Ein Blog für Aufsätze des Germanistischen Institutes der MLU Halle

Kollektive Identitäten in Shida Bazyars „Drei Kameradinnen“ – Hannah Ehrhardt

Hannah Ehrhardt

Kollektive Identitäten in Shida Bazyars Drei Kameradinnen

Einleitung

Frances Fukuyama läutete in den frühen Neunzigern in seinem gleichnamigen Essay das Ende der Geschichte ein. In seinem vielrezipierten Werk beschreibt Fukuyama den Aufstieg des Liberalismus nach dem Zerfall der Sowjetunion und der damit einhergehenden Individualisierung ‚westlicher‘ Gesellschaften. Während viele seiner Annahmen und Vorhersagen sich inzwischen als unzutreffend herausgestellt haben, ist seine Beobachtung von einer fortschreitenden Individualisierung wahrscheinlich begründet. Die Werbung, die uns online angezeigt wird, ist perfekt auf die Interessen und Merkmale der jeweiligen User:innen zugeschnitten. In Wahlkämpfen ist zu beobachten, wie es immer mehr um einzelne Kandidat:innen statt Parteien geht. In den frühen 2010er Jahren schreiben diverse Zeitungen von der ‚Generation Ich‘.[1]

Jetzt, dreißig Jahre nach dem Ende der Geschichte, fragt sich das Individuum: „Wer bin ich?“ Nachdem der Blick in den letzten Jahren besonders auf das Innere des Menschen geworfen wurde, werden wieder Fragen laut, was es eigentlich mit dem auf sich hat, was ihn umgibt. Die Identitätsfrage wird besonders in den letzten Jahren immer heißer diskutiert, sodass die Welt 2021 titelt: „Die Identitätspolitik bedroht unsere freie Gesellschaft.“[2]

Wer erfahren möchte, wie sich die Identität des Individuums konstituiert, muss herausfinden, wie es sich zum Kollektiv verhält. Wie fügt es sich darin ein? Wer sagt, was das ‚Ich‘, ‚Wir‘ und das ‚Ihr‘ ist? Insbesondere im Einwanderungsland Deutschland scheint es eine endlose Spanne unbeantworteter Fragen zu kollektiven Identitäten zu geben, die besonders in den vergangenen Jahren von einer ungeheuren Dringlichkeit betroffen waren und dies auch heute noch geblieben sind. Besonders die Frage nach dem ‚Wir‘ und dem ‚Ihr‘ hat in den Jahren eines immer sichtbarer werdenden Nationalismus neue Relevanz erlangt. Die Süddeutsche schreibt von einer „ganze[n] Phalanx deutscher Autorinnen“, die „in jüngster Zeit dieses Feld neu vermessen. Sie bringt die beiden Debatten rund um gender und race zusammen, ohne sich abgesprochen zu haben“.[3] Dieses Feld von postmigrantischer Identität weiblicher und genderqueerer Personen schließt auch den Roman Drei Kameradinnen von Shida Bazyar ein, auf den sich die Rezension der Süddeutschen Zeitung bezieht.

In Shida Bazyars Drei Kameradinnen nimmt kollektive Identität eine zentrale Rolle ein. Der Roman handelt von drei Freundinnen, Saya, Kasih und Hani, die „[a]ls junge Frauen mit dunkler Haar- und Hautfarbe, deren Eltern aus ungenannt bleibenden Ländern einwanderten, […] zwei oder drei ‚Diskriminierungskategorien‘“ teilen, wie es in der Rezension des Deutschlandfunk Kultur beschrieben wird.[4] Während die drei Freundinnen sich in der Rahmenhandlung in einer namenlosen deutschen Großstadt treffen, um auf eine Hochzeit zu gehen, hat jede von ihnen mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, die letztendlich alle an den Kern der kollektiven postmigrantischen Identität anknüpfen.

Die drei Protagonistinnen bilden dabei ein Kollektiv migrantisierter Frauen, die sich in der deutschen Dominanzgesellschaft bewegen. Der Begriff der Dominanzgesellschaft ist im Folgenden als eine Ableitung von dem Begriff der ‚Dominanzkultur‘ nach Birgit Rommelspacher zu verstehen. Rommelspacher beschreibt mit der Dominanzkultur „ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen“.[5] Es wird veranschaulicht, inwiefern sich verschiedene Herrschaftsformen – zum Beispiel das Patriarchat, Weiße Vorherrschaft und die herrschende Klasse – zu einem alles dominierenden Hegemonen zusammenschließen.  Da die Dominanzkultur den Prozess der Bildung eines Hegemonen beschreibt, wird folgend auf den Begriff der Dominanzgesellschaft zurückgegriffen, die das Produkt hegemonialer Prozesse ist.

Unter Rückgriff auf diese und andere theoretische Konzepte soll diese Arbeit die Frage danach stellen, wie die Identität der drei Frauen überhaupt entsteht. Der erste Teil der Arbeit geht auf die Fremdkonstruktion der Identität und die Legitimität dieser Konstruktion ein. Dafür werden die einzelnen Figuren unter verschiedenen Aspekten in der histoire vergleichend herangezogen. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Selbstbestimmung der Identität der Frauen beschrieben und wie sie sich von den Nicht-Mitgliedern ihrer Gruppe abgrenzen. Als Outgroup wird die Adressat:innen-Gruppe des Romans herangezogen. In diesem Kontext soll auch aus sozialpsychologischer Sicht die Stabilität der Ingroup der drei Frauen bewertet werden. Zuletzt wird auf Basis des Modells der Serie und der Gruppe von Jean-Paul Sartre und Iris Young der Aspekt des reclaims migrantischer Identität untersucht und was dies für die Selbstbeschreibung der Gruppe bedeutet. Überall, wo es um Fremdzuschreibungen geht, geht es auch um die Internalisierung dieser. Deshalb soll insbesondere auf der Ebene der histoire im letzten Kapitel aufgezeigt werden, inwiefern im Roman diese Internalisierungen bewertet wird.

Die Behandlung der kollektiven Identität bezieht sich vornehmlich auf den Herkunftsaspekt der Figuren. Während Geschlecht zwar als eine weitere wichtige Kategorie bei der Darstellung intersektionaler Identitäten in Drei Kameradinnen dient, ist der Aspekt der Herkunft, und die damit einhergehenden diskriminierenden Behandlungen das zentrale Thema des Romans und seiner Figuren. Auf das Geschlecht soll daher nur am Rande eingegangen werden, wenn diese Kategorie die im Roman beschriebenen, die Herkunft betreffenden, Dynamiken und Strukturen unterstützt.

Die Ingroup-Identität der drei Kameradinnen

Im folgenden Abschnitt geht es zunächst um die Bildung der kollektiven Identität der drei Hauptfiguren in Drei Kameradinnen. Der erste Teil soll die Frage beantworten, woher besagte kollektive Identität stammt und welche Rolle Machtverhältnisse und Zuschreibungen von Außenstehenden der Gruppe dabei spielen. Hierzu ist es nötig, die Begriffe der Ingroup und der Outgroup zu definieren. Daran schließt sich die Beschreibung des Verhältnisses von individueller zu kollektiver Identität an und wie die Heterogenität der Charaktere in einer homogenen Beschreibung aufgeht.

Kollektive Identität durch Fremdzuschreibungen

Um eine Kontrastierung der Fremdzuschreibungen von Selbstzuschreibungen herzuführen, soll zunächst auf Letztere eingegangen werden. Der Terminus ‚Ingroup‘ bezieht sich auf eine soziale Gruppe, der eine Person angehört oder mit der sie sich identifiziert. Die Ingroup bildet sich aufgrund eines Zugehörigkeitsgefühls, das wiederum auf geteilten Eigenschaften, wie Klasse, Beruf, Geschlecht, Ethnizität oder einfachen Interessen basiert.[6] Dabei verlangt sie jedoch eine Outgroup, von der sie sich abgrenzen kann, da die Ingroup nur in einer Dichotomie des ‚Wir‘ und des ‚Sie‘ bestehen kann.[7]

Unter Berücksichtigung dieser Annahmen stellt sich die Frage, wie sich die Ingroup Hanis, Kasihs und Sayas definiert und aufgrund welcher Eigenschaften sie sich eine kollektive Identität teilen, genauer gesagt, wo der Ursprung der Zugehörigkeit in der Gruppe liegt.

