Ein Blog für Aufsätze des Germanistischen Institutes der MLU Halle

Spannung und Widerspruch in Karl Philipp Moritz’ „Kinderlogik“ – Natalie Sauer

Natalie Sauer

Spannung und Widerspruch in Karl Philipp Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik

Man könnte denken, dass sich Karl Philipp Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik (1786) gar nicht als Logik bezeichnen dürfe, denn das Werk ist auf mehreren Ebenen durchzogen von zahlreichen Spannungen und Ambivalenzen, welche mit der durch ihren Titel geweckten Erwartung von Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit schwer vereinbar sind. Tatsächlich gibt Moritz im Vorwort sogar zu, der letzte Teil des Werks sei keine Denklehre für Kinder mehr. Doch diese Widersprüchlichkeit ist symptomatisch für ein Werk, das vor dem Hintergrund einer von Antagonismen geprägten Aufklärungspädagogik entsteht, für welche Zwang die Bedingung zur Bildung eines autonomen Individuums darstellt. Zudem versteht sich die Aufklärungspädagogik als Bildungsprojekt im größeren sozialen Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, welche in sich ebenfalls von Widerspruch charakterisiert ist.[1] Diese durch soziohistorische Umstände bedingten, widerstreitenden Einflüsse lassen sich in der Kinderlogik aufspüren, wie hier gezeigt werden soll.

Konzipiert als eine Denklehre für Kinder soll die Kinderlogik das Ordnen und das systematische Kategorisieren anhand der sieben von Daniel Chodowiecki (1726–1801) gefertigten Kupfertafeln lehren; diese enthalten Abbildungen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen, welche ursprünglich für eine lateinische Grammatik gefertigt wurden und daher nach grammatischem Genus geordnet sind, doch von Moritz für sein Werk zweckentfremdet wurden. Während der erste Teil des Werkes sich als eine Logik für Kinder bezeichnen lässt, widmet sich der zweite Teil philosophischen Überlegungen, welche die Dimensionen einer Denklehre für Kinder übersteigen. Die Kinderlogik ist einerseits interessant in Hinsicht auf ihren didaktischen Anspruch, der sich unter anderem im Zusammenhang mit der Aufklärungspädagogik lesen lässt. Andererseits besteht die Faszination an der Kinderlogik in den für Moritz typischen Spannungen,[2] welche das Werk durchziehen.

Im Folgenden werden genau diese Widersprüche und Ambivalenzen in Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik untersucht. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet das ideologische, aufklärerische Bildungsprogramm, für welches Immanuel Kants Traktat Über Pädagogik (1803) als repräsentativ gilt. Demzufolge bietet Kants pädagogische Abhandlung im ersten Kapitel den theoretischen Rahmen zur Ergründung, wie sich die Kinderlogik in den Diskurs der Aufklärungspädagogik einfügt. Anschließend wird im zweiten Kapitel das Werk im größeren Kontext der bürgerlichen Gesellschaft berücksichtigt; diese neue Pädagogik soll dem Menschen als Gesellschaftsmitglied die Teilhabe an der Öffentlichkeit ermöglichen, ohne dass er seine individuelle Natur einbüßen muss. Gerade dieses Spannungsverhältnis zwischen den Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit schlägt sich in der Kinderlogik nieder und wird deswegen im dritten Kapitel zum Gegenstand. Dabei wird auf den Status des Textes als öffentlich oder auch privat eingegangen sowie auf die Darstellung der Gesellschaft, des Staats und der häuslichen Sphäre. Widersprüche lassen sich im Text nicht nur aus dem historischen Kontext ableiten, sondern können auch werkimmanent in Form der Abbildungen auf den Kupfertafeln festgestellt werden. Unter dem Aspekt der Bildlichkeit werden die Kupfertafeln im vierten Kapitel untersucht. Zwar erhebt Moritz im Vorwort der Kinderlogik einen Anspruch auf Natürlichkeit, doch dieser Anspruch erscheint problematisch durch diese Bildlichkeit, welche stets ein Abbild, genauer gesagt eine simulierte Natur, ist.

Aufklärungspädagogik als ideologisches Projekt in Moritz’ Kinderlogik

Karl Philipp Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik beschäftigt sich mit Erziehung und setzt sich insofern mit einem zentralen Anliegen seiner Zeit auseinander. Auch bekannt als das pädagogische Jahrhundert stellt das 18. Jahrhundert in Europa eine Zeit dar, in der Erziehung und Bildung eine Aufwertung erfahren und neu gedacht werden. Die Entwicklung einer neuen, verbesserten Erziehung wird nicht nur zum Projekt der Pädagogen und Lehrer, sondern auch vieler bedeutender Denker, wie John Locke, Jean-Jacques Rousseau sowie Immanuel Kant. Diese Neukonzipierung von Pädagogik, welche die Denkfähigkeit des einzelnen Menschen fördern soll, stellt ein ideologisches Projekt dar: Ziel ist es, das Individuum auf der Mikroebene und die Gesellschaft auf der Makroebene zu verbessern oder gar zu perfektionieren. Ein paradigmatisches Beispiel für ein Bildungsprogramm der Spätaufklärung bietet Immanuel Kants Über Pädagogik (1803), in dem das Individuum zur Verwendung seiner eigenen Vernunft erzogen und dadurch zum freien, autonomen Subjekt werden soll. Zur Untersuchung der ideologischen Ausprägungen der Aufklärungspädagogik in Moritz’ Kinderlogik wird daher Kants Konzept zunächst kurz skizziert und anschließend zur darauffolgenden Analyse herangezogen. 

