichkeit eines jeden Lebensabschnitts mit sämtlichen positiven wie negativen Gefühlen. Dabei bauen alle Lebensstufen aufeinander auf, sodass ein kontinuierliches Streben nach höheren Zielen zum Ideal wird, zum eigentlichen Sinn. Das Leben wird als unaufhaltsamer Zyklus begriffen, angetrieben und bewegt von Minne und Leistungserbringung. Mit Hilfe von Testamenten wird ab dem späten 15. Jahrhundert gar über den Tod hinaus geplant. Doch je mehr sich die Menschen mit der Zeit beschäftigen, desto klarer erschließt sich ihnen auch die Komplexität des Themas; eigenwillig, unergründlich und in unaufhaltsamer Bewegung.

Entsprechend widmet sich Kiening in seinem dritten Schwerpunkt der Reflexion von als sinnvoll erachteter Zeitnutzung und der damit verbundenen Fixierung auf den Moment als einzige beeinflussbare Größe. Der etwas irreführende Begriff der „Gestundeten Zeit“ wird dem Leser leider bis zum Schluss nicht erläutert. Vermutlich bezieht er sich auf die Zusammensetzung des Lebens aus nutzbaren Stunden. Dabei kann die objektive Stunde für den einen Zukunft sein, während ein anderer sie nicht mehr erleben wird, da er durch den Tod bereits der Vergangenheit angehört. Im Fokus der Betrachtung steht die Geschichte von Faust I und II. Anhand der phantastischen Zusammenarbeit Fausts (und später seines Erben Wagner) mit dem Teufel werden Gedankenexperimente mit stehenbleibender Zeit oder Zeitreisen möglich. Sie zeugen von der intensiven, aber auch spielerisch werdenden Auseinandersetzung der Menschheit mit der Zeit als dem vielleicht faszinierendsten Lebensfaktor. Dadurch, dass ein Leben nach dem Tod zunehmend als nicht mehr selbstverständlich gegeben angenommen wird, wird die Frage nach dem richtigen Füllen der Lebenszeit immer drängender.

Der letzte Punkt der Publikation ist ein Ausblick und nennt sich „Habitualisierte Zeit“, leider ein ebenfalls unerklärt bleibender Begriff. Die Entwicklung des Blicks auf die Zeit als etwas zunehmend Gewohntes, ihre Allegorisierung und Integration ins Alltägliche erwartet den Leser an dieser Stelle. Ein zusammenfassendes Schlusswort bleibt Kiening allerdings schuldig. Obwohl zunächst ohne Bezug zur aktuellen Forschung erscheinend, erschließen sich dem Leser dank Kienings Studie Antworten auf Fragen, die einen jeden schon einmal mehr oder weniger bewusst berührt haben. Die Betrachtung der Zeit vor über 500 Jahren unterscheidet sich erstaunlich wenig von der Art, wie sie den einzelnen noch heute beschäftigt. So erhaschen wir immer wieder zeitübergreifende Erkenntnisse, sei es, dass der barocke Vanitas-Gedanke bereits im Mittelalter existierte oder dass Zeit auch grundlegend für jeden Rhythmus und damit für Musik ist. Eine aktuelle Diskussionsfrage wird in der Tat außen vor gelassen, der Fokus der Studie liegt auf historischen Primärtexten, die als Quellen herangezogen werden. Dennoch erscheint Kienings Untersuchung als Vorreiterwerk auf einem Gebiet, das noch viele wissenswerte Erkenntnisse zu bieten hat und fortzusetzen wäre. Auch wenn es einige philosophische und wissenschaftliche Publikationen über die Zeit als Phänomen gibt, stand die Zeitwahrnehmung durch Menschen bestimmter Epochen noch nicht derart im Fokus, insbesondere nicht mit Blick auf deren reflektierende Auseinandersetzung über Literatur. Das gibt Ausblick auf eventuelle Folgebände. Was das Buch dem Lesenden zu bieten hat, ist ein ausführlicher Blick auf eine bestimmte Entwicklungsphase der Menschheit, in der die Zeit eine enorm wichtige Rolle zu spielen beginnt. Die Studie erlangt trotz Ihres historischen Fokus dabei eine anregende Gegenwärtigkeit in den eigenen Gedanken. Wer sich von der etwas eigenwilligen Kategorisierung und der tendenziell wenig integrierten Fachterminologie nicht abschrecken lässt, erhält am Ende seiner Lektüre einen lohnenden Wissensfundus über die ambivalente Größe Zeit, die den Menschen seit jeher als Monster ängstigte, aber genauso zu Wahrheit und Erkenntnis geführt hat.