Kollektive Identitäten können aus einer Selbst-Identifizierung hervorgehen. Carolin Emcke zufolge sind die Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeiten der Betroffenen richten, freiwillig und selbst erwählt, das heißt, nicht von außen aufgezwungen.[8]

Als Grundlage für eine selbsterwählte Identifizierung kann die kulturelle Identität herangezogen werden, die sich in der Performanz kultureller Praktiken ausdrückt. Die Ausübung dieser Praktiken ist aus sozialkonstruktivistischer Perspektive selbsterwählt, es besteht kein Zwang, eine bestimmte Kultur auszuleben. Die Erzählerin Kasih beschreibt jedoch ausschließlich Differenzen der ausgeübten Kulturen in den Familien: „Der ewige Geruch dieser Wohnungen, der Geruch von Füßen, alter Tapete und getrockneten Kräutern, die sich, je nachdem, bei wem wir waren, noch mal unterschieden. So wie sich die Sprachen unserer Mütter und der Geschmack ihrer Gerichte unterschieden“.[9] Essen und Sprache sind solche Performanzen von Kultur. Es finden sich in der Kindheit der Protagonistinnen in dieser Hinsicht keine Gemeinsamkeiten. Die individuellen kulturellen Identitäten der Freundinnen sind also zu heterogen, als dass sie die Grundlage für eine kollektive Identität bilden könnten.

Dies spiegelt sich auch im Sujet des Romans wider. Kasih entscheidet, die Geschichte der drei Freundinnen zu erzählen und hebt diese als identitätsstiftend hervor. Familiäre Erfahrungen und Ereignisse, die die konkrete Ausübung kultureller Praktiken betreffen, treten in den Hintergrund und werden kaum erwähnt, wodurch ihre fehlende Relevanz für die Identitätskonstitution markiert wird.

Anstelle einer gemeinsamen Kultur oder Ethnie springen Diskriminierungserfahrungen ein, die die Frauen teilen:

Denn das, was Saya damals passiert war, kannte ich. Dass man uns sah und uns Personen zuordnete, oder es eben unterließ, weil es keinen Sinn zu ergeben schien, dass wir in den Kreisen verkehrten, in denen wir verkehrten. Dass man uns auf Englisch ansprach; dass man uns über Dinge aufklären wollte, die wir viel besser wussten als andere; dass man uns aus heiterem Himmel fragte, woher wir eigentlich kommen; oder uns, wenn wir schon längst ordentlich einen sitzen hatten, ob wir eigentlich Alkohol trinken.

(K, 170f.)

In den geschilderten Situationen wird den Frauen signalisiert, dass sie nicht der Ingroup ‚Deutsche Dominanzgesellschaft‘ angehören, sondern der Outgroup, den ‚Anderen‘. Die migrantisierte kollektive Identität erhält ihren Umriss nicht durch ethnisch-kulturelle Institutionen, sondern durch die Reaktionen von Außenstehenden darauf. Es kommt zum Prozess des ‚Otherings‘. Der Begriff des ‚Other‘ wurde insbesondere von Gayatri Chakravorty Spivak im postkolonialen Diskurs geprägt.[10] Spivak beschreibt damit, ähnlich wie das Konzept der In- und Outgroup, eine Dichotomie zwischen der dominanten Gesellschaft und einem davon ausgeschlossenen ‚anderen‘ Teil, das ‚Other‘. Ein solcher Ausschluss kann auf diversen identitären Markern wie Ethnizität, Geschlecht oder Klasse basieren. Das Other ist und kann nicht Teil der privilegierten Ingroup sein und wird von der Teilhabe an Macht ausgeschlossen und unsichtbar gemacht.

Die kollektive Identität der drei Kameradinnen definiert sich durch die Nicht-Zugehörigkeit zu der der Dominanzgesellschaft. Die für die Identitätsbildung als Kollektiv der drei Kameradinnen relevanten Eigenschaften sind nicht intrinsisch, sie werden extern gebildet und auf sie angewandt. Eine Freundschaft zu Iris wird von Kasih zum Beispiel ausgeschlossen, da sie annimmt, dass für Kasih Freundschaften auf gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen beruhen müssen (Vgl. K, 266). Auch an dieser Stelle des Romans wird verdeutlicht, wie sehr Kasih die Zuschreibungen der deutschen Dominanzgesellschaft für sich angenommen hat. Obwohl sie die Fremdzuschreibungen, die zu ihrer Ausgrenzung führen, ablehnt, führt sie das dichotome Denkmuster des ‚Anderen‘ weiter. So wie sie nicht Teil des weißen Hegemonen sein kann, kann auch Iris nicht zu einem wirklichen Teil ihrer Welt werden.

Diese erzwungene Konstruktion von Identitäten bildet das Gegenstück zur Selbst-Identifizierung. Emcke beschreibt Diskriminierungserfahrungen als ein identitätskonstituierendes Moment, indem diese das Selbstverständnis von Kollektiven in einschränkenden Strukturen bestimmen.[11] Das Modell einer erzwungenen individuellen Identität manifestiert sich auch in der Jobcenter-Mitarbeiterin Frau Duncker, die von Kasih bloß als solche wahrgenommen wird. Ihre Arbeit, vermutet Kasih, hat sie sich nicht aus persönlichem Interesse ausgesucht, sondern wurde ihr durch ihren Lebensumstand als Arbeitslose zugewiesen (Vgl. K, 67). Sie leidet nicht unter einem Machtmissverhältnis in rassistischen Strukturen, sondern unter denen des Kapitalismus, unter welchen sie sich ihre Arbeit nicht selbst aussuchen kann.

Drei Kameradinnen konstruiert einen Identitätsbegriff, der für diskriminierte Gruppen zunächst nicht auf individueller Ebene zugänglich ist, sondern der durch Machtverhältnisse erzwungen wird. Wo Frau Duncker jedoch als Individuum auftritt, das für sich selbst steht, zeigt die Identität der Frauengruppe auf, wie eine kollektive Identität entstehen kann. Um aus drei getrennten Identitäten eine kollektive Identität zu formen, müssen sich Menschen entweder unter einem selbstgewählten Identitätsmarker zusammenfinden oder eine Gemeinsamkeit finden, die sie kollektiv von der Dominanzgesellschaft ausschließt. Machtverhältnisse spiegeln sich nicht nur in der Art und Weise wider, wie die kollektive Identität ‚Drei Kameradinnen‘ konstruiert wird. Auch der Inhalt der Zuschreibungen, unter denen die Identität erzwungen wird, reflektiert das strukturelle Missverhältnis zwischen der Ingroup der drei Frauen und jener der deutschen Dominanzgesellschaft, die aus der Perspektive der Frauen zur Outgroup wird. Wie die kollektive Identität der drei Kameradinnen die individuellen Identitäten der Frauen widerspiegelt, behandelt der folgende Abschnitt.

Homogenisierung verschiedener individueller Identitäten

Wie oben bereits festgestellt, beruhen die Zuschreibungen auf keiner faktischen individuellen Identität. Die Herkunft der Frauen ist nicht homogen, sie kann nicht auf bestimmte gemeinsame Nationalstaaten oder Ethnien rückgeführt werden.