Nach Kant bedingen sich Mensch und Gesellschaft gegenseitig: Eine Verbesserung der Individuen in der Gesellschaft führt zu einer Verbesserung der Gesellschaft und vice versa. Die Verbesserung des Menschen und dadurch der Gesellschaft ist möglich, da der Mensch – anders als in der christlichen Tradition – von Natur aus kein Sünder ist. Kant behauptet stattdessen, es liegen im Menschen „Keime“, genauer genommen das Potenzial, ein vernünftiges Wesen zu werden.[3] Die Aufgabe der Pädagogik sei es nun, die „Keime“ oder das Potenzial im Menschen zu entwickeln, indem seine wilden Triebe zunächst unter Kontrolle gebracht werden, damit der Mensch von Vernunft regiert werden kann.[4] Kant sieht in der Pädagogik eine große Notwendigkeit, denn „[d]er Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“.[5]

Um die Verbesserung der Menschen und der Gesellschaft zu bewirken, reicht, so Kant, die bereits etablierte, „mechanische“ Pädagogik der Eltern nicht aus. Notwendig sei deshalb eine neue „judiziöse“ oder wissenschaftlich begründete Pädagogik, um die ‚defizitäre‘ Gesellschaft zu verbessern.[6] Demgemäß konzipiert Kant eine anthropologische Erziehung, die das Aufgehen des Menschen in der Gesellschaft problematisiert. Die neue Erziehung soll den Menschen sowohl als Individuum als auch als Gesellschaftswesen berücksichtigen.[7] Darüber hinaus wird Bildung als ein aufsteigender Prozess betrachtet, der die Kindheit in ihren progressiven und voneinander abhängigen Stadien berücksichtigt. Die Erziehung besteht laut Kant aus vier Phasen: die Disziplinierung, die Kultivierung, die Zivilisierung und die Moralisierung.[8] Die wichtigste Phase der Erziehung sei dabei die erste Phase, die Disziplinierung, da die ‚Wildheit‘ des Kindes unter Kontrolle gebracht werden müsse, damit sich die Vernunft später durchsetzen könne. Kant erkennt zwar den Widerspruch in einer Erziehung, deren Ziel es ist, einen freien Menschen zu bilden und gleichzeitig Disziplin oder auch Zwang in der Anfangsphase als notwendig betrachtet. Jedoch rechtfertigt er den Zwang zu Beginn als Bedingung für die spätere Freiheit des Individuums.[9]

Die Kinderlogik beschäftigt sich mit dem Anliegen einer neuen, verbesserten Pädagogik, deren Grundannahmen und Aufgaben mithilfe der kantischen Pädagogik veranschaulicht werden können. In der didaktischen Ausgangsgeschichte von Fritz und seinem Erzieher Stahlmann wird Fritz als „ein unordentlicher Knabe“[10] beschrieben und soll deshalb unter Anleitung des Erziehers Stahlmann „die große Kunst des Eintheilens und Ordnens, des Vergleichens und Unterscheidens“ lernen (KL, 9), denn diese Kunst sei die Grundlage der Entwicklung zum vernünftigen Menschen. Stahlmann verwendet Kupfertafeln mit Abbildungen von Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen in seinem Unterricht mit Fritz. Um das Ordnen zu lernen, soll der Schüler die Abbildungen nach dem Vorbild seines Lehrers systematisch kategorisieren. Anhand von sieben Kupfertafeln werden verschiedene Kategorien zur Einteilung der Abbildungen eingeführt. Die Kategorien und Abbildungen dienen als Denkanstoß zu vertieften Überlegungen über diverse Themen und deren Zusammenhänge.

Der unordentliche Fritz verkörpert die aufklärerische Vorstellung des Kindes, in dem Potenzial zur Entfaltung steckt. Fritz’ Unordnung wird als Erziehungsproblem geschildert, jedoch nicht als menschliches Defizit, das auf eine böse Natur des Knaben zurückzuführen wäre. Die Unordnung in Fritz’ Zimmer ist die Manifestation seiner Triebe, die noch nicht unter Kontrolle gebracht wurden. Fritz hat eine „böse Gewohnheit“ (KL, 3), die, wie es heißt, aus einem Mangel an häuslicher Erziehung entsteht. Fritz’ Eltern erkennen das Problem und beauftragen einen Erzieher, Stahlmann, um Fritz seine bösen Gewohnheiten abzugewöhnen und ihn somit zum gesellschaftsfähigen Menschen zu machen. In Kants Terminologie könnte der Ausgangspunkt der Geschichte demzufolge als mangelnde Disziplinierung beschrieben werden.

Fritz’ Neigung zur Unordnung hängt jedoch mit einem größeren Erziehungsproblem zusammen, nämlich mit dem Problem des Gehorsams. Die Bedeutung des Gehorsams im Familienleben hat weitreichende Folgen, denn wer auf der Mikroebene der Familie gehorsam ist, ist dies auch auf der Makroebene der Gesellschaft und verhält sich wie ein folgsamer Bürger. Dies zeigt sich, da Fritz’ Eltern es nicht vermögen, ihrem Sohn die Maxime der Ordnung beizubringen. Aufgrund seiner Unordnung kann Fritz morgens seine Schulbücher nicht finden und kommt daher zu spät zur Schule. Infolgedessen reagieren seine Eltern mit Geschrei und Drohungen, was sich als unzureichend erweist, um von Fritz Gehorsam einzufordern: „Die Mutter schalt, der Vater drohte, aber alles half nichts“ (KL, 5). Sie haben nicht die Zeit, sich mit der Erziehung ihres Sohnes ausreichend zu beschäftigen. Dass die Eltern über die finanziellen Mittel verfügen, einen Erzieher zu beauftragen, spricht dafür, dass es sich um eine wohlhabende bürgerliche Familie handelt. Der Aufforderung der Eltern an den Erzieher Stahlmann, Fritz „zur Ordnung zu gewöhnen“ (KL, 5), liegt also zugrunde, dass Fritz zum Gehorsam erzogen werden soll, damit er ein vernünftiges Mitglied einer ,verbesserten‘ bürgerlichen Gesellschaft werden kann.

Die häusliche Erziehung zu Gehorsam und Ordnung gehört zum Bereich der moralischen Bildung, welche ein Hauptanliegen der Aufklärungspädagogik bildet. Das Kind soll lernen, von sich aus sittlich zu agieren; dies ermöglicht ihm wiederum, vernünftig zu handeln, autonome Entscheidungen nach einer als richtig erkannten Maxime zu treffen und ungezügelte Leidenschaften zu verdrängen.[11] Gerade dieser moralische Aspekt der Aufklärungspädagogik spiegelt sich in der Kinderlogik wider. Fritz mangelt es an Sittlichkeit, da er seinen Eltern nicht gehorcht und die Maxime von Ordnung nicht als richtig erfasst. Sein Ungehorsam gegenüber den Eltern stellt darüber hinaus eine potenzielle gesellschaftliche Bedrohung dar, da die Aufgabe der Erziehung ist, das Kind zum guten Bürger zu bilden.

Fritz’ Eltern vertrauen Stahlmann die moralische Bildung ihres Sohnes an und treten dabei von ihren erzieherischen Pflichten und Ansprüchen zurück. Kant schreibt über die moralische Erziehung, die von den Eltern an einen Erzieher oder Hofmeister übergeben wird: „Es ist bei einer solchen Erziehung notwendig, daß die Eltern ihre ganze Auktorität [sic] an die Hofmeister abtreten“.[12] Als die Eltern von Fritz ihren Sohn aufgrund seines verbesserten Verhaltens mit einem Naturalienkabinett belohnen möchten, lehnt Stahlmann diese Idee ab, da das Kind selbst ein Naturalienkabinett erstellen soll, um weiter das ‚Zusammenstellen und Absondern‘ zu üben. Indem Stahlmann den Vorschlag der Eltern abweist, ersetzt er den Vater als Herrscher und Gesetzgeber des Haushalts in dem patriarchalischen Modell der bürgerlichen Familie des 18. Jahrhunderts und übernimmt die Autorität bezüglich der Erziehung von Fritz. Dabei inszeniert der Text symbolisch eine wichtige Voraussetzung der Aufklärungspädagogik durch die Verschiebung der Aufgabe der moralischen Erziehung — traditionell Aufgabe der Familie — von den Eltern, genauer gesagt dem Vater, zu dem beauftragten Erzieher. Die unwirksame „mechanische“ Pädagogik der Eltern wird durch eine „judiziöse“ ersetzt, die zur Realisierung des ideologischen Ziels einer verbesserten Gesellschaft notwendig sei. Der Einsatz von Stahlmann als Erzieher bietet einen Ausweg aus dem Teufelskreis, in dem eine defizitäre Erziehung zur Bildung eines defizitären Menschen führt, der wiederum den Status quo einer ‚minderwertigen‘ Gesellschaft begünstigt.

Am Beispiel von Fritz wird auch gezeigt, dass das Kind nicht allein im Stande ist, gute Gewohnheiten und die eigene Vernunft zu entwickeln, stattdessen muss es zum Guten, zur Sittlichkeit als Bestandteil der häuslichen Erziehung angeleitet werden. Dies entspricht dem oben erwähnten kantischen Konzept, wonach die Moralisierung als höchstes Ziel der Erziehung zunächst die Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung voraussetzt. Wenn Fritz’ Eltern Stahlmann fragen, ob es noch die Möglichkeit gebe, dass Fritz zur Ordnung gewöhnt werden könne, antwortet Stahlmann darauf, es sei für den vierzehnjährigen Fritz noch nicht zu spät und er „habe noch alle Hoffnung, einen ordentlichen Knaben aus ihm [Fritz] zu ziehen“ (KL, 5). In der Aufklärungspädagogik geschieht die Erziehung zur Sittlichkeit durch eine „Habitualisierung von Verhaltensformen, die durch Vorbilder und eigene Praxis erreicht wird“.[13] Diese Funktion erfüllt Stahlmann in der Kinderlogik; er dient Fritz als Vorbild und inszeniert Erfahrungen, wie beispielsweise den Spaziergang, auf dem Fritz Kräuter und Pflanzen sammelt und danach nach Ähnlichkeit oder Unterschied zusammenlegt, voneinander absondert und anschließend systematisch kategorisiert. Die Habitualisierung von Ordnung durch Erfahrung wird fortgesetzt, indem Fritz das Ordnen und Vergleichen anhand der Kupfertafeln übt.