Vielmehr wird auf die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ zurückgegriffen, um die kollektive Identität der drei Kameradinnen zu konstruieren. Die Kategorie ignoriert Eigenschaften wie die ethnische Herkunft und Faktoren wie Teilhabechancen, die sich aus unterschiedlichen Bildungsabschlüssen ergeben. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Migrationsgeschichte. Sie konstruiert daher in erster Linie keine Zugehörigkeit, sondern markiert bloße Fremdzuschreibungen, die auf der Normalitätsannahme einer Mehrheitsperspektive beruhen.[12] Die Normalitätsannahme ist die einer weißen Gesellschaft, in der migrantisierte Menschen als das Other wahrgenommen werden. Das Label ‚Migrationshintergrund‘, welches hier ähnlich wie bei Emcke in Bezug auf „Hispanics“ erfasst werden kann, ist stark homogenisierend:

Unter einem Begriff werden die sozialen und politischen Erfahrungen von 23 Mio. Menschen unterschiedlicher Konfession, Klasse, sexueller Orientierung etc. zusammengefasst. […] Gekoppelt an die unterschiedlichen historischen Erfahrungen sind auch vollständig heterogene Motivationen zur Emigration.[13]

Die Migrationsmotivationen der drei Familien der Protagonistinnen können in Drei Kameradinnen als eine differenzstiftende Kategorie herangezogen werden. Kasihs Familie emigrierte nach Deutschland, um sich finanzielle Sicherheit zu erschließen, wohingegen Hanis und Sayas Familien aufgrund von Krieg und Verfolgung nach Deutschland flohen (Vgl. K, 73).

Ein signifikanter Unterschied, der zwischen den Erfahrungen der drei Kameradinnen als Frauen mit Migrationshintergrund dargestellt wird, ist auch der Umgang mit ihrem Status als solche. Dies wird insbesondere in der Sequenz veranschaulicht, in der sich Kasih vorstellt, mit ihren Freundinnen an einer Talkshow teilzunehmen. In der Gesprächsdynamik werden die verschiedenen Positionen entwickelt, die Saya, Kasih und Hani im Buch einnehmen.

Saya ist sehr emphatisch in der Weise, wie sie sich gegen Zuschreibungen wehrt. Sie spricht sich selbst als Opfer von Diskriminierungen und Othering aus. Sie klagt an, sie träfe nur dann auf gesellschaftliches Verständnis, wenn sie sich so verhalte, wie es von ihr erwartet werde (Vgl. K, 111). In ihren Redebeiträgen in der Talkshow fordert Saya von ihrer Umgebung vehement, die Umstände, unter denen sie leidet, nachhaltig zu verbessern. Dies spiegelt sich in ihrem Beruf wider, bei dem sie Antidiskriminierungsworkshops für Jugendlichen gibt (Vgl. K, 113). Saya trägt ihre Überzeugungen mit in ihr Arbeitsleben hinein, indem sie schon bei jungen Menschen damit beginnt, ein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten zu schaffen.

Im Gegensatz zu Saya ist Kasih weniger verbal, was die Ungerechtigkeiten, die sie treffen, angeht. Sie stellt die Art, wie Saya ihre Unzufriedenheit äußert, infrage. Ihrer Ansicht nach führten die Anschuldigungen, die Saya äußert, zu keiner Veränderung, da sie von einem statischen Weltbild ausgeht, aus dem sich Menschen nicht herausbewegen wollen. Ihre Weltsicht ist eine weitaus pessimistischere, sie geht davon aus, dass „[N]iemand […] Applaus [bekommt], weil er die Wahrheit sagt“ (K, 113). Während Saya fest daran glaubt, durch die Äußerung ihrer Unzufriedenheit Veränderungen zu erreichen, erachtet Hani ihre Bemühungen als fruchtlos. Indem sie dazu steht, sich nicht aktiv gegen Ungerechtigkeiten zu wehren und ihre Bücher bei Amazon kauft, erntet sie im Gegensatz zu Kasih und Saya die Wertschätzung des Publikums (Vgl. K, 116), das pars-pro-toto für die deutsche Dominanzgesellschaft steht. Durch ihre Sichtweise, die die bestehenden Machtverhältnisse nicht infrage stellt, bringt die Gesellschaft ihr sehr viel mehr Wohlgefallen entgegen als Kasih und Saya, was ihr auch einen anderen Status in selbiger ermöglicht.

Die Gemeinsamkeiten, die aus der Migrationserfahrung der Protagonistinnen konstruiert werden, haben ihre Ursprünge nicht in individuellen Identitäten oder intrinsischen Faktoren. Die Migrationserfahrung ist für jede der drei Frauen eine eigene und doch ist sie allen dreien gemein. Eine Gemeinsamkeit sind die zunächst ähnlichen Bedingungen des Aufwachsens, insbesondere die der Wohnungen der Eltern. Alle drei wohnen in den gleichen Wohnungstypen mit dem gleichen Grundriss (Vgl. K, 19). Die Wohnungswahl der Eltern hat sich jedoch nicht aus ähnlichen Interessen, gemeinsamem ästhetischen Empfinden oder Vergleichbarem ergeben. Alle drei Familien leben in derselben Gegend und den gleichen Häusern, da sie alle unter den gleichen finanziellen Gegebenheiten in Deutschland ankommen, in die sie systemisch gedrängt werden. Die Gemeinsamkeiten, in die sie gezwungen werden, sind nicht bloß sozial und kulturell, sondern auch strukturell. Bereiche, in denen Gemeinsamkeiten vorliegen, sind nicht selbsterwählt, sie beruhen auf fremden Zuschreibungen als Other. Sofort nachdem von überschneidenden Erfahrungen erzählt wird, werden die Unterschiede der Lebensumstände betont. Der von außen und damit durch Zwang übergestülpten Gemeinsamkeit wird sofort eine Differenz gegenübergestellt und so die vermeintlichen Gemeinsamkeiten infrage gestellt.

Die kollektive Identität der drei Kameradinnen basiert auf Zuschreibungen von außen als Other. Was sie von der Ingroup der deutschen Dominanzgesellschaft aussondert, macht sie zu Mitgliedern der Outgroup. Die ausschließenden Kategorien entstehen dabei auch aufgrund systemischer Zwänge, die sie nicht Teil der deutschen ‚Normalität‘ sein lassen.

Die Zugehörigkeit zu der Kategorie ,Other’basiert zunächst auf keiner anderen individuellen Erfahrung oder Eigenschaft als der der Migration. Die kollektive Identität der Frauen, wie sie von der Dominanzgesellschaft gesehen wird, beruht auf einer künstlich herbeigeführten Homogenität. Kasih, als Erzählerin und damit Herrin über das Narrativ, konstruiert auf dieser Ebene die Identität der Charaktere durch Erzählungen über individuelle oder geteilte Erlebnisse. Die Identität des Kollektivs ergibt sich aus den Überschneidungen der geschilderten Erfahrungen.

Der selbstbestimmte Aufbau einer kollektiven Identität

Die auf bloßen Fremdzuschreibungen basierende Ingroup ist aufgrund der künstlich geschaffenen Homogenität nicht wirklich stabil. Von dieser These ausgehend soll ausgeführt werden, wie die Ingroup-Identität von Kasih durch die Abgrenzung gefestigt wird. Hierfür wird zunächst darauf eingegangen, wie die Outgroup in Drei Kameradinnen stellvertretend durch fiktionale Leser:innen konstruiert wird und sich zur Ingroup verhält. Des Weiteren soll es darum gehen, wie sich die kollektive Identität durch Selbstermächtigung und agency aus den Machtverhältnissen der deutschen Dominanzgesellschaft gelöst hat und mit neuer Bedeutung angereichert wird. Diese These stützt sich auf Sartres Modell der Serie und der Gruppe.

Stabilisierung der Identität durch Abgrenzung von der fiktionalen Leser:innen-Outgroup

Drei Kameradinnen behandelt insbesondere den Teil der kollektiven Identität, der auf der Herkunft der Protagonistinnen aufbaut, jedoch spielt auch die geschlechtliche Identität eine gewisse Rolle. Als Frauen ist auch der Teil der Geschlechtsidentität durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen fremdbestimmt. Bei der Betrachtung der Dimension des Geschlechts, sowie der Betrachtung des Romans unter einem intertextuellen Gesichtspunkt, fällt auf, dass dieser Aspekt des Geschlechts die Identitätsstiftung durch Abgrenzung noch weiter ausdehnt: Der Titel Drei Kameradinnen nimmt einen direkten Bezug zum Roman Drei Kameraden von Erich Maria Remarque, der von drei ehemaligen Kriegskameraden handelt, die nach ihren verbindenden Erfahrungen im Ersten Weltkrieg durch Gründung einer Autowerkstatt in Berlin zu überleben versuchen.[14] Damit wird einer Geschichte über Freundschaft, die in Kunst und Kultur eher männlich konnotiert ist, die einer Freundschaft unter Frauen gegenübergestellt. Durch diesen Bezug schafft Bazyar bereits auf der Metaebene des Werkes Abgrenzung durch die Unterscheidung vom Literaturkanon der deutschen Dominanzkultur. Was die drei Kameradinnen und ihre männlichen Pendants eint, sind ihre untereinander geteilten Erfahrungen unter großer Bedrängnis – bei Remarque der Krieg, bei Bazyar Rassismus – und der Versuch, unter den noch immer andauernden Umständen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Neben der kollektiven Identität der Ingroup der drei Frauen konstruiert Kasih als Erzählerin eine Outgroup-Identität. Während die Ingroup die Protagonistinnen der histoire darstellt, sind die Leser:innen des Romans die Outgroup. Diese Distinktion kann im Text ausgemacht werden, indem Kasih die Leser:innen konkret anspricht. Von Anfang an offenbart sie sich als overte (von engl. overt, ‚offenkundig‘, ‚erkennbar‘) Erzählerin, die einen Bericht über die Ereignisse der vergangenen Tage und der gemeinsamen Vorgeschichte aufschreibt. In Form einer Metanarration definiert sie ihren Text als solchen und gibt an „kein Geheimnis daraus machen [zu wollen], was dieser Text ist und was er nicht ist“ (K, 17).

Zugleich wendet sie sich stellenweise an ihre Leser:innen. Bereits mit dem Personalpronomen „Ihr“ und „Wir“ konstruiert sie im discours die sprachliche Distinktion zwischen ihrer Ingroup und der Outgroup der Leser:innen (Vgl. K, 26). Letztere können dabei pars-pro-toto als Ausschnitt der deutschen Dominanzgesellschaft aufgefasst werden. In ihren Ansprachen an die Leser:innen kehrt Kasih die bestehenden Machtverhältnisse um und stellt pejorative Annahmen über sie an:

Schon klar, ihr seid nicht so, ihr stellt euch das gar nicht vor, denn ihr habt ja eine Weile geholfen, Kleider zu sortieren und Kuscheltiere zu verteilen, solche Vorurteile habt ihr nicht mehr. Ihr wart nämlich bei euren Hilfsaktionen zu allen nett, auch zu den Leuten, vor denen ihr euch ein bisschen gefürchtet habt […], dann wart ihr zwar immer noch liebevoll, aber eben auch Rassisten, liebevolle Rassisten.

(K, 40)

Kasih geht davon aus, dass die Leser:innen ihres Berichts Mitglieder der deutschen Dominanzgesellschaft sind und deshalb rassistisch sind. Sie produziert ein konkretes Bild von Menschen, die sich zwar sozial engagieren aber dennoch selbst internalisierte, rassistische Vorurteile haben. Kasih stellt somit ein ironisch-tautologisches Verhältnis zwischen sich und den Leser:innen her, indem sie diesen ihre vermeintlichen Verallgemeinerungen vorwirft, sich dessen aber selbst schuldig macht. Für die fiktiven Leser:innen sind solche Erfahrungen erst einmal abwegig. Als Mitglieder der deutschen Dominanzgesellschaft müssen sie sich nicht mit der Fremdbestimmung ihrer Identität als z.B. Weiß beschäftigen, denn „[w]em alltäglich Diskriminierung und Missachtung widerfährt, […] der wird ab irgendeinem Zeitpunkt diese alltäglichen Erfahrungen […] zu einem Teil der Selbstinterpretation machen (müssen), weil sie faktisch einen erheblichen Teil seiner Identität ausmachen“.[15]

Dagegen können Personen, die nicht von Othering betroffen sind, die Kategorien, aufgrund derer sie nicht diskriminiert werden, nicht zum Teil ihrer Identität machen. Durch die Zuschreibungen über ihre Adressat:innen nimmt Kasih eine aktive Machtposition ein, in welcher sie die Leser:innen spüren lässt, wie es ist, von verallgemeinernden Beschreibungen betroffen zu sein. Sie hinterfragt das Selbstbild der Leser:innen, wodurch sie die Definitionsmacht an sich reißt, die ansonsten der Dominanzgesellschaft obliegt. In diesem Aspekt des discours findet sich ein Akt der Selbstermächtigung wieder, in dem Kasih sich den Machtverhältnissen widersetzt und sie gegen ihr Gegenüber ausspielt, das sich nicht dagegen wehren kann.

Einen weiteren Zweck, den Kasih aus diesen pejorativen Beschreibungen zieht, könnte die Stabilität der Ingroup-Identität sein, die durch Abgrenzung nach innen hin gestärkt werden soll. Von außen betrachtet scheint die kollektive Identität stabil. Mit einem Unterbau aus diskriminierenden Strukturen, die die drei Kameradinnen in ähnliche äußere Umstände zwingen, und sozialen Diskriminierungen werden sie extern als fremd wahrgenommen und aus der Ingroup ‚Deutsche Gesellschaft‘ ausgesondert. Aus dem Inneren der Gruppe betrachtet ist diese Kollektiv-Identität jedoch nicht sonderlich stabil ausgebildet. Die einzigen verbindenden Faktoren sind die Ausgrenzung aus der Dominanzgesellschaft durch Othering und die damit verbundenen Folgen. Individuelle Eigenschaften, Verhältnis und Umgang mit der eigenen Migrationsgeschichte sind nur einige Beispiele, in denen sich die Frauen untereinander stark unterscheiden. Auf die zugeschriebenen Eigenschaften reagieren die Frauen mit Abstoßung. Kasih beispielsweise insistiert darauf, dass sie nicht das Mädchen aus dem Ghetto sei (K, 7). Sie weist von sich, Teil des Kollektivs migrantisierter Menschen zu sein, die in ‚Sozialbrennpunkten‘ leben, um der Verurteilung durch diese Bezeichnung zu entgehen. Die individuellen Identitäten Kasihs, Hanis und Sayas werden so durch Diskriminierungen und Erwartungen an sie angegriffen, sie werden in ein homogenisierendes Kollektiv gezwängt, das dem Pluralismus ihrer Ansichten, Erfahrungen und Identitäten nicht gerecht werden kann und keinen Bezug zu ihnen als Subjekten schafft.

Eine Möglichkeit zur Identitätsstabilisierung bietet nach dem Sozialpsychologe Andreas Zick die Abgrenzung der In- von der Outgroup.[16] Um die Stabilität ihrer Ingroup zu sichern, wirft Kasih den Leser:innen ihre Annahmen über sie vor, ganz egal, ob sie der Wahrheit entsprechen. Wenn sie die Outgroup als „Rassisten“ bezeichnet und sich aus diesem Kollektiv selbst herausnimmt, wird sie automatisch Mitglied der neuen Outgroup ‚Nicht-Rassisten‘. Auf diese Weise schafft Kasih eine neue Zugehörigkeit, die ihre Gruppe für sich annehmen kann und sichert ihre Stabilität. Die Zugehörigkeit, die die Eigenschaft ‚nicht rassistisch‘ mit sich bringt, ist im Gegensatz zu den Fremdzuschreibungen eine positive, die einen Bezug zu ihnen als Subjekte herstellt, da sie mehr auf einem Verhalten als auf einer ‚essentialistischen‘ Kategorie beruht.

Kollektive Identität wird im Roman demnach auch durch eine selbstbestimmte Abgrenzung von einer selbst geschaffenen Outgroup gebildet.