Widersprüche der Aufklärungspädagogik in Moritz’ Kinderlogik

Die Pädagogik erscheint in Moritz’ Kinderlogik nicht nur als aufklärerisches Programm, sondern auch als Spannungsfeld. Dem ideologischen Bildungsprogramm des 18. Jahrhunderts, bei dem das Individuum zum freien, eigenständig denkenden Subjekt erzogen werden soll, liegt ein maßgeblicher Widerspruch zugrunde: So gilt Zwang in der Erziehung als Bedingung der zukünftigen Freiheit des Individuums.[14] Elliot Schreiber argumentiert, dass Moritz die philanthropische Pädagogik, verkörpert in der Methode Stahlmanns, in der Kinderlogik kritisiere. Die Philanthropen plädierten für eine natürliche Erziehung ohne Zwang, jedoch wird die philanthropische Behauptung einer Erziehungsmethode ohne Zwang Schreiber zufolge in der Kinderlogik als Illusion enttarnt.[15] Im Gegensatz zu Schreibers Annahme, die Kinderlogik kritisiere die inneren Widersprüche philanthropischer Pädagogik, soll im Folgenden das Spannungsfeld zwischen Zwang und Freiheit als zentraler Aspekt einer durch Kant repräsentierten, allgemeinen Aufklärungspädagogik thematisiert werden. Moritz’ Kinderlogik hat den Anspruch, das eigenständige, vernünftige Denken zu lehren, jedoch ist das Vorhaben der Kinderlogik in einem Paradox gefangen. Fritz wird zur Vernunft erzogen, indem er das Denkmuster seines Erziehers, genauer genommen „die große Kunst des Eintheilens und Ordnens, des Vergleichens und Unterscheidens“ lernt und anwendet (KL, 9). Das Ziel dieser Erziehungsmethode ist, dass die extrinsische Motivation von Stahlmann zur intrinsischen Motivation von Fritz wird. Schreiber verdeutlicht den Widerspruch, wenn Fritz anhand der Kupfertafeln die Bilder nach dem von Stahlmann eingeführten Ordnungssystem ordnet und vergleicht: „He [Fritz] accomplishes this under the illusion, fostered by his tutor, that he is relying on his own independent cognitive faculties, when in fact he is internalizing a predetermined system of classification“.[16] Hier wird die Frage aufgeworfen, ob eine Erziehung zum freien Individuum überhaupt möglich ist, angesichts der Tatsache, dass Fritz’ scheinbar autonome Erkenntnis durch das Denken seines Lehrers bestimmt wird.

Die Rolle des Erziehers in der Kinderlogik stellt ein weiteres Spannungsfeld des aufklärerischen Bildungsprogramms dar. Schreiber sieht in Stahlmann einen Vertreter der philanthropischen Pädagogik, da Stahlmann versucht, im Gegensatz zu Fritz’ Eltern, dem Knaben Ordnung durch „eine spielende Art“ beizubringen (KL, 115). Im Namen Stahlmanns erkennt Schreiber den Symbolgehalt des Namens als einen Widerspruch zur philanthropischen Pädagogik, da der Name „a steely discipline“ impliziere, die nicht mit einer spielenden Art zu versöhnen sei.[17] Dennoch geht Schreiber in seiner Analyse des Namens nicht weit genug, denn der Name Stahlmann sollte im größeren Kontext der Kinderlogik gelesen werden.

Die Bedeutung von Stahl im Namen Stahlmann geht über seine Symbolik für die unnachgiebige Natur eines Menschen hinaus: Stahl ist eine Eisenlegierung und kann daher im Kontext der Überlegungen über Eisen in der Kinderlogik begriffen werden. Moritz schreibt über Eisen: „er [der Mensch] gräbt das Eisen mit unsäglicher Mühe aus dem Bauch der Erde, um Waffen davon zu schmieden, womit er seines gleichen tödet. – Doch er bedient sich des Eisens auch auf eine edle Art, um den Pflug, die Säge, die Axt und die Schaufel zu bilden“ (KL, 34). Eisen, genauer gesagt Stahl, hat für den Menschen einen Doppelzweck, zum einen ist Eisen in Form von Waffen ein Mittel zur Zerstörung und zum anderen in Form von landwirtschaftlichen Geräten ein Mittel zur Kultivierung. Dualität oder Doppelnatur – ein Motiv, das sich durch das ganze Werk zieht – zeichnet die Rolle des Erziehers Stahlmann aus, denn seine Aufgabe hat sowohl eine zerstörerische als auch eine kultivierende Komponente. Menschliche Triebe, die gefährlich für die Entwicklung des Kindes sind, müssen durch die Anleitung des Erziehers zerstört werden. Andererseits ist der Erzieher zuständig für die Kultivierung des Kindes und die Vermittlung bestimmter Techniken, wie bspw. Lesen, Schreiben und Manieren. Wenn der Erzieher Stahlmann als pars pro toto für die Erziehung betrachtet wird, erweist sich das Bildungsprogramm der Kinderlogik als Spannungsfeld, in dem zwei gegensätzliche Kräfte, Kultivierung und Zerstörung, auf das Kind wirken.

Am Anfang der Kinderlogik ist der didaktische Anspruch des Werkes vor allem durch die Geschichte von Fritz und Stahlmann offenkundig. Im Laufe des Werkes rückt er jedoch immer weiter in den Hintergrund. In gewisser Hinsicht kann die Kinderlogik als ein unvollendetes pädagogisches Projekt betrachtet werden, dessen Unvollständigkeit durch einen Vergleich mit Rousseaus Émile deutlich wird: Während Rousseau ein konkretes Bildungsprogramm entwickelt, das den Schüler Émile von seiner Geburt bis zu seiner erfolgreichen Integration in die bürgerliche Gesellschaft verfolgt,[18] zeigt Moritz nur einen kurzen Ausschnitt aus Fritz’ Erziehung. Fritz und Stahlmann verschwinden aus der Kinderlogik, somit erfährt man nicht, ob Fritz’ Erziehung erfolgreich ist und er zum vernünftigen Menschen wird, der ein Ganzes, bestehend aus Individuum und Bürger, darstellt. Aber dies deutet Moritz bereits in der Vorrede an: „der letzte Theil dieser praktischen Kinderlogik ist daher keine Kinderlogik mehr“ (Vorwort zur KL). Mitten im Werk vernachlässigt Moritz den Plan, eine Kinderlogik zu entwerfen, stattdessen widmet er sich philosophischen Überlegungen, die über eine Denklehre für Kinder hinausgehen. Dass Moritz das pädagogische Projekt der Kinderlogik nicht zu Ende bringt, deutet auf die Problematik eines ideologischen, pädagogischen Programms hin; der Widersprüchlichkeit dieser Pädagogik war sich der Lehrer Moritz sicher bewusst. In typischer Moritzscher Manier werden Antagonismen nicht aufgelöst und ein abgerundetes Ende bleibt aus.