Der Übergang von der ‚Serie‘ in die ‚Gruppe‘

Eine kollektive Identität, die nur auf Fremdzuschreibungen aufbaut, schränkt die agency der Betroffenen ein. Der Begriff ‚agency‘ beschreibt die Fähigkeit, selbstbestimmt in sozialen Strukturen zu agieren und gegen diese anzukämpfen.[17] In diesem Zusammenhang ist besonders die Selbst- im Gegensatz zur Fremdbestimmung hervorzuheben.

Judith Butler schreibt hierzu: „To prescribe an exclusive identification for a multiply constituted subject, as every subject is, is to enforce a reduction and a paralysis“.[18] Das Kollektiv wird nicht nur seiner inneren Pluralität beraubt, es wird zum Objekt der Dominanzgesellschaft, die die Definitionsmacht besitzt. Um sich aus ihrer fremdbestimmten Ohnmacht, wie Butler das Ergebnis der Fremdzuschreibung nennt,[19] zu lösen, nimmt Kasih es an sich, die kollektive Identität, in die die drei Kameradinnen gezwungen wurden, selbst zu formen. In einer ihrer Ansprachen an die Adressat:innen ihres Berichts schreibt sie:

Ihr wartet auf den Moment, in dem ich erkläre, wer von uns aus welchem Land kommt. Das nämlich müsst ihr wissen, bevor ihr euch in uns eindenken könnt. Das ist für euch eine ungefähr so wichtige Information wie die, am Rand welcher deutschen Kleinstadt wir aufgewachsen und wie alt wir sind und wer von uns die heißeste ist. Ich sage euch dazu nichts.

(K, 27)

Die Informationen über ihre Freundinnen und sich, die Kasih anspricht – ethnische Herkunft, Ort des Aufwachsens, Alter, Aussehen – entlarvt Kasih als signifikant für die Fremdzuschreibungen der Adressierten. Nur wer genaue Fakten über sie kennt, meint sich das Bild eines Subjektes machen zu können, das es ermöglicht, sich in selbiges hineinzuversetzen. Das, was Kasih mit den Leser:innen teilt — die Migrationsgeschichte, die auferlegten Zwänge und Diskriminierungen — reichen nicht aus, um sie als Subjekt mit agency zu erkennen.

Durch die verweigerte Nennung dieser Informationen verneint Kasih ihre Relevanz für die Konstitution ihrer Identität durch sie selbst. Das, was in dem anonymen, fremdbestimmten Other hervorgehoben werden soll, soll für die Leser:innen nicht mehr von Relevanz sein. Sie verweigert den Leser:innen an dieser Stelle den Zugang zu ihrer Identität über ihre Herkunft, ihr Aussehen und Alter. Das, was in ihren Augen wichtig ist, um sie als Subjekt zu erkennen, erzählt sie den Leser:innen bereits. Auf diese Weise nimmt sie sich dem fremdbestimmten Label an, das migrantisierte Personen ungeachtet ihres persönlichen Hintergrundes in eine künstlich homogenisierte Gruppe steckt.

Ihre identitätskonstituierenden Erfahrungen basieren auf den Behandlungen, die mit der Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ einhergehen. Deshalb muss sich die Gruppe dieser Zuschreibungen annehmen, um auch die Folgen davon, also die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe, für sich beanspruchen zu können. Aus diesem Grund beansprucht Kasih ihre Herkunft für sich wieder als etwas Positives, indem sie von sich selbst sagt, sie sei das Mädchen aus dem Ghetto, ungeachtet ihrer vorherigen Aussage, dies eben nicht zu sein (Vgl. K, 7).

Als Fremdbeschreibung erhält die Bezeichnung ihres Herkunftsortes als „Ghetto“ einen pejorativen Charakter, den sie von sich weist. Sich selbst als Teil der Menschen zu bezeichnen, die aus einer Gegend stammen, die so bezeichnet wird, gibt ihr die agency, ihre Zugehörigkeit selbst zu wählen. Julia Kristeva beschreibt die Erzählung des Others aus der Perspektive des Subjekts damit,

[d]ie Fremdheit des Fremden nicht zu fixieren, zu verdinglichen suchen. Sie gerade nur berühren, sie streifen, ohne ihr eine endgültige Struktur zu geben […] Diese Fremdheit auch abschwächen, indem man unaufhörlich darauf zurückkommt — aber immer rascher. Sich von dem Hass und der Bürde befreien, sie nicht durch Angleichung oder Vergessen fliehen, sondern durch ein harmonisches Wiederaufgreifen der Differenzen, die sie voraussetzt und propagiert.[20]

Kristeva schlägt in ihrem Text vor, das, was dem Menschen fremd ist, nicht in feste und bekannte Strukturen zu zwängen. Die verdinglichende Fixierung beschreibt das Aushorchen jeglicher Differenz, um es in seiner Gänze zu erfassen und zu verstehen. Kristeva schlägt vor, Differenzen bestehen zu lassen und sie nur oberflächlich zu betrachten und immer wieder dahin zurückzukehren, bis sie nicht mehr allzu fremd sind. Die Aussparung genauer Einzelheiten über die Herkunft der Frauen spart eine verdinglichende Fixierung aus. Kasih hält nur das fest, was für sie und ihre Freundinnen identitätsstiftend und deshalb wichtig ist. Ihre Erfahrungen werden nicht davon bestimmt, aus welchem Land ihre Eltern stammen, sondern wie die deutsche Dominanzgesellschaft damit umgeht. In ihren unzähligen Ansprachen an die Leser:innen hebt Kasih immer wieder hervor, was sie von den Leser:innen unterscheidet. Die geschilderte Identität bleibt dabei ambivalent und ist in sich nicht widerspruchsfrei.

Bei Kristeva bedeutet die Annahme einer ambivalenten und nicht eindeutigen Identität die Selbstoffenbarung als in sich selbst ambivalentes und komplexes Subjekt, das einerseits aus dem Ghetto und wiederum nicht aus dem Ghetto stammen kann. Dieses reclaiming der migrantischen Identität nennt Sartre am Beispiel jüdischer Menschen den Übergang von der ‚Serie‘ zur ‚Gruppe‘:

Sartre fordert vom Juden, sich der eigenen Situation zu stellen und darin den Versuch der ‚Tarnung‘ aufzugeben, aufzuhören auch nach den Vorstellungen der Antisemiten anzupassen und assimilieren zu wollen, sondern zu ihrer ‚selbstgewählten‘ Differenz zu stehen: […] Der ist ‚aufrecht‘, der Austritt aus der Erfahrung der Ohnmacht, der, der sich selbst zum Juden macht, Der, der sich selbst als different beschreibt, entgeht der Karikatur der Fremdzuschreibung und der Ausgrenzung.[21]

Die Fremdzuschreibungen durch die Outgroup anzunehmen bedeutet bei Sartre, sich der Fremdbestimmung und Objektifizierung zu entziehen und eine eigene Ingroup-Identität zu stärken. Alter, Herkunft und Aussehen nicht mit den Leser:innen zu teilen, bedeutet für Kasih, den Eindruck, den die Mitglieder der Outgroup sich bilden und auf dem der Umgang mit den Betroffenen beruht, selbst zu bestimmen. Den Überlegungen Sartres zur Gruppe und Serie folgend, ist durch Selbstermächtigung aus der Serie der drei Kameradinnen eine Gruppe geworden.

Dieser Prozess wird durch Analepsen veranschaulicht, dabei ist ein besonders starker Wandel bei Saya zu beobachten, die in ihrer Kindheit noch um Unauffälligkeit bemüht ist: „Die Blicke aber waren nicht nur da, sie kontrollierten sie, sodass sich Saya kerzengerade hinsetzte und kurz in der Fensterscheibe überprüfte, wie sie aussah, ob sie am Morgen alle Gesichtshaare entfernt und einen gerade Scheitel gezogen hatte“ (K, 57). Um der Aufmerksamkeit der anderen zu entgehen, versucht sich Saya so gut es geht in ihr Umfeld einzuordnen. Dazu gehört die Anpassung an die dominante Welt um sie herum. ‚Wilde‘ Haare entsprächen den Erwartungen dieser Gesellschaft an das Fremde, während sichtbare Gesichtsbehaarung die Erwartungen einer patriarchalen Gesellschaft an sie als Mädchen verletzen. Sich die Haare zu frisieren und die Gesichtsbehaarung zu entfernen, die sie als Teil der Outgroup entlarven würde, gehören für sie dazu, ‚ordentlich‘ auszusehen. Sie hat ihren Blick der ‚Normalität‘ internalisiert und assimiliert sich innerlich und äußerlich an die deutsche Dominanzgesellschaft, um nicht den Vorurteilen, der „Karikatur“, wie Sartre sie beschreibt, zu entsprechen.

Saya ist an diesem Punkt in ihrem Leben noch ein Teil einer Serie, die nach dem von Iris Young weiterentwickeltem Modell Sartres ein Kollektiv ist, das die Strukturen oder Praktiken, die ihm von seiner Umwelt auferlegt werden, unbewusst reproduziert.[22] Saya ist betroffen von Diskriminierungen, die ihr eine gewisse Haarpflege vorschreiben, hinterfragt die ihr vorgeschriebene Verhaltensweisen jedoch nicht und verfestigt sie, indem sie sich danach richtet. Die Serie, der sie angehört, ist noch nicht die der drei Kameradinnen. Sie ist ein Other, das sich passiv an die Erwartungen, die an sie gestellt werden, anpasst.

Die Wahl der Analepse in die Kindheit Sayas beschreibt einen drastischen Unterschied zu Sayas Verhalten in der Gegenwartserzählung Kasihs. Aus dem Mädchen, das versucht, sich ihrer Umgebung bestmöglich anzugleichen, um nicht als fremd wahrgenommen zu werden, hat sich eine Frau entwickelt, die ihre Ansichten lautstark teilt und nicht um Diskretion bemüht ist.

Dies spiegelt sich in ihrem Talkshowauftritt wider. Sowohl Sayas als auch Kasihs Verhalten implizieren eine von Sartre beschriebene ‚aufrechte‘ Haltung, in der sie sich aktiv von dem Kollektiv, das sie ursprünglich ausgeschlossen hat, abgrenzen. Nach der Modifikation von Young ist die Gruppe ein „self-consciously, mutually acknowledging collective with a self-conscious purpose“.[23] Dieser gemeinsame Zweck liegt bei der Gruppe der drei Frauen in der Selbsterhaltung, was sie nicht zu einem bloßen Ausschnitt der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland macht.

Der Selbsterhalt erhält im Kontext von Remarques Drei Kameraden eine besondere Dringlichkeit. Die Freundschaft zwischen den drei Männern ergibt sich bei Remarque zwar nicht aus Fremdzuschreibungen, sondern aus einer analogen Situation der Bedrängnis, die in einem engen Zusammenhalt mündet. Robby, Gottfried und Lenz sind Kriegskameraden, deren Zugehörigkeit auf den gemeinsamen Erfahrungen im ersten Weltkrieg und im inflationsgebeutelten Berlin der 1920er Jahre beruht. Gemeinsame Traumata und eine Situation des politischen Wandels bieten eine parallele Grundlage sowohl für die drei Männer als auch die drei Frauen. Für Kasih, Saya und Hani ist der Selbsterhaltungsdrang im Deutschland des 21. Jahrhunderts, in dem konkrete Kriegssituationen und Inflation fern sind, ähnlich verbindend wie für drei junge Männer im Kriegsdienst.

Sie bewegen sich aus dem passiven Moment des Beschriebenwerdens der Serie hinaus und bilden durch Selbstermächtigung eine Gruppe, in der sie die agency darüber haben, in welchen Kategorien sie sich bewegen wollen. Den Weg der Selbstbestimmung und -beschreibung gehen die Freundinnen gemeinsam, wobei die Ziele sich untereinander sehr wohl voneinander unterscheiden. Für Kasih bedeutet Selbsterhaltung unter anderem das Finden einer Arbeitsstelle und das Bewältigen der Termine beim Jobcenter. Saya versucht Kasih dabei zu unterstützen, indem sie sie zu einem ihrer Termine begleitet und sie durch ihre Kommentare beim Gespräch in eine Richtung lenkt, die sie selbst am sinnvollsten für Kasihs Selbsterhaltung hält (Vgl. K, 77 ff.).

Hani spielt eine Sonderrolle in diesem Narrativ. Im Hauptteil der Handlung assimiliert sie sich von den drei Freundinnen am stärksten an die Dominanzgesellschaft. Ihr Weg der Selbsterhaltung entpuppt sich am Ende der Geschichte als ein anderer:

Als der blutrünstige, schonungslose Krieg in Hanis einstiger Heimat für beendet erklärt worden war, schickte man Leute wie sie und ihre Familie zurück […] Hani, ihre Eltern und ihr Bruder […] sind in die USA ausgewandert, wo sie mehr Perspektiven und Sicherheit hatten als in ihrem alten Land, in dem die Verräter von damals immer noch Verräter waren […].

(K, 348 f.)

Für Hani, die keine Möglichkeit hatte, in Deutschland zu bleiben, spielt sich Selbsterhalt in einer anderen Dimension ab als bei Kasih und Saya. Selbsterhalt bedeutet für sie nicht das Ausleben ihrer Identität, sondern vielmehr bloßes Überleben. Während bei Kasih der Selbsterhalt auf der sprachlichen Zeichenebene funktioniert, indem sie sich durch Worte von ihrem Gegenüber abgrenzt und ihre agency markiert, bedeutet Selbsterhalt für Hanis Familie der materielle Akt des Auswanderns in die USA. So schreibt Young: „Their actions may be different, and they have nothing necessarily in common in their histories, experiences, or identity. They are united only by their desire to ride that route“.[24] Die Differenzen in den Biografien, individuellen Identitäten und Ansichten verlieren im Angesicht des gleichen Wegs ihre Bedeutung. Die Gruppe erlangt ihre kollektive Identität also durch den Zweck des Selbsterhalts, der für die einzelnen Mitglieder unterschiedlich aussehen kann und über Landesgrenzen hinweg gültig bleibt.

Internalisierung

 Durch den gesamten Roman Bazyars zieht sich das Thema der Internalisierung. Das Konzept des Internalisierens lässt sich sowohl auf die Integration diskriminierender Denkmuster in eigene Denkweisen als auch die Internalisierung von Fremdzuschreibungen in das Selbstbild subsumieren. Um zu untersuchen, wie dieser Aspekt im Roman bewertet wird, lässt sich auf theoretischer Basis das Prinzip der Selbststereotypisierung heranziehen. Selbststereotypisierung ist ein Konzept der sozialen Psychologie, das beschreibt, wie Menschen wahrgenommene Fremdbeschreibungen in die kollektive Identität ihrer Gruppe integrieren.[25]

Internalisierung bedeutet bei Bazyar, sich nicht nur der Fremdzuschreibungen anzunehmen, sondern sie auch zum Teil der Erwartungen an sich selbst und die anderen Mitglieder der Outgroup der ‚Anderen‘ zu machen. Der Wert, der der Migrationsgeschichte von Kasihs Familie zugeschrieben wird, unterschiedet sich stark von der Wertigkeit der Fluchtgeschichte Sayas und Hanis: „Sie stockte und schaute mich kurz an, denn meine Eltern passten nicht in ihre Story, in der es statt um Freiheit und das eigene Überleben eher um Arbeit und Knete ging“ (K, 73). Die auch sprachliche Gegenüberstellung von elementaren Werten wie „Freiheit und Überleben“ mit den banalen Bezeichnungen „Arbeit und Knete“ zeigt auf, wie bestimmte Migrationsgründe gesellschaftlich negativer behaftet sind als andere.