Zwischen Privatheit und Öffentlichkeit: Die bürgerliche Gesellschaft als Spannungsfeld in Moritz‘ Kinderlogik

Die Widersprüchlichkeit der Aufklärungspädagogik ist bezeichnend für die bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, mit welcher eine Neudefinierung der Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit einherging, insbesondere ‚Öffentlichkeit‘ als ein Raum, in welchem eine dem Staat gegenüberstehende Debattenkultur entstand und auch Privatpersonen am Diskurs teilnehmen konnten.[19]  Auch diese werden in der Kinderlogik als Spannungsfeld dargestellt und werden sowohl implizit als auch explizit im Werk thematisiert. Im 18. Jahrhundert ist unter ‚privat‘ zu verstehen: „ein […] in verschiedenen Zusammensetzungen übliches Wort, solche Dinge zu bezeichnen, welche den öffentlichen eben dieser Art entgegen gesetzt werden“, oder in Bezug auf Personen, „eigentlich eine, in keinem öffentlichen Amte stehende Person“.[20] Dahingegen bezeichnet ‚öffentlich‘: „was vor allen Leuten, vor jedermann ist und geschieht; […] Im engeren Verstande, eine große bürgerliche Gesellschaft betreffend. Ein öffentliches Amt“.[21] Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich die Kategorien Privatheitund Öffentlichkeit zueinander verhalten, zunächst in Hinsicht auf die paratextuelle und textuelle Ebene und anschließend in Hinsicht auf die Darstellung der öffentlichen beziehungsweise der häuslichen Sphäre.

Auf der paratextuellen Ebene des Werks findet sich der erste Hinweis auf die Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit. Auf dem Titelblatt der Kinderlogik steht Moritz als Herausgeber des Werkes: „herausgegeben von Carl Philipp Moritz, Professor am Berlinischen Gymnasium“ (Titelblatt zur KL). Auffällig ist, dass Moritz seinen Titel als Professor auf das Titelblatt setzt. Bezüglich Moritz’ Entscheidung, Professor am Berlinischen Gymnasium zu werden, schreibt Albert Meier, dass sich Moritz trotz seiner vorherigen Erfolge als Konrektor an der Cöllnischen Schule „nach einer öffentlichen Bestätigung durch Titel und Würden“ sehnte.[22] Die „öffentliche Bestätigung“ bekam Moritz schließlich, als er 1784, zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Kinderlogik, das Amt als Professor am Berlinischen Gymnasium annahm. Mit der Aufnahme seiner Amtsbezeichnung auf das Titelblatt kündigt Moritz seine Teilhabe an der Öffentlichkeit an und inszeniert damit die eigene Berechtigung zur Partizipation an der öffentlichen Kommunikation über Pädagogik.

Während das Titelblatt Moritz, den Herausgeber, als öffentliche Figur und Teilhaber am akademischen Diskurs etabliert, lässt sich die Kinderlogik als Text im Ganzen genommen keiner der beiden Kategorien eindeutig zuordnen. Vielmehr schwankt der Text zwischen privatem und öffentlichem Status. Die didaktische Ausgangserzählung lässt sich der Kategorie privat zuordnen. Die Geschichte von Fritz und Stahlmann fungiert wie eine Art mise en abyme, durch die junge Leser:innen das eigene Spiegelbild in Fritz erkennen sollen. Durch das Verfahren wird eine Nähe zwischen den Leser:innen und der Lektüre geschaffen. Lesende treten in die Privatsphäre der bürgerlichen Familie ein, genauer gesagt blicken sie in das unordentliche Schlafzimmer des kleinen Fritz, einen Ort der Intimität. Wie Fritz lernen sie das Vergleichen und Unterscheiden durch die Lektüre und das Betrachten der Kupfertafeln. Der Text hat eine pädagogische Funktion, indem er Leser:innen anhand der ersten Kupfertafeln unterrichtet, wie Stahlmann dies mit Fritz tut. Als didaktisches Mittel für Kinder impliziert die Kinderlogik demnach zunächst einen privaten, häuslichen Gebrauch und ist der Privatsphäre zuzurechnen. Die Nähe der Leser:innen zur Lektüre lässt jedoch zunehmend nach, einerseits weil Fritz und Stahlmann, die didaktischen Begleitfiguren der Leser:innen, aus der Kinderlogik verschwinden, andererseits weil eine Verschiebung der Adressaten von Kindern zu Erwachsenen stattfindet.

Dass der Text sich allerdings nicht ausschließlich in der privaten Sphäre bewegt, wird in der Vorrede der Kinderlogik in Hinsicht auf das intendierte Publikum, oder besser gesagt die intendierten Publika, angesprochen. Der erste Teil des Werkes stellt demgemäß eine Denklehre für Kinder dar,

der letzte Teil mag aber nun als ein Leitfaden für den Lehrer, der etwa von diesem Buche für Kinder Gebrauch machen will, betrachtet werden, oder auch für sich selbst seines Inhalts wegen, die Prüfung der Denker verdienen, so wird die Ausarbeitung desselben, hoff ich, auch in diesem Zusammenhange nicht ohne Nutzen zu sein.

(Vorwort zur KL)

Das adressierte Publikum des zweiten Teils ist damit der gelehrte Stand: Denker und Lehrer, oder weiter gefasst, die bürgerliche Öffentlichkeit. Dabei soll die Kinderlogik einen öffentlichen Nutzen haben, indem sie an bestimmen öffentlichen Diskursen teilnimmt. Zu diesen Diskursen zählen die Überlegungen zu den Abbildungen der fünften und der sechsten Kupfertafel: Ursprünglich zur Vermittlung der grammatischen Kategorie vom Numerus lateinischer Nomen konzipiert, finden sich hier Abbildungen mit einer einzelnen Person zur Veranschaulichung von Nomen im Singular sowie Abbildungen mit Menschen in Gruppen zur bildlichen Darstellung von Nomen im Plural. Die Kupfertafeln widmen sich öffentlichen und staatlichen Angelegenheiten, darunter die Kategorien Einheit und Mehrheit sowie die Staatsformen Monarchie und Republik.

In Bezug auf Mehrheit in Form der Gesellschaft schreibt Moritz, „durch diese Vereinigung mehrerer menschlicher Kräfte zu einem Zweck, sind nun in der Welt erstaunliche Dinge entstanden“ (KL, 136). Die Gesellschaft wird dabei positiv konnotiert, insofern sie Fortschritt, der dem einzelnen Menschen allein nicht gelingen würde, durch die kombinierten Kräfte der Menschen ermöglicht. Zugleich wird die „Vereinigung mehrerer menschlicher Kräfte“ problematisiert in Hinsicht auf den Staat, wenn das Individuum darin einen fremden Zweck verfolgen soll. Dies wird als eine „Beraubung seiner natürlichen Freiheit“ beschrieben. Nur im republikanischen Staat, in dem die Mitglieder ihre Obrigkeiten und Regenten wählen, dessen Zwecke mit den Zwecken der Mitglieder übereinstimmen, behalte das Individuum seine Freiheit und könne für sich denken. Doch die utopische Vorstellung des republikanischen Staates entspricht nicht der Realität der bürgerlichen Gesellschaft, die, wie Moritz feststellt, das „wirkliche Dasein“ des Individuums zerstreue (KL, 154). Einerseits ermöglicht die Gesellschaft also Fortschritt, andererseits führt sie zur Zerstreuung des Individuums: Demzufolge ist der Mensch stets im Spannungsfeld zwischen fremden, gesellschaftlichen Zielen und eigenen Bestreben hin- und hergerissen, ein Spannungsfeld, welches die neue Pädagogik vermeintlich in Einklang bringen soll. In dieser Hinsicht verhält sich das Werk somit ambivalent gegenüber der Gesellschaft, genauer genommen der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Während die Kinderlogik sich uneindeutig gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft oder auch der Öffentlichkeit verhält, wird die Privatsphäre als Ort der Glückseligkeit aufgewertet. Die zwei Abbildungen auf der siebten Kupfertafel stellen Mann und Frau zusammen dar, als „im Genuß des häuslichen Glücks und im Genuß der schönen Natur“ (KL, 152). Moritz postuliert, dass der Rückzug in die intime Privatsphäre sowie in die Natur die höchste Glückseligkeit darstelle. Dies problematisiert die Behauptung, die Moritz am Anfang der Kinderlogik aufstellt, nämlich dass die höchste Glückseligkeit des vernünftigen Menschen auf der Kunst des Ordnens beruhe.

Der Fokus der Kinderlogik liegt somit anfangs auf der häuslichen Sphäre, geht im zweiten Teil durch die Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen in die öffentliche Sphäre über und bewegt sich am Ende symbolisch wieder in die private Sphäre. Die Spannung zwischen dem Menschen als Individuum der Privatsphäre und als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft scheint ungelöst zu bleiben trotz des Optimismus der pädagogischen Maßnahmen, die am Anfang der Kinderlogik dargelegt werden. Das Werk bietet einen Kompromiss, bei dem das Individuum Glückseligkeit nicht in der Gesellschaft findet, sondern bei sich im Privaten. 

Grenzen der Bildlichkeit in Moritz’ Kinderlogik

Bisher wurden soziohistorische Spannungen der Kinderlogik untersucht, doch auch im Verhältnis zwischen dem Naturanspruch des Textes und den Kupfertafeln als simulierte Natur zeigt sich der Text widersprüchlich. Die Kupfertafeln sollen als didaktische Mittel fungieren, erweisen sich dafür allerdings als problematisch, wie im Folgenden gezeigt wird.

Das Werk verspricht im Titel eine Logik oder auch eine Denklehre, die sich von einer Erwachsenenlogik abgrenzt. Eine Erwachsenenlogik zeichnet sich beispielsweise durch Syllogismen aus, in denen ein Urteil aus zwei vorher festgelegten Prämissen abgeleitet wird. Albert Meier zeigt, wie die Kinderlogik ein Denken, das nur auf dem logischen Verfahren des Syllogismus basiert, ablehnt, denn Moritz lässt vermuten, dass die ausschließliche Anwendung von Syllogismen unvermeidlich in Tautologien überzugehen drohe. Nach Meier wird stattdessen in der Kinderlogik eine Logik vorgezogen, die Rationalismus und Empirie vereint.[23] Diese soll auf Erfahrung und auf Sinneswahrnehmung basieren. Anhand dieser sinnlichen Erfahrungen können dann Schlüsse gezogen werden. Im Medium Buch ist die Sinneswahrnehmung stark auf Bilder angewiesen. Bildlichkeit spielt daher eine zentrale Rolle in Moritz’ Kinderlogik als Grundlage der Erkenntnis.