Diese vermeintlich geringere Wertigkeit spiegelt sich auch darin wider, wie die Vorgeschichten der Familien in der Gruppe behandelt werden. Diese Bewertung zeigt die Internalisierung diskriminierender Denkmuster auf. Während Kasihs Mutter kaum eine Vorgeschichte erhält, erzählt Kasih von dem Gefängnisaufenthalt von Sayas Mutter (Vgl. K, 18 f.). Im Gegensatz zu ihrer eigenen Migrationsgeschichte, die mit Scham behaftet ist, ist die von Sayas Mutter sowohl für Kasih als auch Saya bewundernswert. Kasih äußert sogar Neid auf den Gefängnisaufenthalt von Sayas Mutter. Dieser Neid bezieht sich wohl weniger auf die Erfahrung an sich, sondern auf das soziale Kapital, das die Erlebnisse ihrer Mutter ihr sichern (Vgl. K, 21). Das Verhältnis zur Migrationsgeschichte der Familie erschließt sich aus einem Stereotyp als ‚gute‘ oder ‚schlechte Ausländer‘, die sich aus der vermeintlichen Legitimität der Fluchtgründe ergeben.

Diese Wertung hat ihren Ursprung nicht in der Ingroup der drei Frauen, sondern vielmehr darin, wie diese die Meinung der Outgroup Dominanzgesellschaft dazu wahrnehmen. Das Verstummen Hanis, als es um Kasihs Migrationsgeschichte und Kasihs Interpretation des Momentes geht (Vgl. K, 18 f.), zeigt, wie sich die Ingroup der Frauen dieser vermeintlichen Minderwertigkeit wohl bewusst ist. Die Internalisierung dieses Stereotyps ist für Kasih und die anderen Gruppenmitglieder mit Scham verbunden. Sowohl in dem Sinne, dass Kasih sich für die ‚minderwertige‘ Migrationsgeschichte ihrer Familie schämt, als auch dass Hani sich der Internalisierung der Denkweise der Dominanzgesellschaft wegen schämt.

Hani und Saya bilden im Text bezüglich ihrer Internalisierung diskriminierender Denkweisen der Dominanzgesellschaft zwei entgegengesetzte Pole. Auf der einen Seite steht Saya, die selbst Erfahrungen mit Internalisierung gemacht hat, wie sie von Kasih in Analepsen beschrieben werden (s.o.), bestehende Strukturen jedoch grundsätzlich hinterfragt.

Demgegenüber steht Hani, die im Gegensatz zu Saya gesellschaftliche Konventionen unbewusst annimmt und zum Teil ihres Bewertungsmaßstabs macht. Schon früh wird diese Dichotomie aufgezeigt, als Saya und Hani über die Sinnhaftigkeit von Hochzeiten diskutieren. Während Saya die Institution Ehe grundlegend hinterfragt, freut sich Hani über die anstehende Hochzeit der gemeinsamen Freundin (Vgl. K, 23). Im Handlungsverlauf zeigt sich, wie sich die unterschiedlichen Umgangsweisen mit Strukturen und Erwartungen sich unterschiedlich auf das Leben der beiden Charaktere auswirken. Während Saya die Institution Ehe so sehr ablehnt, dass Kasih vorhersagt, dass ihre Freundin die gesamte Zeit bis zur Hochzeit damit verbringen werde, herauszufinden, warum sie heiraten wolle, ist für Hani die Thematik mit der Diskussion beendet (Vgl. K, 23 f.). Sayas Handlungsstrang ist gezeichnet von einer Unrast, die einem harmonischen Leben im Wege steht. Ihren Höhepunkt findet diese in dem beinahe begangenen Anschlag auf einen bekannten Neonazi (Vgl. K, 338 ff.).

Zwischen Hani und Saya befindet sich Kasih, die von Rassismus-Internalisierungen selbst betroffen ist, sich dessen jedoch bewusst ist. Sie zieht einen Bogen zu den Erfahrungen Sayas, die sich für ihre Tanten schämte und erkennt an, dass auch sie diese Scham empfunden hätte: „Ich stellte mir die Tanten im Bus vor und schämte mich dafür, dass ich nicht mit ihnen im Bus hätte sitzen wollen, […] denn es wäre mir peinlich gewesen, die Tanten wären mir peinlich gewesen, denn so, mit diesen Tanten, durfte man auf keinen Fall gesehen werden“ (K, 60). Sowohl die imaginierte Erfahrung als auch die Erkenntnis dessen sind für Kasih mit Scham behaftet.

Jedoch finden sich auch bei Saya im Erwachsenenalter Momente des internalisierten Rassismus und Sexismus. So zum Beispiel, als sie auf den Bräutigam Theo trifft:

Saya kommentierte auch die Tatsache nicht, dass Theo Schwarz war. Natürlich nicht, denn dazu gibt es auch nichts zu sagen, wir sind ja nicht ihr. Saya aber, für die „der Bräutigam“, von dem sie in den letzten Tagen so verächtlich gesprochen hatte, als wäre er das Privileg in Person, hätte sich ertappt fühlen können. Denn in ihrer Vorstellung war ein Bräutigam, der Theo hieß und eine Frau heiratete, ein weißer Mann. […] Sie hätte jetzt eine Runde über ihre eigenen Vorurteile nachdenken können, aber auf die Idee kam sie nicht. Wir sind eben doch manchmal wie ihr.

(K, 316)

Saya wird in diesem Moment von der Beschriebenen zur Beschreibenden. Sie wird selbst zur Urheberin einer Geschichte, die so ähnlich schon immer über sie erzählt wurde. Kasih problematisiert diesen Moment nicht weiter, obwohl Saya ihren internalisierten Rassismus und Sexismus nicht stärker hinterfragt. Dies stellt einen krassen Gegensatz dazu dar, wie Kasih ihr eigenes Verhalten problematisiert. Während die Erfahrung für sie selbst mit Scham verbunden ist, ist es für sie selbstverständlich, dass Saya selbst Fremdzuschreibungen vornimmt. Diese Inkonsequenz, mit der sie internalisierte diskriminierende Denkweisen verurteilt, zeigt die Ambivalenz der Bewertung der Internalisierung im Roman.

Hani auf der anderen Seite geht mit den Stereotypen, mit denen sie konfrontiert ist, ganz anders um. Sie habe „das alles […] hinter sich gelassen […]. Hanis Strategie war schlicht und sie war, obwohl ich ihr das nie so richtig zugestehen wollte, enorm mächtig: Es gab keine Probleme, solange man sie ignorieren konnte“ (K, 61). Hanis Kampf gegen Diskriminierungen und Othering gestaltet sich für sie zunächst einfacher, da sie sie nicht als ihre Probleme anerkennt und sich einfacher in ihre Umgebung einfügen kann.

Aus der Exegese erkennt Kasih als Erzählerin Hanis Taktik als effektiv an. Der Preis, den Hani für diese Taktik zahlt, ist der, dass sie sich in ihrem Umfeld nur als die Person präsentieren kann, die nicht von Othering betroffen ist. Dies wird besonders prominent in ihrem Umgang mit ihren Kolleg:innen: „Diese Gespräche fanden oft auf einem anderen Planeten statt. […] Hani verstand in ihrer ersten Woche, dass sie zuhören, lernen und schweigen würde, wenn es um diese Themen ging“ (K, 204). Um sich in ihr Umfeld einzugliedern, muss Hani Teile ihrer Biografie, ihres Selbst verschweigen. Wenn ihre Kolleg:innen sich über Fertighäuser lustig machen, muss sie verschweigen, selbst in einem aufgewachsen zu sein (Vgl. K, 204 f.). Sie verleugnet ihren Habitus, um sich einerseits nicht als Other zu entlarven und zum Gespött der anderen zu werden und andererseits dadurch,  keinen Konflikt auszulösen, indem sie die pejorative Beschreibung von Fertighäusern als klassistische Diskriminierung hinterfragt.