Die Kinderlogik enthält sieben Kupfertafeln von Daniel Chodowiecki, die, wie Moritz in seiner Vorrede ankündigt, aus einer lateinischen Grammatik zweckentfremdet wurden, da diese Moritz zufolge „zufällig zu meiner Idee paßten“ (Vorrede zur KL). Die Kupfertafeln, die Abbildungen von Menschen, Tieren, Pflanzen sowie Gegenständen zeigen, haben zunächst eine strukturelle Funktion als zentrales Ordnungsprinzip für den an Komplexität zunehmenden Unterricht für Fritz, aber im Laufe des Werkes verlieren die Kupfertafeln allmählich an Bedeutung[24] — in der zweiten Hälfte des Werks nutzt Moritz sie als eine Art Sprungbrett zur assoziativen Überleitung zu seinen philosophischen Überlegungen. Für Fritz und daher auch für die Lesende dienen die Abbildungen auf den Kupfertafeln dagegen als simulierte empirische Erfahrung, die den Denkanstoß zu weiteren Überlegungen geben soll, oder in Moritz’ Worten zu „Ideenspielen“ (KL, 152).

Während Bildlichkeit in der Kinderlogik das Potenzial bietet, komplexere Ideen zu kombinieren, unterliegt sie zugleich einem Widerspruch in Hinsicht auf den Natürlichkeitsgedanken: Moritz schreibt, dass die Natur den Menschen die erhabenste Logik lehre,

[d]ie ganze Natur scheint ein Abdruck des menschlichen Verstandes, so wie der menschliche Verstand ein Abdruck der ganzen Natur zu sein — eine so bewundernswürdige Uebereinstimmung findet zwischen der Natur der menschlichen Begriffe und ihrem großen Gegenstande statt.

(KL, 95)

Also ist die Voraussetzung der Logik Natürlichkeit. Diese Annahme wird in der Vorrede zur Kinderlogik ebenfalls aufgegriffen, in der Moritz schreibt, dass das Werk „bei dem natürlichen Gange des Denkens“ entstanden sei (Vorrede zur KL). Das Werk hat nach Moritz einen Anspruch auf Natürlichkeit, denn die Natur stellt die höchste Erkenntnisquelle dar.[25] Dagegen stellen die Kupfertafeln, die den natürlichen Gedankengang anstoßen sollen, eine simulierte Natur dar. Moritz geht von einer Naturordnung der Ideen in seiner Kinderlogik aus, doch die Kupfertafeln weisen eine unnatürliche Ordnung auf, nämlich die künstliche sprachliche Ordnung des Lateinischen nach Genus und Kasus. Die ursprünglich zum Lateinlernen gefertigten Kupfertafeln dienen als Grundlage einer angeblich naturgegebenen Logik. Doch durch die zweckbedingte unnatürliche Ordnung, die die Kupfertafeln bestimmt, werden der Natürlichkeitsanspruch und die epistemologische Funktion der Bilder untergraben.

Der Widerspruch der Kinderlogik als simulierte Natur findet sich in zugespitzter Form in der Beschreibung der Rose auf der zweiten Kupfertafel. Moritz schreibt über die Rose: „Nur die Rose ist hier allein der Natur ganz treu geblieben, in das Uebrige hat sich alles schon die Kunst mit eingemischt“ (KL, 22). Diese Behauptung, wonach die Rose der Natur entspreche, ist dabei sehr widersprüchlich, ist sie doch wie alle Abbildungen in der Kinderlogik ein Produkt der Kunst. Ferner wird die Rose bezeichnet als „ein Bild der sich selbst gelassenen Natur, die der Mensch noch nicht nach seinen kleinlichen Bedürfnissen umgeschaffen hat“ (KL, 23). Die unfreiwillige Ironie dieser Aussage besteht darin, dass die natürliche Rose in die künstliche Rose der Kupfertafel umgewandelt wurde, zunächst zum didaktischen Zweck der Lateingrammatik und anschließend zum didaktischen Zweck der Kinderlogik.

Schluss

In Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik lassen sich Widerspruch und Spannung zum einen innerhalb des Austauschs mit den Ideen ihrer Entstehungszeit und zum anderen werkimmanent feststellen. Einerseits enthält Moritz’ Kinderlogik Aspekte, die mit einer aufklärerischen Pädagogik wie der von Kant übereinstimmen. Die Erziehung erscheint als Lösung zu Fritz’ Ungehorsam und Unordnung. Unter der pädagogischen Anleitung Stahlmanns soll Fritz vernünftig und dadurch zum guten Bürger werden. Dabei wird die Bedeutung der „judiziösen“ häuslichen Erziehung hervorgehoben als Voraussetzung einer erfolgreichen Gesamtpädagogik. Andererseits wird in der Kinderlogik deutlich, dass ein ideologisches Bildungsprogramm ein Spannungsfeld darstellt. Der Widerspruch zwischen Zwang und Freiheit wird nicht aufgelöst, vor allem in Hinsicht auf eine Pädagogik, die sowohl kultivierend als auch zerstörerisch auf das Kind wirkt. Die Problematik einer Gesamtpädagogik, die zum einen zur Bildung des vernünftigen Menschen und zum anderen zur erfolgreichen Integration des Individuums führt, spiegelt sich darüber hinaus in der Unvollständigkeit der Kinderlogik selbst wider.

Ferner erweisen sich die Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit als ein soziohistorisch bedingtes Spannungsfeld. Betrachtet im Ganzen lässt sich die Kinderlogik weder ausschließlich der öffentlichen noch der privaten Sphäre zurechnen. Vielmehr schwankt das Werk zwischen privatem und öffentlichem Status. Darüber hinaus zeigt sich das Werk ambivalent gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, während die häusliche Sphäre als Rückzugsort von der Gesellschaft aufgewertet wird.

Auch in der inneren Logik des Werks lassen sich Widersprüche feststellen. Als eine Denklehre für Kinder entwickelt Moritz’ Werk eine auf Sinneswahrnehmung basierte Logik, die Bildlichkeit in Form von Abbildungen auf Kupfertafeln nutzt, welche ein Lernen durch Sinneserfahrung ermöglichen soll. Dabei kann die Kinderlogik ihrem Natürlichkeitsanspruch jedoch nicht gerecht werden, denn die Abbildungen auf den Kupfertafeln stellen lediglich eine simulierte Natur dar. Abschließend bleibt festzustellen, dass im Rahmen dieser Arbeit nur einige Spannungsfelder der Kinderlogik bearbeitet werden konnten. Darüber hinaus ließe sich dieser Fokus vor allem im Zusammenhang mit Moritz’ anderen Werken vertiefen. Viele der hier aufgegriffenen Ambivalenzen, Begriffe und Konzepte erscheinen gleichsam in seinen anderen Werken, insbesondere in den Schriften zur Ästhetik. Denn auch noch heute können Moritz’ Werke mit deren Spannungen und Widersprüchen immer neue „Ideenspiele“ auslösen.


[1]Zur Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert vgl. Axel Rüdiger, [Art.] Gesellschaft, bürgerliche, in: Heinz Thoma (Hg.), Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung, Stuttgart—Weimar 2015, 264–276.

[2]Für einen Überblick über Moritz‘ Werke vgl. Albert Meier, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 2015; Meier betont an mehreren Stellen Widersprüche in Moritz‘ Denken und Werken und behauptet, dass Widersprüchlichkeit „die intellektuelle Signatur des voritalienischen Moritz“ sei (ebd., 72). Zu Widersprüchlichkeit in Moritz‘ Anton Reiser vgl. Steffanie Metzger, „Es kömmt darauf an, wie diese Widersprüche sich lösen werden!“ Zum Schluß von Karl Philipp Moritz‘ „Anton Reiser“, in: Uta Klein, Katja Mellmann, Steffanie Metzger (Hg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literartur, Paderborn 2006, 353–373. Hans Adler geht auf Widerspruch in Moritz‘ Ästhetik ein, vgl.  Karl Philipp Moritz‘ Ästhetik und der universale Metabolismus in: Amsterdamer Beiträge Zur Neueren Germanistik, Anthony Krupp (Hg.), Karl Philipp Moritz: Signaturen des Denkens, Amsterdam, 2010 195–204.

[3]Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, hg. von Wilhelm Weischedel, 8. Aufl., Frankfurt/Main 1977, 697-761, hier700f.

[4]Vgl. ebd., 698.

[5]Ebd., 699.

[6]Vgl. ebd., 703f.

[7]Vgl. ebd., 703f.

[8]Vgl. ebd., 706f.

[9]Vgl. ebd., 711.

[10]Karl Philipp Moritz, Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik, in: Horst Günther (Hg.), Faksimile der Erstausgabe von 1786, Frankfurt/Main 1980, 3. (Kinderlogik wird nach dieser Ausgabe im Text mit Sigle KL und Seitenzahl nachgewiesen.)

[11]Vgl. dazu Andreas Gestrich, Ziele und Praktiken familialer Werterziehung im 18. und 19. Jahrhundert in städtischen und ländlichen Kontexten, in: Andreas Holzem und Ines Weber (Hg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft: Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn, 2008, 345-372, hier 351.

[12]Kant, Über Pädagogik, 710.

[13]Gestrich, Ziele und Praktiken familialer Werterziehung, 352.

[14]Vgl. Kant, Über Pädagogik, 711: „Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.“

[15]Vgl. Elliott Schreiber, Thinking Inside the Box: Moritz’s Critique of the Philanthropist Project of Non-Coercive Pedagogy, in: Amsterdamer Beiträge Zur Neueren Germanistik, Anthony Krupp (Hg.), Karl Philipp Moritz: Signaturen des Denkens, Amsterdam, 2010, 103-130, hier 104.

[16]Schreiber, Thinking inside the Box, 127.

[17]Ebd.

[18]Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, hg. von Tim Zumhof, übers. von Eleonore Sckommodau und Martin Rang, Ditzingen, 1963.

[19]Zur Begriffsgeschichte und Überblick von Öffentlichkeit vgl. Nina Birkner, York-Gothart Mix, [Art.] Öffentlichkeit, in: Heinz Thoma (Hg.), Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung, Stuttgart—Weimar 2015, 385–394.

[20]D. Johann Georg Krünitz, [Art.] privat, in: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, Universitätsbibliothek Trier; http://www.kruenitz1.uni-trier.de/. [letzter Zugriff 30.03.2022].

[21]D. Johann Georg Krünitz, [Art.] öffentlich, in: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, Universitätsbibliothek Trier; http://www.kruenitz1.uni-trier.de/. [letzter Zugriff 30.03.2022].

[22]Albert Meier, Karl Philipp Moritz, Stuttgart, 2000, 46f.

[23]Vgl. Albert Meier, Sprachphilosophie in religionskritischer Absicht. Karl Philipp Moritz‘ Kinderlogik in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 67[1993]2, 252-266, hier 265.

[24]Vgl. dazu Annelies H. Buhofer, Karl Philipp Moritz’ „Kinderlogik“: Entwicklungstheorie als leitwissenschaftlich verstandene Sprachlehre, in: Amsterdamer Beiträge Zur Neueren Germanistik, Anthony Krupp (Hg.), Karl Philipp Moritz: Signaturen des Denkens, Amsterdam, 2010, 143–155.

[25]Vgl. dazu „Die Natur selbst lehrte den Menschen die große Kunst zu unterscheiden, und zu zählen: sie war es die ihn schon in der grauen Vorzeit die erhabenste Logik lehrte“ (KL, 95).