Hanis Verhalten sichert ihr zwar einen gefestigten Stand in der Dominanzgesellschaft, jedoch kann sie im Gegensatz zu Saya und Kasih ihre Identität und die damit behafteten Ambivalenzen nicht ausleben. Die Erfahrungen mit ihrem Migrationshintergrund sind zwar nach außen weniger konfliktbeladen, jedoch steht sie in einem konstanten Konflikt mit sich selbst.

Sowohl die Internalisierung fremder Bilder des Selbst, die die Identitäten der drei Kameradinnen verschieden beeinflusst, als auch die Erkenntnis dieser sind in Drei Kameradinnen für die Erzählerin mit Scham behaftet. Gleichzeitig ist auf der Handlungsebene die Abstoßung jeglicher Diskurse um Rassismus und dessen Internalisierung in der Handlung und dem Innenleben der Charaktere mit einer Ambivalenz verbunden, die eine eindeutige Bewertung dessen nicht ermöglicht.

In den Charakteren sind verschiedene Möglichkeiten verkörpert, sich mit Fremdzuschreibungen als Gruppe auseinander zu setzen oder dies eben nicht zu tun. Auf der Handlungsebene erleben jedoch alle drei Charaktere einen Konflikt mit der eigenen individuellen Identität, der jedoch zu keinem Abschluss führt. Zwar nimmt die Handlung einen vorläufigen Abschluss in der Hochzeit, jedoch ist an dieser Stelle die Handlung nicht wirklich zu einem befriedigenden Ende gelangt. Hanis Geschichte kann keinen Abschluss finden, da sie in der Erzählung der Gegenwart nie selbst auftrat, sondern nur Kasihs Idee von ihr. Sayas Handlungsstrang endet darin, dass sie wegen des Verschwindens des Neonazis und eines Brandanschlags verdächtigt wird (Vgl. K, 343) und Kasihs Suche nach Arbeit findet auch keinen glücklichen Abschluss, nachdem sie die Hilfe ihres Exfreundes in Anspruch nimmt (Vgl. K, 320).

Schluss

Obwohl zu Beginn der Arbeit angenommen, stellt sich die Gruppe der drei Kameradinnen nicht als eine Stellvertretung für die gesamte deutsche postmigrantische Gesellschaft dar. Als kollektive Identität ist diese zunächst durch externe Faktoren und Fremdzuschreibungen bestimmt. Diese Zuschreibungen stellen eine künstliche Homogenität her, die über die individuellen Identitäten der Mitglieder hinwegsieht. Das Ergebnis ist eine wenig stabile kollektive Identität, die von Kasih durch Abgrenzung von dem fiktiven Leser:innen-Kollektiv gefestigt werden soll. Die Abgrenzung schafft ihrer Gruppe eine neue Identität, indem Kasih die Leser:innen mit Attributen beschreibt, aus denen sie sich selbst herausnimmt.

Die ursprüngliche Annahme, dass sich die kollektive Identität der drei Kameradinnen nur durch Fremdbestimmung konstituiert, ignoriert allerdings die agency der Figuren. Der Wille, die Zuschreibungen für sich anzunehmen, zu internalisieren, um dann selbst darüber zu bestimmen, welche Aspekte Teil der Gruppenidentität werden sollen und welche nicht, ermöglicht den Freundinnen den Übergang von der Serie zur Gruppe. Die passive Beschreibung der Serie träfe auf ein nur von Fremdzuschreibungen identifiziertes Kollektiv zu, das die Kameradinnen zu einem Ausschnitt der deutschen postmigrantischen Gesellschaft machen würde. Die Selbstermächtigung und die aktive, gemeinsame Ausrichtung auf den Zweck des Selbsterhalts, nicht das passive Beschriebenwerden durch andere, machen die Freundinnen zu ihrer eigenen Gruppe.

Identität ist — auf mehrere Motive der Handlungsebene bezogen — ein Prozess, der keinen Abschluss findet. Die Internalisierung der Fremdzuschreibungen für die Gruppe des ‚Anderen‘ ist Teil dieses Prozesses. Alle drei Protagonistinnen kämpfen mit Internalisierungen, jede auf ihre eigene Art und Weise. Die Erzählerin Kasih konstruiert selbstbestimmt anhand von unterschiedlichen Erfahrungen die individuellen Identitäten der Charaktere, während die Erfahrungen der Frauen, die zwar nicht unbedingt homogen sind aber Überlappungen aufweisen, zu einer Konstruktion der kollektiven Identität beitragen. Die Konflikte, die die einzelnen Charaktere mit sich und der Umwelt austragen, finden kein wirkliches Ende im Roman, da die Handlungsstränge kein glückliches Ende finden. Es lässt sich also festhalten, dass, genauso wie die Handlung kein wirkliches Ende findet, auch die Konstruktion der individuellen Identitäten der Frauen zu keinem Abschluss gelangt.


[1]Vgl. Christina Horsten, Ohne Empathie, mit Hang zum Narzissmus, in: Stern, 10.09.2013;  https://www.stern.de/digital/die–ich-ich-ich–generation-ohne-empathie–mit-hang-zum-narzissmus-3910190.html [letzter Zugriff 06.07.2023].

[2]Johannes Boie, Die Identitätspolitik bedroht unsere freie Gesellschaft, in: Welt, 27.03.2021; https://www.welt.de/debatte/kommentare/article229277969/Einteilung-in-Menschengruppen-Identitaetspolitik-bedroht-unsere-freie-Gesellschaft.html [letzter Zugriff 06.07.2023].

[3]Meike Feßmann [Rez.], Dich schützen sie nicht, in: Süddeutsche Zeitung, 21. April 2021; https://www.welt.de/debatte/kommentare/article229277969/Einteilung-in-Menschengruppen-Identitaetspolitik-bedroht-unsere-freie-Gesellschaft.html [letzter Zugriff: 06.07.2023].

[4]Jörg Plath, Wie man sich fühlt, wenn man täglich infrage gestellt wird, in: Deutschlandfunk Kultur, 24.06.2021; https://www.deutschlandfunkkultur.de/shida-bazyar-drei-kameradinnen-wie-man-sich-fuehlt-wenn-man-100.html [06.07.2023].

[5]Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zur Fremdheit und Macht, Berlin 1998, hier 23.

[6]Wolfgang Metzger, Vom Vorurteil zur Toleranz, Darmstadt 1976, hier 49 f.

[7]Vgl. Metzger, Vorurteil, 50.

[8]Vgl. Carolin Emcke, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt/Main 2000, hier 226.

[9]Shida Bazyar, Drei Kameradinnen, Köln 2021, hier 20. Künftig im Fließtext mit Sigle K und Seitenzahl zitiert.

[10]Der grundlegende Text für Spivaks Überlegungen ist ihr Essay The Rani of Sirmur (Gayatri ChakravortySpivak, The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives, History and Theory,24(1985), 247–272), in dem sie sich u.a. auf vorangegangene Überlegungen von Hegel, de Beauvoir und Lacan bezieht.

[11]Emcke, Identitäten, 233.

[12]Aladin El Mafalaani, Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund, in: Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Gökçen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Münster 2017, hier 474.

[13]Vgl. Emcke, Identitäten, 250f.

[14]Vgl. Erich Maria Remarque, Drei Kameraden, Köln 1996.

[15]Emcke, Identitäten, 246.

[16]Andreas Zick, Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung, in: Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani, Gökçen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Münster 2017, 59–80, hier 70.

[17]Vgl. Sune Qvotrup Jensen, Othering, identity formation and agency, in: Qualitative Studies, 2(2011)2, hier 66.

[18]Judith Butler, Bodies That Matter, New York 2011, hier 78.

[19]Vgl. Ebd.

[20]Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/Main 1990, hier 12 f.

[21]Emcke, Identitäten, 124.

[22]Vgl. Iris Marion Young, Gender as Seriality: Thinking about Women as a Social Collective, in: Journal of Women in Culture and Society, 19 (1994), 713–738, hier 728.

[23]Young, Seriality, 724.

[24]Young, Seriality, 725.

[25]Vgl. Immo Fritsche, Thomas Kessler, Sozialpsychologie, Wiesbaden 2018, hier 78.